Bangkok Oneway

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»Madame, do you want Thai-Massage?«, fragte sie lächelnd. Dann stellte sie die verschiedenen Angebote anhand einer Schautafel vor. Sie bedrängte Dagmar auf eine so freundliche und dezente Art, dass diese sich schließlich breitschlagen ließ. Sie wählte eine einstündige Ölmassage. Nur mit einem Handtuch bedeckt, lag sie auf einer Liege und genoss die sanfte Quälerei. Auf dem Weg ins Reich der Träume hörte sie die kräftige Masseuse schimpfen, dass sie zu sehr verspannt wäre. Als sie schließlich behutsam von der Frau wieder geweckt wurde, konnte sie kaum glauben, dass bereits etwas mehr als eine Stunde verstrichen war. Ach, war das herrlich, dachte Dagmar und bedankte sich bei der Masseuse. Sie streckte ihre Glieder und kleidete sich an.

»Could I have a coffe anywhere?«, fragte sie, erleichtert darüber, dass ihre rudimentären Englischkenntnisse in dieser Stadt völlig ausreichten, um über die Runden zu kommen.

Die Frau schickte sie in ein kleines Straßencafé schräg gegenüber des Eingangs. Dagmar setzte sich an einen Tisch direkt am Straßenrand und bestellte ein Sandwich und einen Kaffee. Es war Jahre her, dass sie einmal in einem Straßencafé gesessen hatte. Diesen Luxus verband sie mit Urlaub, Ungebundenheit, Pause von den täglichen Verpflichtungen als Ehefrau und Angestellte im eigenen Betrieb. Doch genießen konnte sie dieses Privileg an diesem Tag nicht. Sie beobachtete die Menschen, die in großen Scharen an ihr vorbeischlenderten. Es waren sehr viele Touristen, aber auch Thailänder, die meist deutlich besser gekleidet waren als die Ausländer in ihrer betont legeren Ferienbekleidung. Eine große Zahl der jungen Thailänder trug Schuluniformen. Sie führten Schreibmappen, Bücher und Laptoptaschen mit sich und unterhielten sich fröhlich miteinander. Was für ein Unterschied zu den Jugendlichen daheim, mit ihrem aggressiven Gehabe und deren Aversion gegen alles, was mit Bildung und kultiviertem Verhalten zu tun hat, dachte sie. Wie zur Bestätigung setzte sich eine Gruppe von vier jungen Leuten an einen Nachbartisch. Sie sprachen lautstark auf Englisch miteinander, wobei sie erkennbar verschiedenartige Akzente hatten und somit offensichtlich aus unterschiedlichen Ländern kamen. Es waren zwei Mädchen und zwei Jungen. Sie waren mit sehr kurzen Hosen und Trägershirts bekleidet; bei den beiden Mädchen quollen die üppig gefüllten BHs aus den knappen Shirts. Die jungen Leute hatten sich alle Zigaretten angezündet und sie nahmen keinerlei Rücksicht darauf, dass ihr Qualm die anderen Gäste belästigte. Als ein Mann aufstand und höflich darum bat, dass sie doch bitte den Rauch woandershin blasen sollten, wurde er von der Gruppe angepöbelt. Sie tranken ihre Biere aus, legten ein paar Geldscheine auf den Tisch und verschwanden. Im Vorbeigehen raunte einer der Jungs dem Mann »Babbitt! – Spießer!«, zu und drückte seine Zigarette auf dessen mit Curryhuhn gefülltem Teller aus.

Dagmar hatte sich eine weitere Tasse Kaffee bestellt und saß nun alleine an ihrem Tisch vor dem Café. Sie wechselte ihren Sitzplatz, um auch einmal das Geschehen in anderer Richtung betrachten zu können. Vor dem Nebengebäude saß im Schatten eines Straßenbaumes eine hagere Thailänderin auf einem Schemel. Vor sich hatte sie einen kleinen Stand mit Seifen aufgebaut. Sie saß kerzengerade da und betrachtete die Vorbeigehenden stumm lächelnd. Sie hatte ein überschaubares Angebot an intensiv duftenden Seifenstücken, aber auch zu Blüten geschnitzte und modellierte Seifen in dekorativer Klarsichtverpackung und Blechdöschen. Die Seifen waren überwiegend mit Extrakten tropischer Früchte, Blüten und Heilpflanzen versehen. So gab es Lotus-Seife, Frangipani-Blüte, Tamarinde und Granatapfel. Wenn gerade einmal kein Mensch den Bürgersteig entlangkam, sortierte sie ihre kleinen Gläser, Schächtelchen und Döschen neu, richtete sie in einer Linie aus, drehte die Etiketten säuberlich nach vorne. Dagmar beobachtete die Frau eine Weile lang gerührt. Irgendwann bemerkte die Verkäuferin dies und lächelte Dagmar an. Die beiden Damen kamen ins Gespräch und schnell hatte Dagmar auch ihre momentane Situation thematisiert. Die Frau, die dem Aussehen nach etwa in Dagmars Alter war, reagierte mit Bestürzung. Dagmar sah ihr an, dass sie das Verschwinden ihres Ehemannes sehr betroffen machte. Nach einer Weile schenkte sie Dagmar eine Schachtel, in der eine frisch duftende Rambutan-Seife steckte.

»Kennen Sie Rambutan?«, fragte sie die Deutsche, als sie beobachtete, wie die mit zusammengekniffenen Augen die Beschriftung las.

»Nein, ehrlich gesagt nicht«, gab Dagmar zu. »Meine Bekannte hat mir davon erzählt, aber gesehen oder gar gegessen habe ich sie noch nie.«

»Rambutan sind kleine Früchte mit Stacheln, wie ... ähm, wie, wie Hetschhock, verstehen Sie?«

Dagmar schüttelte bedauernd den Kopf.

Als Dagmar ihre Rechnung bei der Cafébedienung orderte, packte die Seifenverkäuferin flugs ihre Ware zusammen, verstaute alles sorgfältig in einer Holzkiste, klappte den Stand zu und stellte ihre Sachen in einem Nebengebäude unter.

»I will help you be happy again!«, sagte sie und nahm Dagmar entschlossen an die Hand. Die beiden Frauen gingen gemessenen Schrittes die Straße hinunter, bogen ein paar Mal in immer schmaler werdende Gassen und gelangten schließlich zu einem kleinen Tempel, der sich unscheinbar zwischen zwei hohe Häuser duckte. Sie zogen die Schuhe vor dem Betreten des Tempelgebäudes aus. Die Frau nahm von einem Tisch neben dem Eingang drei Lotusblumen, ein Bündel Räucherstäbchen und zwei kleine, gelbe Kerzen, steckte hierfür einen zusammengefalteten Geldschein in die dafür vorgesehene Box.

»Luang Pho, have much power!«, sagte sie und führte Dagmar vor einen Altar, auf dem ein großer, goldglänzender Buddha, umrahmt von mehreren kleineren Statuen, thronte. Der Tempel bestand aus einem einzigen Raum. Im Inneren war es angenehm kühl, es duftete nach Räucherstäbchen. Die Wände zeugten von jahrzehntelangem regen Besuch dieser geweihten Halle, doch gleichwohl verströmte jeder Winkel eine persönliche, vertraute Atmosphäre. Dagmar war sich in ihrem Auftreten unsicher und gehemmt, versuchte jedoch, der Frau alles hinlänglich gleichzutun, in der Hoffnung, sich angemessen zu verhalten.

Die Seifenfrau legte die Lotusknospen vor den großen Buddha, brachte die Räucherstäbchen an einer verkrusteten Öllampe zum Glühen und steckte diese dann in eine längliche, mit Sand gefüllte Schale. Sie lächelte Dagmar an und überreichte ihr eine der beiden brennenden Kerzen. Sie hielt diese zwischen den Handflächen vor ihre Stirn, deutete eine Verbeugung an und steckte sie neben die Räucherstäbchen in den Sand. Dann verneigte sie sich dreimal tief vor dem Buddha, wobei sie die Hände flach seitlich ihres Kopfes auf den Boden presste. Dagmar folgte ihr ungelenk. Die Frau bedeutete Dagmar zu warten. Sie holte aus einer Ecke einen Bambusköcher, in dem mehrere Holzstäbe steckten. Sie schüttelte den Köcher kräftig und lärmend, bis eines der Holzstäbchen daraus auf den Boden fiel. Nun war Dagmar an der Reihe. Ungeschickt purzelten ihr gleich mehr als die Hälfte der Stöckchen zu Boden. Die Frau lachte und übte mit ihr so lange, bis auch ihr nur ein einzelnes Stäbchen auf die den Grund bedeckende Strohmatte fiel. Die Frau nahm es in die Hand und las die kryptischen Zeichen darauf. Dann rutschte sie auf Knien zu einem Holzbrett, an dem, auf Nägeln aufgespießt, zahllose Zettel hingen. Sie riss einen davon ab und kehrte zurück zu Dagmar. Ernsthaft und leise flüsternd las die Dame den Text darauf. Dann wandte sie sich an die Urlauberin und sagte in feierlichem Ton:

»Everything will be good. You and your husband together again. He is fine but your life change. No plompen, everything fine! Happy!«

Dabei nahm sie die Hand der Deutschen und lächelte sie aufmunternd an.

Dagmar war befangen. Sosehr sie sich auch nach Ablenkung von ihren Problemen, Hoffnungsschimmern und schicksalhaften Fügungen sehnte, konnte sie sich solchen mystischen Ritualen einfach nicht ungehemmt hingeben. Was würde als Nächstes geschehen? Sollte sie dieser freundlichen Person Geld für ihre Bemühungen geben? Sie hatte keine Ahnung, ob Thailänder sich selbstlos um Ausländer bemühten oder Gegenleistungen erwarteten. Einen Moment lang standen sich die beiden Frauen verlegen lächelnd auf dem Gehweg vor dem Tempel gegenüber.

»Where you go now?«, fragte die Seifenfrau und entließ Dagmar mit dieser Frage aus ihrer beklemmenden Situation.

Drei

Ute hatte es sich in ihrem Appartement bequem gemacht. Sie hatte eine Flasche guten französischen Rotwein geköpft – ein fast unbezahlbarer Luxus in dieser tropischen Region. Ihre Wohnung war eigentlich eine Hotelsuite. Das Grand City Hotel war ein etwas heruntergekommenes Hotel im Stadtteil Silom, und für eine ebenso heruntergewirtschaftete Zweieinhalb-Zimmer-Suite musste Ute als Dauergast zwölftausend Baht pro Monat bezahlen. Umgerechnet etwa zweihundertachtzig Euro für Miete und wöchentlichen Room-Service waren für jemanden in ihrer beruflichen Position relativ günstig, für eine Stadtwohnung in dieser Lage geradezu ein Schnäppchen. Ute hatte den Fernseher eingeschaltet, um so ein bisschen das Gefühl von Gesellschaft zu haben. Für den Bildschirm hatte sie jedoch keinen Blick übrig. Wie meistens, wenn sie sich alleine betrank – was allerdings recht selten vorkam –, räumte sie ihre Wohnung auf. Sie sortierte Dinge von einem Platz zum anderen um, fand Genugtuung darin, sich von Besitztümern zu trennen, die sie allzu lange nicht mehr benutzt hatte. Dabei sprach sie mit sich selbst, nippte gelegentlich an ihrem Glas und naschte von ebenfalls kostbaren Käsehäppchen. Dafür, dass sie einen grottenschlechten Tag hinter sich hatte, war sie in geradezu bemerkenswert guter Stimmung. Sie hatte sich perfekt auf sich selbst eingestellt, als ihr Handy klingelte. Ute runzelte die Stirn. Gewöhnlich bedeutete ein Anruf um diese Zeit, dass sie sich eiligst fertigzumachen hatte, um Touristen im Rentenalter vom Airport in die verstreut liegenden Vertragshotels des Reiseunternehmens zu begleiten. Diese Gäste benahmen sich, als wenn sie unter Feindbeschuss den nächstgelegenen Luftschutzkeller finden mussten, dabei waren sie in aller Regel mit einer luxuriösen Rundumbetreuung versorgt. Seit dem Eklat mit ihrer Vorgesetzten Stefanie Conner hatte sie diese Art von Beeinträchtigung ihres Privatlebens nicht mehr zu befürchten, trotzdem nahm Ute das Gespräch mit gemischten Gefühlen an.

 

»Hast du Lust, mit mir zusammen etwas essen zu gehen?«, fragte Dagmar mit unsicherem Zittern in ihrer Stimme.

»Ich lade dich ein, egal wohin!«, beeilte sie sich hinzuzufügen.

Ute war gerührt, fühlte sich jedoch gleichsam ein wenig schuldig, da sie sich den ganzen Tag lang nicht um ihren Schützling gekümmert hatte. Ute war bereits in einen bequemen Hausanzug gekleidet und ihre Weinflasche war inzwischen zu mehr als der Hälfte geleert.

»Nimm dir ein Taxi und komm zu mir rüber«, schlug sie vor. »Hier gibt es alles, was wir brauchen, und ich muss mich nicht wieder ankleiden.«

Etwas schüchtern betrat Dagmar das Appartement. Sie warf einen interessierten Blick in die Räumlichkeiten und setzte sich dann auf einen der Hocker am Küchentresen.

»Ich bin gleich so weit«, hatte ihr Ute zugerufen, bevor sie kurz in ihrem Schlafzimmer verschwand, um sich eine dünne Strickjacke über den Arm zu werfen.

»Ach übrigens. Ich habe heute eine sehr nette Dame kennengelernt, die Seife verkauft«, rief ihr Dagmar durch die offen stehende Tür nach.

»Seife? Aha.«

»Ja, und sie hat mir eine Obstseife geschenkt.«

»Obstseife? Was für eine Obstseife? Wäscht man damit Obst ab?«

»Nein, haha. Sie ist mit einem konzentrierten Obstaroma versehen. So eine stachelige, exotische Frucht.«

Ute kam zurück aus dem Schlafzimmer und nahm ihren Zimmerschlüssel aus einer Holzschale.

»So eine Frucht, von der du mir erzählt hattest, dass sie in Thailand sehr beliebt ist.«

»Ach du meinst Dragonfruit, Drachenfrucht.«

»Nein, die hieß anders, ich komme nicht drauf!« Dagmar überlegte.

»Durian, kann das sein?«

»Durian? Bist du verrückt?! Schmeiß die weg! Durian stinkt wie die Pest, in die meisten Hotels darfst du Durian nicht einmal mit hineinnehmen!«

Dagmar war verlegen. Sie öffnete ihre Handtasche und entnahm ihr das Schächtelchen.

»Hast du einen Mülleimer hier?«, fragte sie unschuldig.

»Sag mal, du spinnst wohl! Die nimmst du schön wieder mit zu dir und schmeißt sie in deinem Hotel weg.«

Ute warf einen kurzen Blick auf Dagmars Präsent.

»Ach Rambutan. Das ist Rambutan-Seife, die ist harmlos. Die kannst du behalten.

Ute setzte sich zu Dagmar an den Küchentresen und verteilte den Rest des Inhalts ihrer Weinflasche in zwei Gläser. Die beiden Frauen prosteten sich zu, genossen das teure Tröpfchen und machten sich anschließend auf ins Rooftop-Restaurant des Hotels. Auch hier oben sah es etwas rustikal aus. Es gab einen Pool, der klein, aber sehr romantisch beleuchtet war. Die geflieste Umrandung war an einigen Stellen mit Kacheln anderer Machart ausgebessert worden. Durch eine kurze Treppe auf einer weiteren Ebene erreichbar, standen wenige Tischgruppen. Etwa in der Mitte dieses Teils der Dachterrasse befand sich eine kleine Bühne, die mit Gerümpel vollgestellt war und an einem mit einer fleckigen Decke verhüllten Tisch richteten Kellner die herbeigetragenen Speisen zum Servieren her.

»Früher gab es hier jeden Abend Barbecue«, schwärmte Ute, »aber da hatte das Haus auch noch ein paar Sterne und internationale Urlauber als Gäste!«

Das Essen war trotz der Patina, die sich über das gesamte Gebäude wie ein Schleier gelegt hatte, ausgezeichnet. Essen ist überall in Thailand ausgezeichnet, hatte Ute bemerkt.

Die beiden Frauen aßen genüsslich eine Zusammenstellung kleinerer Snacks, die Ute ausgewählt hatte, und unterhielten sich gemütlich. Wie mit einem nicht ausgesprochenen Tabu belegt, wurde der verschollene Ehemann mit keiner Silbe erwähnt.

»Bist du eigentlich verheiratet? Du trägst gar keinen Ring«, fragte Dagmar neugierig.

»Ich war verheiratet, vor vielen, vielen Jahren. Das eine Mal hat mir auch gereicht.«

Gedankenverloren schüttelte Ute den Kopf.

»Und seitdem warst du immer alleine?«

»Nein, natürlich nicht. Aber wenn du die meiste Zeit deines Lebens in Hotels in ständig wechselnden Ländern zubringst, dann reicht es nur für mehr oder weniger flüchtige Beziehungen. Ist mir auch lieber so, wenn ich ehrlich bin.«

Dagmar überlegte, während sie eine gegrillte Garnele verspeiste.

»Und was ist im Moment bei dir mit Männern?«

Ute wehrte ab: »Ich habe im Augenblick andere Probleme. Außerdem bin ich langsam in einem Alter angelangt, wo Freundschaften wichtiger sind als Beziehungen. Ich habe mein Soll erfüllt. Ich habe ein Kind in die Welt gesetzt und großgezogen, damit bin ich aus dem Schneider und nur noch für mich selbst verantwortlich.«

Wieder kreisten die Gedanken in Dagmars Gehirn.

»Und was ist mit Sex?«

Sie grinste Ute frech an, die die Augenbrauen hochzog und den Kopf schüttelte.

»Also ich brauche keinen Sex! Hab ich noch nie gebraucht.«

Dagmar: »Aber Sex kann doch ganz schön sein!«

Ute blickte Dagmar spöttisch an.

»Kann! Aber du weißt nie im Voraus, wie es ausgehen wird. Für die paar Minuten, die man da mal auf seine Kosten kommen könnte, muss man heucheln und sich verleugnen. Besten Dank, da trinke ich lieber einen Schnaps und gut ist´s!«

Sie machte eine Pause, dann fuhr sie fort: »Hattest du denn mit deinem Heinz guten Sex?«

»Mit Heinz? Nein, das kann ich nun wirklich nicht behaupten. Meist war es die Mühe nicht wert!«

Ute grinste.

»Na also, wovon redest du dann?!«

»Schnaps!«, erwiderte Dagmar und streckte Ute ihr Glas fordernd entgegen.

»Aber nicht aus einem Weinglas, Schätzchen! Wollen wir uns heute wirklich ohne Gnade besaufen oder spendierst du lieber noch eine Flasche von dem mittelmäßigen, aber sündhaft teuren Italienischen?«

Zu Utes Erleichterung blieb es bei Rotwein, der auch ganz ordentlich wirkte, bei diesen Temperaturen und der spürbaren Luftfeuchtigkeit.

Die Unterhaltung war wirklich angenehm. Ute erzählte von ihrem abwechslungsreichen Leben und Dagmar fand nicht wenige Gemeinsamkeiten bei ihren Vorlieben und Einschätzungen.

Ute Radok war im Januar 1958 als Tochter eines Landarztehepaars in einer niedersächsischen Kleinstadt geboren worden. Ihre Kindheit verlief unspektakulär. Sie hatte einen zwei Jahre jüngeren Bruder, der späterhin ebenfalls Allgemeinmediziner wurde. Ute machte ein durchschnittliches Abitur und fuhr danach für ein Jahr als Au-pair in die USA. Wegen der Möglichkeit, später einmal in der Reisebranche im Ausland arbeiten zu können, absolvierte sie eine Ausbildung zur Reiseverkehrskauffrau. Ihre Jugend wurde geprägt von einem starken Freundeskreis, der sich der Hippiekultur, vielen Konzert- und Festivalbesuchen sowie dem Konsum leichter Drogen widmete.

»Wenn ich mir überlege, was wir damals so weggekifft haben ... Und heute rauche ich nicht mal mehr Zigaretten. War aber eine tolle Zeit!«

Ute füllte die beiden Gläser mit Rotwein nach. Während sie einen großen Schluck davon nahm, wehte ihr ein Windzug eine ihrer leicht gewellten dunkelbraunen, mit einzelnen grauen Haaren durchsetzten Strähnen ins Gesicht.

»Meine gesamte Jugendzeit über war ich hin und her gerissen zwischen meiner Clique und meinen Berufszielen. Ehrgeizig war ich. Ehrgeizig und zielstrebig war ich mein ganzes Leben lang, doch jetzt werde ich langsam müde. Diese Zicke Stefanie Conner hat mir irgendwie den Schneid abgekauft. Soll ich gegen so eine Person kämpfen?«

Sie nahm noch einen Schluck Wein, so als ob sie den bitteren Geschmack dieser Erkenntnis herunterspülen wollte.

»Ich habe internationales Tourismus-Management studiert. Wie organisiere ich mich jetzt mal am besten?«, äffte sie ihre Chefin nach. »Okay, dann ist halt jetzt die nächste Generation dran, das einzureißen, was unsere Generation aufgebaut hat.«

Utes Leben war geprägt von einem unstillbaren Fernweh, das sie nie ganz zur Ruhe kommen ließ. Sie hatte verschiedene Partner, davon zwei feste Beziehungen. Als sie gerade vierundzwanzig geworden war, wurde sie schwanger und heiratete Jochen, den Vater ihrer Tochter Caroline. Nach vier Jahren Elternzeit bekam Ute eine interessante Stellung bei einem Touristikkonzern angeboten, womit jedoch auch häufige Reisen im In- und Ausland verbunden waren. Dies belastete die Ehe stark.

Mit dreiunddreißig – da war ihre Tochter gerade achteinhalb Jahre alt – trennten sie und Jochen sich einvernehmlich, drei Jahre später ließen sie sich scheiden. Caroline blieb bei ihrem Vater, während Ute erst in eine kleine Wohnung nach Hamburg zog und kurz darauf eine Stelle als Reiseleiterin in Thailand antrat. Obwohl sie sich selten sahen und Caroline damals auf eigenen Wunsch zu ihrem Vater gezogen war, hatte sie stets ein gutes Verhältnis zu ihrer Tochter. Ute arbeitete nun schon seit mehr als vierundzwanzig Jahren im Ausland und kam seitdem selten zu Besuch in ihre Heimat.

»Immer, wenn ich in Deutschland bin, habe ich das Gefühl, dass ich einen Schwarz-Weiß-Film sehe«, sagte sie nachdenklich.

Die beiden Frauen lehnten, mit ihren Weingläsern in den Händen, an der Begrenzungsmauer der Dachterrasse und bewunderten die nächtliche Großstadtkulisse. Unten fuhren einige Feuerwehrautos mit Sirene und Blaulicht – richtiger gesagt: Rotlicht – vorbei. Neugierig beugten sie sich vor und blickten in die Tiefe. Die Autos bogen aus einer Nebenstraße langsam in die Silom Road ein und beschleunigten dann ihre Fahrt. Schläuche lagen verknäult auf der Ladefläche.

Dagmar schüttelte den Kopf.

»Das sieht aber auch ganz schön rödelig aus!«

Ute, die sofort erfasste, wovon die Rede war, antwortete entschuldigend: »Die sind sicherlich nicht zum Aufrollen und Trocknen der Schläuche gekommen.«

Dagmar nachdenklich: »Dann löschen die hier mit abgestandenem Wasser?«

Ute: »Ja, da holt man sich ruckzuck eine bakterielle Infektion!«

Sie blickten sich an und prusteten los vor Lachen.

»Du schläfst heute hier bei mir«, bestimmte Ute. »Da draußen lauert die Gefahr in Form von biologischen Kampfmitteln und du bist schon zu betrunken für den Heimweg!«

*

Sie saßen in einem schönen Restaurant im Stadtteil Bangsu direkt am Chao Phraya Fluss. Es war Utes Vorschlag gewesen, Dagmars einundsechzigsten Geburtstag hier mit einem kleinen Candle-Light-Dinner zu feiern. Der ursprüngliche Plan der Urlauberin war, diesen Tag zusammen mit ihrem Ehemann Heinz in der wunderschönen Lampang River Lodge in Nordthailand zu begehen, doch nun hatte das Schicksal diesen unspektakulären Ort für ebendies Ereignis auserwählt. Das Lokal war ein echter Geheimtipp, den nur wenige Ausländer kannten. Beinahe ländlich wirkte die Umgebung, obwohl man mit der Expressfähre nicht einmal eine halbe Stunde bis ins Stadtzentrum brauchte. Auf der Holzterrasse, auf der etwa zehn Sitzgruppen Platz fanden, bestand die Beleuchtung ausschließlich aus verschiedenartigen Kerzenleuchtern. Die vielen liebevoll platzierten Dekorationsgegenstände boten einen geschmackvollen Eindruck der ganzen Bandbreite traditionellen Kunsthandwerks. Das Ambiente wurde abgerundet durch leise Untermalung mit klassisch thailändischer Musik. Einzig das etwas unbeholfene Personal wirkte eine Spur deplatziert.

Während die beiden Frauen schweigend in der Speisekarte nach einem angemessenen Gericht suchten, fragte Dagmar unvermittelt:

»Ob die hier wohl Wein haben? Wenn wir schon meinen Geburtstag feiern, dann auch bitteschön richtig!«

Ute ließ ihren Blick abschätzend in die Runde schweifen.

»Mit Sicherheit nicht, aber ich kann ja mal fragen.«

Der herbeigerufene Kellner war überfordert. Grinsend wiederholte er Utes Anliegen, ohne jedoch die geringsten Anstalten zu machen, näher darauf einzugehen. Stattdessen notierte er die Speisebestellung und eilte zurück in die Küche. Ute machte eine »Bitte-was-habe-ich-gesagt?!«-Handbewegung. Sie nahm ein Plastikfläschchen Sketolene aus ihrer Handtasche und sprühte sich die Beine mit dem Moskitospray ein. Einige Minuten später jedoch trat der Oberkellner an den Tisch heran und wollte wissen, ob die beiden Damen wirklich nach Wein gefragt hatten. Seine Stellung war daran zu erkennen, dass er einen schwarzen Anzug trug und beim Gehen immer eine Hand, mit der Handfläche nach außen gewandt, auf den Rücken hielt. Das war dann aber bereits alles, was er mit einem Ober gemein hatte, in anderen Belangen erwies er sich als Niete. Er erkundigte sich, was für ein Wein gewünscht war.

 

»Was haben Sie denn da?«, fragte Ute.

»Rotwein und Weißwein«, antwortete der Mann unsicher.

»Rotwein?« Ute sah Dagmar fragend an.

»Rotwein!«, nickte Dagmar.

Der Oberkellner verschwand wieder im Restaurantgebäude und einen Augenblick später sahen die beiden, dass sich der Kellner auf eine alte Honda schwang und damit von dannen knatterte. Ein paar Minuten später war er wieder da, eine Plastiktüte mit einer Weinflasche darin in der Hand.

»Und wenn wir noch eine Flasche bestellen?«, raunte Dagmar ihrer Freundin zu.

»Dann wird er erneut losfahren und im nächsten Family Mart eine weitere Flasche kaufen«, antwortete sie lakonisch.

Nun kam eine junge Kellnerin mit dem Wein und zwei normalen Wassergläsern an den Tisch. Sie lächelte freundlich und versuchte, den Korken mithilfe eines riesigen, Furcht einflößenden Messers aus dem Flaschenhals zu pulen. Das Prozedere dauerte etwa zehn Minuten, dann gab sie verlegen grinsend auf und holte Hilfe aus dem Gebäude. Der Oberkellner kam, in der Hand einen richtigen Korkenzieher. Zwar aus brüchigem, quietschgelbem Plastik, aber immerhin ein echter Korkenzieher. Er schraubte die Spirale schulmeisterlich erklärend etwa einen halben Zentimeter in den Korken hinein, übergab an die Kellnerin und verschwand wieder. Die junge Frau drehte das Gerät noch einen weiteren Zentimeter in den Flaschenhals und hebelte schließlich mühsam einen Brocken des Verschlusses aus der Halsöffnung heraus.

»Das ist ja nicht mit anzusehen!«, kommentierte Dagmar.

»Du darfst sie nun auf keinen Fall unterbrechen«, flüsterte Ute. »Da muss sie jetzt selbst durch, sonst verliert sie ihr Gesicht!«

Weitere zehn Minuten später war der Korken in zwei Häufchen Krümel aufgelöst. Eins davon war über den ganzen Tisch verteilt, das andere schwamm in der Flasche. Inzwischen hatten die beiden Frauen ihre Hauptspeisen bereits verzehrt. Die Kellnerin goss Utes Glas bis zum Rand voll, verbeugte sich verlegen lächelnd und ging.

»Und ich?«, fragte ihr Dagmar hinterher. Beide Frauen fingen an zu lachen. Ute fischte die Korkkrümel mit einem Löffel aus dem Glas und Dagmar füllte das ihre selbst halb voll.

»So, nun lass uns aber mal endlich auf deinen Geburtstag anstoßen! Ich wünsche dir alles Gute, gute Gesundheit und natürlich, dass du deinen Heinz bald wieder in deine Arme schließen wirst. Ach Quatsch, was rede ich. Ich bin lausig in solchen Ansprachen, du weißt schon, was ich meine. Ich wünsche dir, dass du glücklich bist!«

Die beiden Frauen stießen mit ihren Gläsern an.

»Wenn ich dich nicht hätte, dann wäre das jetzt ein ganz deprimierender Tag!« Dagmar kämpfte eine Träne herunter. »Aber dank deiner Hilfe und all dem, was du für mich tust, ist das alles jetzt im Moment nur halb so schlimm für mich. Und dann dieser Blick auf den Fluss ...«

Sie nahmen jede einen kräftigen Schluck von dem Rotwein und verzogen gleichzeitig das Gesicht.

»Vielleicht wird er besser, wenn man Eiswürfel in den Wein gibt«, versuchte Ute.

»Ja, und vielleicht etwas Salz und Pfeffer!«, ergänzte Dagmar. Sie fingen an zu lachen und sahen sich eine Weile einfach nur an.

»Oh mein Gott, ich habe ja noch ein Geschenk für dich. Wie konnte ich das vergessen?!«

Ute schaute in ihre Handtasche und förderte einen mit violetten Orchideenblüten bedruckten Briefumschlag zutage. Freudig erregt öffnete Dagmar das Kuvert und entnahm ihm einen Gutschein für einen Wellnessnachmittag im Seven Eden Spa der berühmten Siri Sathorn Residence.

Ute bemerkte das Zögern und beeilte sich, Dagmar zu beruhigen.

»Keine Angst, ich werde dich nicht alleine ins Paradies schicken. Wenn du nichts dagegen hast, werde ich dich begleiten. Ich kenne die Geschäftsführerin des Eden sehr gut von meiner Arbeit her und bekomme natürlich auch einen kleinen Rabatt dort. Das sind so die Privilegien für uns Mitarbeiter der Reisebranche, nicht dass du denkst, dass ich hier in Bangkok nur im Luxus schwelge.«

Diesen wirklich schönen Abend, der Dagmar ihre riesengroßen Sorgen um den Ehemann für ein paar Stunden in den Hintergrund zu drängen erlaubte, beendeten die beiden Frauen in einer neu eröffneten kleinen Bar. Die Sidewalk Liquor Bar befand sich nur wenige Meter von Utes Hotel entfernt. Sie hatten für den Weg dorthin mit viel Glück die letzte Expressfähre erreicht. Dagmar war beeindruckt von der Flussfahrt durch die von Millionen Lichtern erhellte Riesenmetropole. An den Ufern des Stroms reihten sich die vornehmsten Häuser, Hotels und Institutionen und wetteiferten miteinander mit modern-tropischem Charme und urbaner Eleganz. Dagmar lehnte mit glasigen Augen an der Reling und bewunderte die Szenerie wie ein Kind, das den Weihnachtsbaum betrachtet. Ob ihr Heinz wohl jemals Bangkok von dieser schönen Seite erleben würde? Ob er überhaupt einen Sinn für Derartiges hatte? Sicherlich drehten sich seine Gedanken eher um praktischere Dinge. Wie die hier wohl den ganzen Strom erzeugten und verteilten, ob die Architekten und Baustatiker den gleichen Standards folgten wie in westlichen Ländern, und natürlich, ob die Rollläden dieselbe Qualität aufwiesen wie die, die er in seiner Firma hergestellt hatte.

»Na, ist alles in Ordnung mit dir?«, hatte Ute gefragt und sie hatte geseufzt und mit dem Kopf genickt.

Nun saßen sie an einem kleinen Blechtisch mit pinkfarbenem Tischdeckchen und lasen die lange Liste der angebotenen Getränke.

»Schau mal, die haben geschrieben: Enyoy Ur Drink.«

Ute schmunzelte.

»Ja, und der hier heißt Longi Sland. Weißt du schon, was du nimmst?«

Dagmar überlegte noch.

»Ja, ich probiere mal Cocktails Go Beach.«

Ute nach einer Weile: »Finde ich nicht, wo hast du denn das gelesen?«

»Steht doch da ganz groß auf der Aufstelltafel.«

Ute blickte auf, las und lachte.

»Da steht COCKTAILS 60 B EACH, also jeder Cocktail kostet 60 Baht!«

Die Qualität der Cocktails entsprach dem unterirdischen Einheitspreis. Die Bloody Mary war mit Kirsch- statt mit Tomatensaft gemacht, in der Piña Colada fehlte der Ananassaft und der Mojito sah aus wie mit Blue Curaçao gefärbt. Eines konnte man ihnen aber nicht nachsagen, nämlich dass an Alkohol gespart wurde.

»Die Drinks schmecken so gruselig, dass man sie nur betrunken erträgt!«, stellte Dagmar fest. »Lass uns die ganze Palette durchtrinken, ich hab da drüben eine Toilette entdeckt.«

»Alkohol ist aber auch keine Lösung!«, gab Ute zu bedenken.

»Alkohol ist keine Lösung«, wiederholte Dagmar leicht lallend. »Aber zum Betrinken ist Alkohol allemal geeignet!«

Als Dagmar sich gegen zehn Uhr am Vormittag auf den Weg in die Stadt machen wollte, wurde sie an der Rezeption gefragt, wie lange sie noch im Hotel zu wohnen gedachte. Erst bei dieser Gelegenheit erfuhr sie, dass eine Übernachtung mehr als sechzig Euro kostete. Die Rabatte, die Reiseveranstalter wie Martan Travel in Anspruch nahmen, wurden Einzelreisenden nicht gewährt. Ein Problem mehr, dachte Dagmar und verlängerte zunächst um eine weitere Nacht. Wenn man schon Unglück hat, dann kommt meist auch noch Pech dazu.

Ute hatte ihr am Vorabend wieder ein paar Ausflugsziele vorgeschlagen. Von ihrem Hotel aus konnte sie zu Fuß zur Ratchaprasong gehen, der berühmten Straßenkreuzung, an der sich so bekannte Einkaufszentren wie das 2010 bei Unruhen zerstörte Central-World-Einkaufszentrum, das Central Chidlom, Gaysorn- und die Amarin Plaza befanden. Gegenüber sorgte der Erawan Shrine für einen nicht endenden Menschenauflauf von Gläubigen, die sich von ihren Räucherstäbchen- und Blumenspenden Hilfe bei ihren Alltagsproblemen erhofften oder sich für zuteilgewordene Unterstützung beim Hindu-Gott Brahma bedankten.