Bangkok Oneway

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»Du sprichst gutes Thai«, sagte sie.

Ute erklärte ihr, dass sie seit vielen Jahren in Thailand arbeitete und dass sie sich in diesem Land glücklich und zu Hause fühlte.

»Hast du keinen Mann?«, wollte die Thailänderin wissen, denn ein Mensch ohne Familie ist für Thailänder eine bemitleidenswerte Kreatur.

»Ich hatte einen Mann, aber der war schlecht zu mir. Ich habe ihn vor neunzehn Jahren verlassen«, antwortete Ute in resigniertem Tonfall und fügte hinzu: »Männer bereiten uns Frauen nur Kummer und Sorgen.«

Die Frau hinter dem Tresen nickte zustimmend und stellte Ute wortlos ein weiteres Glas Mekong-Cola auf die Bar. Dann kritzelte sie ein paar thailändische Schriftzeichen und eine Telefonnummer auf einen Zettel und schob ihn Ute unter vorgehaltener Hand zu.

»Nid wohnt normalerweise bei einer Freundin«, raunte sie Ute zu. »Sie hatte heute Morgen Krach mit dem Chef und der hat sie anschließend rausgeworfen. Wenn du Glück hast, findest du sie bei der Adresse, die ich dir aufgeschrieben habe. Sag ihr, dass ich sie dir gegeben habe, dann wird sie dir vielleicht weiterhelfen können.«

Als Ute zurückkam und gut gelaunt den Innenhof des Nana Plaza betrat, fand sie Dagmar umringt von Barmädchen. Alle schienen bester Dinge zu sein und sich gut und laut lachend zu unterhalten.

»Ich habe Würmer und Heuschrecken gegessen und die haben gar nicht mal übel geschmeckt!«, begrüßte Dagmar ihre Begleiterin lallend.

»Frau Schöller, Sie sind ja betrunken!«, gab Ute Empörung vor. Insgeheim amüsierte sie sich über den Anblick dieses angeheiterten Häufchens Elend.

»Ich werde Sie jetzt besser zurück zu Ihrem Hotel bringen, bevor Sie mir hier noch vom Stuhl fallen.«

Dagmar verzog das Gesicht und schob ihre Unterlippe vor.

»Nein, ich will noch nicht gehen«, maulte sie. »Das sind alles meine Freundinnen. Das sind gaaanz süße Mädchen – alle. Das isss meine Freundin Phu, die anderen Namen kann ich mir nicht merken. Phu, one more Schinga for everybody, pleeeeese!«

»Ich glaube, wir sollten jetzt wirklich besser gehen«, bemühte sich Frau Radok. »Sehen Sie mal, die Leute schauen schon ...«

»Die sind ja alle zum Schauen hierhergekommen! To look all the sexy ladies!«

Die Barmädchen juchzten bei Dagmars Worten, beantwortet von fröhlichen Rufen und Schreien aus den Nachbarbars.

»Siehst du, Frau Radok? I am also sexy lady – thirty years ago! Hahaha, wenn ich beschwipst bin, kann ich richtig gut Englisch sprechen, mir fallen immer mehr Vokabeln ein. Ist das nicht zum Piepen, Frau Radok? Wie heißt du eigentlich mit Vornamen? Ich heiße Dagmar oder ist das jetzt unhöflich so von mir? Ach egal, ich hab heute meinen Mann verloren – nee – gestern meinen Mann verloren, aber jetzt habe ich eins, zwei, drei, vier, viele Freundinnen. Getsern hatte ich überhaupt keine Freundin. Hab ich getsern gesagt? Getsern. Wie heißt das noch mal? Getstern. Geststern. Geststern?«

Indessen konnte sich Ute ein ganz offenes Lachen nicht mehr verkneifen. Sie bezahlte die Zeche aus ihrer eigenen Tasche und schob die laustark lamentierende Urlauberin vor sich her, bis zum nächsten freien Taxi, gleich vorne an der Straße mit dem melodischen Namen Soi Nana. Einmal noch bäumte sich Dagmar vergeblich auf, nämlich als die beiden Damen an Ständen mit Bergen von herrlich duftenden Fleischspießen vorbeilaufen mussten. Der Taxifahrer war etwas unwirsch, als er begriff, dass die Fahrt nur wenige Hundert Meter weit gehen sollte. Aber hier half ein Fünfzig-Baht-Schein, um schnell wieder für gute Stimmung zu sorgen. Die kalte Klimaanlagenluft in dem Taxi kühlte jedoch leider auch Dagmars Stimmung ganz rapide ab. Zunächst verstummte sie nur, kurz vor dem Ziel ereilte sie dann eine Niedergeschlagenheit, die ihr sofort die Tränen in die Augen steigen ließ. Nachdem beide das Fahrzeug verlassen hatten, fiel Dagmar Ute Radok um den Hals und fing laut an zu schluchzen.

»Wie soll ich denn heute Nacht schlafen können? Ich weiß überhaupt nicht mehr weiter! Ein Mensch kann doch nicht einfach so verschwinden, das geht doch gar nicht. Das muss doch jemand mitbekommen haben!«

Nach weiteren fünfzehn Minuten lag Dagmar dann endlich in ihrem Hotelzimmer im Bett. Ute Radok hatte einige Mühe, sie so weit zu bewegen, aber schließlich war es ihr, mit viel gutem Zureden, doch gelungen, die schwer angeschlagene Urlauberin zur Ruhe zu bringen. Dagmar hatte noch einmal eine Tablette genommen und Minuten später war sie in einen tiefen Schlaf gefallen.

Ute Radok machte sich alleine auf den Weg zu ihrem Hotelappartement, wo sie, bei einem einsamen Glas Rotwein, endlich Zeit finden würde, sich mit ihren eigenen Sorgen zu beschäftigen.

Ute hatte mit der Telefonnummer von Nids Freundin nichts erreichen können. Entweder war die Nummer falsch oder es ging einfach niemand an den Apparat. Die Adresse, die ihr die Barbedienung gegeben hatte, befand sich in einem entlegenen Stadtteil.

Ute rief im Hotel Tamarind an, um sich mit Dagmars Zimmer verbinden zu lassen. Die Leitung war jedoch besetzt und so legte sie wieder auf. Eine Sekunde später läutete das Telefon. Am anderen Ende der Telefonleitung war ihre Vorgesetzte Stefanie Conner, die sofort eine Schimpfkanonade begann.

»Frau Radok, wir haben ja indessen mitbekommen, dass Sie Martan Travel durch Sabotage in den Ruin treiben wollen. Ich hätte aber nicht gedacht, dass Sie dabei so unverschämt und leichtsinnig vorgehen würden.«

In Ute staute sich Adrenalin an, sie fühlte sich zu sehr überrumpelt, als dass sie eine Antwort hätte geben können. Frau Conner fuhr fort:

»Sie hatten gestern Abend eine vierundzwanzigköpfige Gruppe am Suvarmabhumi Airport abholen sollen. Die armen Menschen standen dort eine geschlagene Stunde hilflos herum, und wer war nicht zur Stelle? Was glauben Sie eigentlich was wir uns noch alles von Ihnen bieten lassen werden?«

Ute fand langsam ihre Fassung wieder und stammelte mit vor Wut zugeschnürter Kehle:

»Ich hatte im Büro angerufen und Ihnen mitteilen lassen, dass ich mich um einen vermissten Gast zu kümmern hatte. Hat Ihnen denn niemand etwas gesagt? Ich hatte mit Herrn Soest gesprochen und der hat mir zugesichert ...«

»Ob und wann Sie sich um welche Gäste zu kümmern haben, das entscheide immer noch ich, Frau Radok!«, brüllte die Abteilungsleiterin ins Telefon. »Das ist hier kein kindischer Selbstbedienungsladen für alternde Reisetussies! Wir haben Verantwortung für mehrere Tausend gut zahlende Reisegäste, Monat für Monat, Woche für Woche. Wenn hier nicht bald ein wenig Disziplin einkehrt, dann werden hier Köpfe rollen, das verspreche ich Ihnen! Sie werden jetzt Ihren Hintern bewegen und in fünfzehn Minuten in meinem Büro stehen. Wenn Sie das nicht schaffen sollten, egal aus welchem Grund, dann können Sie sich heute noch Ihre Papiere abholen! Haben Sie mich verstanden?!«

Fassungslos starrte Ute auf den Telefonhörer, der bei den letzten Worten ihrer Chefin gebebt hatte.

Der Berufsverkehr war in vollem Gange und es spielte eigentlich kaum eine Rolle, ob sie nun versuchte, die Hochbahn BTS zu nehmen, deren nächste Station schon alleine einen Fußweg von einer Viertelstunde entfernt lag, oder ob sie sich in ein Taxi schwingen sollte, das dann spätestens an der Ecke Silom Road hoffnungslos im Stau stecken würde, oder ob sie sich zu Fuß auf den mehr als vier Kilometer langen Weg machen sollte. Sie konnte die Zeitvorgabe partout nicht erfüllen. Keine Chance, es ging einfach nicht!

Also suchte Ute das Bad auf, frisierte ihre Haare ganz in Ruhe, zog sich mit einem Eyeliner gewissenhaft ihren Lidstrich, tat etwas Rouge auf – nicht zu viel, nur einen Hauch unterhalb ihrer Wangenknochen. Sie ging in ihre Garderobe, zupfte sich den Rock ihres graublauen Kostüms zurecht, schlüpfte in ihre flachen Schuhe, legte sich ihre Kostümjacke über den Arm, nahm ihr Handy vom Esstisch und zog nach dem Verlassen des Appartements energisch die Tür ins Schloss. Sie war die Ruhe in Person, fast schon apathisch. Keinen Gedanken an die möglichen Folgen des Telefonats mit Frau Conner verschwendete sie. Keinen Gedanken an ihre Zukunftsperspektiven als alleinstehende Mittfünfzigerin. Schlendernd machte sie sich auf den Weg zur BTS-Station Sathorn im Stadtteil Silom. So absurd es ihr selbst in diesem Moment erschien, sie sorgte sich um Dagmar und deren verschollenen Mann. Ihre eigenen Probleme wollten einfach nicht in den Vordergrund ihres Denkens treten.

Dagmar war etwa um acht Uhr von dem Klingeln des Telefons aufgewacht. Sie hatte starke Kopfschmerzen und einen sehr trockenen Mund.

»Frau Schöller, wir warten auf Sie«, hörte sie die ihr bekannte Stimme von Frau Sandra Klöpper vorwurfsvoll aus dem Hörer tröten. »Der Bus fährt in genau einer halben Stunde ab, und wir haben Sie weder im Frühstücksrestaurant noch in der Hotellobby gesehen. Sie haben doch hoffentlich nicht verschlafen!«

Dagmar brauchte ein paar Sekunden, um zu verstehen, was die Reiseleiterin von ihr wollte.

»Aber mein Mann ist doch immer noch nicht wieder aufgetaucht! Ich kann doch jetzt nicht einfach die Rundreise antreten, so als wäre nichts geschehen!«

Frau Klöpper blieb für einen Augenblick stumm.

»Aber wir müssen um spätestens halb neun losfahren. Ich weiß auch nicht, wie Sie das machen wollen. Ich jedenfalls kann nicht länger warten, dann müssen Sie sich mit Frau Conner auseinandersetzen. Die Nummer habe ich Ihnen gestern gegeben.«

Dagmar saß aufrecht im Bett und starrte leer vor sich hin. Dann rappelte sie sich auf und stürzte, zusammen mit einer Kopfschmerztablette, einen halben Liter Mineralwasser in sich hinein.

Nach dem Beenden ihrer Morgentoilette bereitete sie einen Nescafé, setzte sich in einen der beiden vorhandenen Sessel und wählte auf ihrem Handy die Nummer ihrer Tochter Sarah in Wolfsburg. Sie ließ das Telefon etwa fünf Minuten lang klingeln, bis der Anrufversuch durch ein Tut-Signal ergebnislos abgebrochen wurde. Nervös wiederholte sie dieses Prozedere zwei weitere Male, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass in Deutschland gerade drei Uhr in der Nacht war.

 

Dagmar fühlte sich matt und ausgelaugt. Sie versuchte, an ihren Mann zu denken, aber es wollte ihr nicht gelingen. Sosehr sie sich auch bemühte, brachte sie es nicht fertig, sich sein Bild vorzustellen. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab und machten sich an belanglosen Dingen fest. Wieso sind die Gardinen so lang, dass sie am Boden einen Knick bilden, fragte sie sich. Sie blickte nach oben und entdeckte großflächig Farbspritzer der weiß getünchten Decke an den oberen Gardinenrändern. Offensichtlich hatte man diese gestrichen, ohne vorher die Vorhänge abzunehmen. Dagmar schüttelte den Kopf. Erneut versuchte sie, ihre Tochter zu erreichen. Als dies wieder nicht klappte, wählte sie die Nummer von Frau Radok, doch deren Telefonleitung war besetzt.

Dagmar gab sich einen Ruck und machte sich auf, um frühstücken zu gehen. Sie saß alleine an einem Tisch mit vier Stühlen und stocherte lustlos in einem Quarkmüsli herum. Der Kaffee schmeckte lausig, der Orangensaft dünn. An einem benachbarten Tisch unterhielten sich vier Männer in unerträglicher Lautstärke in russischer Sprache. Als sie dann gingen, hinterließen sie mehrere randvoll mit allen möglichen Speisen gefüllte Teller und einen Haufen Müll.

Wieder zurück in ihrem Zimmer, versuchte sie erneut, ihre Tochter und Frau Radok zu erreichen, schließlich wählte sie die in den Reiseunterlagen von Martan Travel angegebene Servicenummer. Nach mehrmaligem Läuten antwortete eine Dame mit deutlichem thailändischem Akzent. Dagmar schilderte ihr Anliegen, doch die Frau am Ende der Leitung verstand sie nicht oder wollte sie nicht verstehen. Erst als Dagmar hörbar in Tränen ausgebrochen war, bemühte sie sich, ihr zu helfen.

»Misse Connor nicht da in Augeblick. Sie vermutlich in eine Besprekung.«

Und als Dagmar sie verzweifelt fragte, was sie denn jetzt so ganz alleine tun sollte, antwortete die Thailänderin fürsorglich: »Sie müsse besser gehe Polizei. Dort helfe. Un wenn Polizei dann gehe Botschafter in der South Sathorn Road Number nine.«

Sie diktierte noch die Telefonnummer der Botschaft und wies darauf hin, dass diese nur in der Zeit von acht Uhr dreißig bis elf Uhr dreißig geöffnet wäre. Das war für Dagmar natürlich nicht mehr zu schaffen, zumindest nicht an diesem Tag. Trotzdem rief sie dort an und schilderte ihr Problem. Nachdem sie mehrmals weitergeleitet worden war, sprach sie mit einem Botschaftsattaché, der sehr verständnisvoll und bemüht war. Er bat Dagmar, umgehend in die South Sathorn Road zu kommen, er würde sich heute noch um ihr Anliegen kümmern. Dagmar stieg in ein Taxi und knapp eine Stunde später saß sie in einem großen, hallenartigen Warteraum. Außer einer jungen Thailänderin, die damit beschäftigt war, die Sitzmöbel mit einem feuchten Lappen abzuwischen, war sie die einzige anwesende Person. Dagmar saß regungslos auf ihrem kunstlederbezogenen Sessel und beobachtete die Frau bei ihrer Arbeit. Diese wischte mit einer unvorstellbaren Langsamkeit Möbelstück für Möbelstück mit dem grauen, halb zerfetzten Lappen ab, ohne das Tuch ein einziges Mal in den bereitstehenden Wassereimer zu tauchen. Genauso wischte sie die Lampen, die an den Wänden angebracht waren, ab, dann das Fensterbrett, indem sie den Lappen großzügig um die darauf stehenden Blumentöpfe herumführte. Wenn sie mich jetzt auch gleich noch abfeudelt, dann haue ich ihr eine runter, dachte Dagmar. Doch die Putzfrau übersprang sowohl Dagmar als auch den Stuhl, auf dem sie saß, mit einem zuckersüßen Lächeln, das sie der Deutschen schenkte. Als Dagmar schließlich von einem Botschaftsmitarbeiter abgeholt wurde, hatte die Thailänderin gerade damit begonnen, den gefliesten Fußboden in aller Seelenruhe, und natürlich mit dem gleichen Lappen, zu wischen.

»Goodbye Madam«, rief sie ihr mit einem Strahlen im Gesicht hinterher.

Gedankenverloren rührte Ute ihren Caffè Latte um, leckte den langen Stiellöffel ab und legte ihn neben ihr iPhone auf den Bistrotisch. Das Café und Bistro Siam Coffee World in der Silom Road war einer der Orte, an den sie sich zurückzog, wenn sie einmal keine bekannte Menschenseele sehen wollte. Hier wurde dezente Musik gespielt, aufmerksame, aber unaufdringliche Bedienstete servierten ausgezeichnete Kaffee- und Gebäckspezialitäten und ansonsten hatte man dort einfach seine Ruhe. Nachdem Ute einen Brownie verzehrt und einen weiteren Caffè Latte bestellt hatte, nahm sie ihr Mobiltelefon entschlossen in die Hand und wählte die Nummer ihres ehemaligen Kollegen Rainer Holl. Sie blickte auf ihre Armbanduhr und wartete ab, bis dieser sich endlich meldete.

»Ute hier. Hab ich dich gerade geweckt?«, fragte sie schuldbewusst.

»Ute! Ist schon okay. Es wird sowieso höchste Zeit für mich«, kam als Antwort. »Wo brennt es denn? Ich habe ja eine Ewigkeit nichts mehr von dir gehört.«

»Die Party letzte Woche ...«

»Oh nein! Erinnere mich nicht daran!«

Rainer gähnte laut ins Telefon hinein.

»Bin ich dir neulich etwas schuldig geblieben oder habe ich mich unflätig benommen? Ich weiß, dass ich keinen guten Eindruck gemacht habe, aber ...«

Ute unterbrach ihn: »Können wir uns treffen?«

»Treffen? Ja natürlich. Wir könnten morgen Abend zusammen mit ...«

»Jetzt!« Sie atmete tief ein. »Ich brauche deinen Rat. Ich könnte zu dir kommen, sagen wir in einer Viertelstunde.«

»Zu mir?! Ausgeschlossen! Das geht nicht, ich meine, ich habe nicht aufgeräumt. Sieht zurzeit nicht so besonders ordentlich in meiner Wohnung aus. Ich hatte Besuch und so. Wir könnten uns irgendwo treffen, sagen wir in einer Stunde.«

Ute war erleichtert. Sie bezahlte, verließ das Café und machte noch ein paar kleinere Besorgungen. Dann kehrte sie zurück in die Siam Coffee World und wartete weitere zehn Minuten, bis Rainer gehetzt das Lokal betrat.

»Hast du den Sky-Train hierher genommen?«, begrüßte sie ihren Freund.

»Bist du verrückt? Gleich nach dem Duschen in die BTS, da kommst du ja als Eisblock an deinem Ziel an.

Nein, ich bin mit einem Motorrad-Taxi gekommen.«

Ute erzählte von den Ereignissen der letzten Tage. Sie schilderte den Fall des vermissten Gastes Heinz Schöller und die Eskalation im Verhältnis zu ihrer Vorgesetzten Stefanie Conner.

»Ich schmeiße meinen Job hin«, sagte sie mit bebender Stimme. »Ich trete dieser Person nur noch in Gegenwart eines Anwalts unter die Augen.«

Rainer war mehrere Jahre lang Kollege Ute Radoks. Als Stefanie Conner die Leitung von Martan Travel übernommen hatte, war er glücklicherweise schon längst dort ausgestiegen. Er hatte vor gut zwei Jahren als Gebietsleiter bei Südwind-Reisen angeheuert. Er und Ute hatten sich bereits vor Jahren angefreundet und oft in verschiedenen Reisebelangen kooperiert. Während der Asienkrise wurde ihm bei Südwind erst Personal abgezogen und schließlich ein wesentlich jüngerer Mitarbeiter zur Seite gestellt, der ihm nach seinem Job trachtete. Rainer kündigte auch dort und lebte seither als Gelegenheits-Geschäftsmann in Thailand. Er war Lebemann und Stammgast in allen möglichen Bars und Bordellen. Er war zwar ein Müßig- und Partygänger und seine Einstellung zu Frauen war mehr als grenzwertig, doch war er Ute ein guter und zuverlässiger Freund geblieben. Im Grunde genommen war er ihr einziger Freund in Asien.

»Wenn ich jetzt kündige, dann werde ich vielleicht noch ein halbes Jahr mit meinen Ersparnissen auskommen können«, fuhr Ute fort. »Ich brauche also dringend einen Job. Hast du nicht eine Idee für mich?«

Rainer runzelte die Stirn und überlegte.

»Du solltest nicht selbst kündigen, sondern dich von der Conner rausschmeißen lassen. Das ist arbeitsrechtlich günstiger für dich. Außerdem solltest du dir so bald wie möglich einen Anwalt nehmen. Dabei könnte ich dir auf jeden Fall helfen. Du musst versuchen, eine fette Abfindung zu bekommen, damit du deine finanziellen Reserven strecken kannst. Mit dem Job wird das gar nicht so einfach werden. Das kann dauern, ich werde aber auf jeden Fall meine Fühler ausstrecken.«

Rainer bestellte sich einen weiteren Bagel und einen Becher Kaffee.

»Du hast es gut, du bist schon über fünfzig. Ich bin erst siebenundvierzig und ich muss mich noch drei Jahre lang durchtricksen, bis ich ein Dauervisum bekommen kann. Aber irgendetwas geht immer. Lass den Kopf nicht hängen, wir schaukeln das schon!«

Dagmar fühlte sich nach dem einstündigen Gespräch mit dem Botschaftsattaché getröstet, aber nicht beruhigt. Man hatte ihr versprochen, sich um alle notwendigen administrativen Belange zu kümmern. Die Botschaft würde sich mit der Polizei in Verbindung setzen. Zunächst sollte Dagmar in Bangkok zur Verfügung bleiben. Sie wurde gebeten, ihr Mobiltelefon empfangsbereit zu lassen, ansonsten aber versuchen, in der Großstadt ein wenig Zerstreuung und Entspannung zu finden. Auch eine Mappe mit Prospekten und einen Stadtplan hatte man ihr mitgegeben. Von einem Verbrechen oder einer Gewalttat wollten weder der Attaché noch der anwesende Mitarbeiter sprechen.

»Vertrauen Sie auf unsere Erfahrung«, hatte er zu trösten versucht. »In mehr als neunzig Prozent aller Fälle gibt es eine harmlose Erklärung für das Verschwinden von Personen.«

»Harmlos aus Sicht der Behörden oder aus Sicht der Betroffenen?«, hatte sie bitter gefragt.

Der Mann hatte ihr aufmunternd auf die Schulter geklopft.

»Lassen Sie den Kopf nicht hängen, es wird sich schon alles fügen.«

Nun schlenderte sie die Sathorn Tai Road entlang in Richtung BTS Sky-Train Station und dachte darüber nach, was sie jetzt mit ihrer ewig lang erscheinenden Zeit anfangen sollte. Es war brütend heiß, der Verkehr war schnell, heftig und laut. Auf dem breiten Gehweg waren kaum Menschen unterwegs. Die Stadt war gigantisch groß und sie fühlte sich darin wie ein Staubkorn im Universum. Dagmar hatte nach so kurzer Zeit in Bangkok noch kein Gefühl für diese Riesenmetropole entwickeln können. Sie war immer noch nicht dort angekommen, ihr fehlte jeglicher Ansatzpunkt, um sich zu orientieren. Ach, wenn sie doch Ute Radok erreichen würde. Die könnte ihr doch wenigstens sagen, was sie hier in Bangkok machen sollte.

Dagmar blieb am Rand des Gehwegs stehen und suchte ihr Mobiltelefon in ihrer Handtasche.

»Ich versuch´s noch mal ...«, sagte sie zu sich selbst. In diesem Moment hörte sie ein Krachen und Scheppern hinter sich. Als sie sich erschrocken umdrehte, sah sie ein Motorrad auf dem Gehsteig liegen und einen weißen Toyota Kleinbus schräg auf der Kreuzung stehen. Für einen Moment verharrte alles in dieser Situation, dann fuhr der Wagen mit hoher Geschwindigkeit davon. Ein paar Passanten liefen zusammen und scharrten sich um den am Boden liegenden Motorradfahrer. Viele Menschen gafften neugierig, aber niemand bemühte sich um den Verletzten. Nachdem Dagmar sich von dem Schreck erholt und die Situation einigermaßen begriffen hatte, eilte sie dem Mann zur Hilfe. Sie sprach ihn auf Englisch an und drehte ihn instinktiv in eine stabile Lage. Der Motorradfahrer stöhnte leise. Blut sickerte in sein linkes Hosenbein; eine schmale Blutspur rann ihm am unteren Helmrand heraus. Hilfe suchend sah sich Dagmar um, aber die Umstehenden schauten ihr nur neugierig bei ihrem Tun zu. An der Kreuzung lief der Verkehr in rasender Geschwindigkeit weiter, so als wäre nichts geschehen.

»Anybody please call for an ambulance and for the police«, rief sie in die Menge. Niemand reagierte. »Police, please!«, wiederholte sie. Schließlich nahm sie ihr Handy aus der Tasche und wählte die internationale Notrufnummer 112. Sie hörte eine automatische Ansage in thailändischer Sprache. Dagmar wandte sich flehend dem am nächsten stehenden Mann zu, zog ihn am Hosenbein und schrie ihn an: »Please call a doctor!«

Der Mann wirkte, als ob er aus einer Trance erwachte. Er griff nach seinem Handy und wählte eine Nummer. Dann sprach er mit jemandem – schnell, hektisch, mit bebender Stimme. Nach endlos erscheinenden Minuten kam ein Pick-up mit hoher Geschwindigkeit und schrill jaulender Sirene angebraust. Auf der Ladefläche befand sich ein seitlich mit mattierten Glasscheiben versehener Aufbau. Zwei Männer und eine Frau in leichter Freizeitkleidung, aber mit gelben Signalwesten bekleidet, sprangen aus dem Fahrzeug und bemühten sich um den Motorradfahrer. Einer der Helfer war ein Europäer. Er sprach Dagmar auf Englisch an; sie erkannte an seinem Akzent, dass er Deutscher war. Er fragte sie, ob sie den Unfall beobachtet hatte, doch sie verneinte. Die beiden Thailänder hievten den verletzten Mann in die hintere Kabine des Pick-ups. Bevor der Deutsche ebenfalls in das Fahrzeug sprang und sich mit einem Stethoskop an dem Verletzten zu schaffen machte, überreichte er Dagmar seine Visitenkarte und bat sie, ihn später anzurufen. Dann raste der Pick-up davon und der Menschenauflauf löste sich rasch auf.

 

Dagmar stand noch eine Weile da, die Visitenkarte des Deutschen in der Hand, und beobachtete beiläufig, wie das zerbeulte Motorrad auf einen Polizeiabschleppwagen gehievt wurde. Als sie Ute endlich am Telefon hatte, versagte ihr für einen Moment die Stimme. Unter Tränen krächzte sie ein paar Laute in ihr Handy.

Ute wusste sofort, wer sie angerufen hatte.

»Dagmar? Was ist mit dir? Wo steckst du? Ich habe mehrmals versucht, dich zu erreichen!«

Dagmar bemühte sich, ihre Fassung wiederzuerlangen. Sie schilderte ihren Tagesablauf in Kurzform und bat Ute, sich mit ihr zu treffen. Schon ein paar Minuten später saßen die beiden Damen zusammen in einem Taxi und fuhren zum Flussufer des Menam Chao Phraya. Auf der Terrasse des Royal Orchid Sheraton bestellte Ute zwei Wassermelonen-Shakes und ein paar Snacks. Sie war hier durch ihre Firma bekannt und bekam großzügige Rabatte.

»Was wird mit dem armen Motorradfahrer geschehen?«, fragte Dagmar nachdenklich. »Wenn du gesehen hättest, wie die Leute da untätig herumgestanden sind. Genauso könnte es Heinz ergangen sein. Vielleicht liegt er irgendwo hilflos und niemand kümmert sich um ihn!«

»Da müsste er schon sehr tief in einen Klong gefallen sein!«, hielt Ute dagegen.

Dagmar sah Ute fragend an.

»Klong nennt man die Kanäle hier in Bangkok.«

Dagmar schüttelte stumm den Kopf. Es konnte doch nicht sein, dass sich der Mann, der den größten Teil ihres Lebens maßgeblich mitbestimmt hatte, in Luft aufgelöst hatte. Dass er so ganz ohne Vorwarnung von einer Minute auf die andere verschwunden war. Sie wischte sich eine Träne von der Wange.

»Wir müssen ihn suchen«, schluchzte sie. »Die Polizei tut doch gar nichts! Die interessieren sich überhaupt nicht für meinen Mann!«

Ute sah sie lange an. Sie kannte diese Stadt und dieses Land seit vielen Jahren. Sie war vertraut mit der Mentalität und der Denkweise der Menschen hier und sie wusste, dass die Realität in diesem tropischen Land eine andere war, als sich die Europäer im Entferntesten vorstellen konnten.

»Hier leben fünfzehn Millionen Menschen hinter heruntergelassenen Rollläden ihrer Shop-houses, in luxuriösen Penthäusern, auf den Rücksitzen ihrer Tuk-Tuks, in Hütten und Häusern«, sagte sie ruhig, aber eindringlich. »Wo willst du da anfangen zu suchen? Die Thailänder haben eine ganz andere Wahrnehmung als wir Europäer. Die sind als Zeugen so gut wie gar nicht zu gebrauchen. Was denkst du, warum die eine so dermaßen miese Aufklärungsquote bei ihren Verbrechen haben? Aus deren Sicht sind Schicksalszusammenhänge logischer als forensische Fakten. Die Polizei ermittelt nicht, um ein Verbrechen aufzuklären, sondern weil sie das Ermitteln an sich so spannend und aufregend findet. Was sollen da zwei problembehaftete Langnasen in reiferem Alter schon groß ausrichten können? Ich fürchte, dass du damit beginnen solltest, dich damit abzufinden, so schwer es dir auch fällt!«

Ute sah nachdenklich auf den breiten Fluss hinaus, auf dem schwer beladene Schuten an langen Seilen von kleinen, bunt bemalten Schleppern gezogen wurden. Expressfähren und zahnstocherdünne Boote mit ausladenden Schrauben-Quirlen an lärmenden Motoren brachten das dunkelbraune Flusswasser zum Kochen.

»Was für ein Mensch ist dein Mann?«, fragte sie nachdenklich. »Meinst du, er würde alleine in einem fremden Land zurechtkommen?«

Dagmar, die gerade in ein Papiertaschentuch geschnäuzt hatte, sah sie verwundert an.

»Na, ein ganz normaler Mensch. Er war Unternehmer, wir hatten einen mittelständischen Betrieb mit hundertzwanzig Beschäftigten – na ja, als es alles noch lief.«

Sie machte eine Pause, als ob sie sich selbst über ihre Gedanken und Gefühle klar werden müsste.

»Wir hatten uns auseinandergelebt. In letzter Zeit ging es wieder etwas besser, aber das lag auch mit daran, dass jeder mehr oder weniger seine eigenen Wege ging und er fast nie zu Hause war. Diese Reise sollte uns irgendwie auf den bevorstehenden Ruhestand einstimmen. Wir sind ja aufeinander angewiesen, jetzt, wo unsere Tochter endgültig aus dem Haus ist.«

Ute hatte während ihrer langjährigen Laufbahn in der Reisebranche schon so manche Überraschung mit scheinbar ganz normalen Menschen erlebt. Je unauffälliger ihre Reisenden wirkten, desto tiefer waren die Abgründe, die sich bei ihnen manchmal auftaten.

»Sei mir nicht böse, aber ich habe so eine Ahnung, dass dich dein Heinz irgendwie hinters Licht führt!«, sagte sie wie zu sich selbst. Dagmar blickte sie mit weit aufgerissenen Augen an.

»Ich weiß nicht, wieso mir ein Gefühl sagt, dass mit deinem Heinz irgendetwas nicht stimmt!«

»Na hör mal, du kennst ihn doch gar nicht!«, protestierte Dagmar.

Ute wechselte das Thema und machte ein paar Vorschläge, wie Dagmar die nächsten Tage in Bangkok verbringen könnte. Auf einen Block schrieb sie genau auf, wie und wann Dagmar zu den verschiedenen Besichtigungspunkten gelangen würde. Den Königspalast mit dem prunkvollen Wat Phrakaeo, den Wat Po mit dem bedeutenden liegenden Buddha, Wat Arun auf der anderen Flussseite und Wat Saket auf dem Golden Mountain mit seiner beeindruckenden Aussicht über die Altstadt. Sie schlug vor, dass sie sich einmal zu Fuß durch Chinatown schlagen und mit dem Expressboot zum Stadtteil Dusit fahren sollte. Dort stand das Vimanmek Mansion, der hölzerne Palast des verehrten früheren Königs Chulalongkorn.

»Hörst du mir überhaupt zu?«

Ute hatte Dagmars glasigen Blick bemerkt. Eine Träne lief über ihre Wange – sie suchte ein Papiertaschentuch in ihrer Handtasche. Ute nahm Dagmars Hand und tröstete sie:

»Ich kann mir gut vorstellen, wie es dir im Augenblick geht. Du musst dich aber beschäftigen und etwas ablenken, sonst drehst du noch durch. Im Moment können wir doch nur warten.«

Dagmar nickte stumm und schnäuzte sich.

»Du brauchst keine Angst zu haben, dass ich dich hier alleine lasse. Zwar habe ich auch meine Probleme, wir werden das Kind schon irgendwie schaukeln. Außerdem bin ich jederzeit über Handy zu erreichen.«

»Ich habe übermorgen Geburtstag«, flüsterte Dagmar. »Den wollten wir in Nordthailand feiern.«

Die nächsten Tage brachte Dagmar damit zu, den Besichtigungsplan abzuarbeiten. Sie litt unter der Hitze und der schlechten Großstadtluft. Die Menschenmassen machten ihr zu schaffen und oft stand sie ratlos an irgendeiner Ecke und fand keine Orientierung. Meist wurde sie dann nach kurzer Zeit von Thailändern angesprochen, die ihr weiterhalfen, ihr gut gemeinte Tipps gaben und ihr eine schöne Zeit in Bangkok wünschten. Niemals fühlte sie sich dabei bedrängt oder genötigt und so erlangte sie langsam Selbstvertrauen und ein gewisses Gefühl von Sicherheit. Allmählich gelang es ihr sogar, die Schönheit der Dinge einfach zu genießen und sich ein wenig treiben zu lassen. An Hunderten von geparkten Reisebussen vorbei, gelangte sie vom Sanam Luang Platz zum Grand Palace. Im goldbunt glitzernden Wat Phra Kaeo war es ihr deutlich zu voll und zu hektisch, so brach sie ihre Besichtigung dort ab und suchte auf der Karte das nächste Ziel, den Wat Po. Ute hatte ihr aufgeschrieben, dass sie bei ausreichender Kondition ruhig das Stück zwischen den beiden Sehenswürdigkeiten zu Fuß gehen sollte. Vorbei an einem Amulett-Flohmarkt, ging sie parallel zum großen Fluss im spärlichen Schatten der jungen Alleebäume. Der Schweiß lief ihr den Nacken herunter und die Sonne blendete. Im Tempel bewunderte sie den riesigen liegenden Buddha, der reich mit filigranen Ornamenten verziert war. Auch hier drängten sich viele Menschen, im Vergleich zum Smaragd-Buddha-Tempel Phra Kaeo ging es hier jedoch ruhig und besinnlich zu. Die so ganz andere Geräuschkulisse fiel ihr auf. Hier kann man die Leute lächeln hören, dachte sie fasziniert. Auf dem Rückweg von der Toilette, die unerwartet sauber und modern war, wurde sie von einer jungen Thailänderin abgefangen.