Heliosphere 2265 - Der komplette Fraktal-Zyklus

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Sol-System, Raumstation Sol-22, Im Orbit um Neptun, 21. Januar 2266, 11:30 Uhr

Sie hatten sich bereits alle versammelt, als Juri eintraf. Präsidentin Ione Kartess' holografisches Abbild saß am Kopfende in einem der Konturensessel, in den Projektoren eingebaut waren. Admiral Zhang als dienstältestes Mitglied des Rates saß direkt neben ihr und war ebenfalls nur als Hologramm erschienen. Die übrigen Anwesenden saßen reihum – darunter Sjöberg, Pendergast und Jansen, die allesamt zur gegnerischen Riege gehörten.

»Admiral Michalew«, sagte die Präsidentin kalt, »schön, dass Sie sich auch zu uns gesellen. Ihr Adjutant hat angedeutet, dass es sich um einen Notfall handelt. Da der Außenminister in meinem Büro vermutlich gerade die Wände hochgeht, kommen wir doch am besten gleich zur Sache.«

Wie er dieses arrogante Miststück hasste! »Natürlich, Madame Präsident.« Er schenkte ihr ein perfekt einstudiertes Lächeln. »Ich fürchte, mein Adjutant hat nicht übertrieben.«

Juri ließ sich in dem ihm zugewiesenen Konturensessel nieder und loggte sich mit seinem Account in seinen persönlichen Speicher ein. Hier lagerten jene Dateien, die alles verändern sollten und die er so lange zurückgehalten hatte.

Er erinnerte sich an jenen Moment, als Doktor Irina Petrova ihm die heimlich durchgeführten Scans des Parlidenkörpers überbrachte, die sie auf der HYPERION angefertigt hatte. Nur einige auserwählte Persönlichkeiten wussten um die wahre Natur dieser Daten. Das sollte sich heute ändern.

Er gab einen Befehl in die Konsole ein, woraufhin über dem Holo-Desk die schematische Darstellung des Parlidenkörpers erschien. Am Rand waren Skalen und Datenreihen eingeblendet, die jedoch für die meisten Anwesenden keine Aussagekraft besaßen.

Während sich die Mehrheit zurücklehnte und auf seine Ausführungen wartete, beugte sich Admiral Santana Pendergast mit gerunzelter Stirn vor. »Da kann irgendetwas nicht stimmen.« Sie schüttelte den Kopf und blickte zu Juri. Als er ihren Blick gelassen erwiderte, riss sie entsetzt die Augen auf. »Nein!«

»Ich fürchte doch.«

»Es freut mich, dass Sie beide eine Möglichkeit der telepathischen Kommunikation für sich entdeckt haben«, sagte die Präsidentin giftig. »Aber ich denke, es ist an der Zeit, dass Sie uns jetzt an Ihren Erkenntnissen teilhaben lassen.« Ihr Blick durchbohrte Juri wie ein Pulserschuss.

»Was Sie hier sehen, Madame Präsident, sind die neuesten Aufnahmen des Parlidenkörpers«, sagte er dozierend. Dass die Scans bereits auf der HYPERION gemacht worden waren, verschwieg er wohlweislich, da Doktor Irina Petrova ein zu nützliches Werkzeug war, als dass er sie der versammelten Meute zum Fraß vorwerfen konnte. »Unseren Wissenschaftlern ist es gelungen, durch ein verbessertes Verfahren die Hülle zu durchdringen.«

»Die Hülle?«, echote Präsidentin Kartess.

Juri bejahte. »In der Tat handelt es sich bei der schwarz-öligen Oberfläche nicht um einen Körper, sondern um eine Rüstung, in der ein Humanoide steckt.«

Admiral Zhang bedachte Juri mit einem scharfen Blick. »Das heißt, die Parliden sehen in Wahrheit ganz anders aus?«

»Die Parliden sehen ganz genau so aus, wie wir immer dachten: Sie sind Humanoide, ihre Haut ist metallisch schwarz und glänzt ölig und ihr Kopf ähnelt einem Stern, dessen Spitzen angeschmolzen wirken. Zumindest trifft das auf die Hohen unter den Parliden zu. Die Niederen unterscheiden sich äußerlich durch einen leicht rötlichen Schimmer und ein Symbol auf ihrer Stirn. Und damit sind wir auch schon bei unserem Problem: Denn bei den Niederen, jenen Parliden, die als Sklaven für die Höheren tätig sind, handelt es sich in Wahrheit um Menschen.«

Für einige Augenblicke herrschte eine fast schmerzhafte Stille im Konferenzraum, bevor alle wie auf Kommando gleichzeitig zu sprechen begannen.

»Ruhe!«, brüllte Präsidentin Kartess. »Was zum Teufel soll das, Admiral? Sie wollen allen Ernstes behaupten, dass in dieser Rüstung ein Mensch steckt?« Sie deutete auf den Parlidenkörper.

»Die Scans lügen nicht«, sagte er. »Unter dieser schwarzen Oberfläche befindet sich ein Terraner. Und ich fürchte, es ist noch schlimmer. Sehen Sie, wir konnten bei dem Gefangenen eine neurale Aktivität feststellen; sie sind sich ihres Zustandes also bewusst. Die Wissenschaftler sind sich darin einig, dass die Parliden Menschen in diese Hüllen stecken und sie als Sklaven für sich arbeiten lassen. Die Rüstung beinhaltet eine sehr ausgereifte K.I., die alles steuert. Der Terraner im Inneren ist bei vollem Bewusstsein – er spürt, riecht und hört ganz normal; liefert die Muskelkraft und die benötigte Energie, während die integrierte künstliche Intelligenz über die Rüstung selbst alle Bewegungen kontrolliert.«

Als er geendet hatte, war die Präsidentin kreidebleich und nicht wenige Admiräle starrten ihn entsetzt an.

»Sie haben also im Verlauf des Krieges – vermutlich sogar bereits davor und auch noch danach – Gefangene gemacht, die sie in diese Rüstungen steckten«, sprach Admiral Pendergast gnadenlos aus, was alle dachten. »Wir haben bei jedem Abschuss, jedem zerstörten Schiff, unsere eigenen Leute getötet.«

»Und das waren die Glücklicheren«, sagte Isa Jansen leise.

»Habe ich Sie richtig verstanden?« Admiral Pendergast funkelte ihre Kollegin wütend an.

»Haben Sie nicht zugehört?!« Juri erlebte zum ersten Mal, dass die sonst so stille Isa Jansen laut wurde. »Diesen Gefangenen ist während der ganzen Zeit völlig bewusst, wo sie sich befinden. Sie sind da drinnen gefangen und können sich nicht eigenständig bewegen, sondern werden ferngesteuert – seit Jahrzehnten!«

»Woher wissen Sie davon, dass die Höheren keine Menschen sind?« Admiral Sjöberg massierte sich die Schläfen und sah sehr müde aus.

»Wir konnten einen Neuralchip auslesen«, sagte Juri. »Das Meiste ist verschlüsselt, doch es wurde klar, dass die Höheren in der Tat echte Aliens sind. Sie sehen so aus, wie wir immer vermuteten.

Wir konnten einige Datentabellen auslesen, die den Status des niederen Parliden als Sklave verdeutlichen, die aufzeigen, wie lange er schon gefangen ist und wie das Zusammenspiel zwischen Rüstung und Wirt funktioniert.

Einige der Auswertungen enthalten Daten, die uns einen tieferen Einblick in die Gesellschaft der Parliden geben.«

»Diese verdammten Schweine«, fauchte Admiral Zhang. »Entschuldigung, Madame Präsident.«

Kartess winkte ab. »Ich kann Sie verstehen, Yoshio. Das ist wirklich unfassbar – eine Katastrophe! Ich werde sofort die Minister zusammentrommeln. Admiral Michalew, was sagen die Wissenschaftler noch? Wie können wir diese Rüstung von dem gefangenen Menschen lösen?«

»Noch ist das nicht möglich, Madame Präsident«, sagte Juri. »Die Experten beginnen gerade erst damit, das Problem zu durchschauen. Aber diese Sklavenrüstung ist mit zahlreichen Nerven des Wirts verbunden und es bestehen direkte Verbindungen mit dem Hirn. Details können Sie dem Bericht entnehmen.

Es werden noch Monate vergehen, bis die Wissenschaftler uns eine Lösung bieten können – wenn überhaupt.«

»Dann sollte ich …«

»Ich fürchte, das war noch immer nicht alles«, sagte Juri mit belegter Stimme. »Uns ist es außerdem gelungen, die Identität der Person festzustellen, die in jener Rüstung gefangen ist, die wir gefunden haben.«

Nach einem letzten Blick in die Runde nannte er den Namen.

*

Raumstation NOVA, Alzir-System, 21. Januar 2266, 20:00 Uhr

Tess räkelte sich entspannt auf der Matratze, während Zevs Küsse ihren Nacken bedeckten und kontinuierlich tiefer wanderten. Nach all den Jahren hatte sie sich endlich daran gewöhnt, seinen neuen Namen zu benutzen, den alten nicht einmal mehr zu denken. Niemand durfte je erfahren, dass Zev noch lebte und es in der Flotte so weit gebracht hatte.

»Du bist ja unersättlich«, sagte sie verschmitzt.

»Ich hab dich ja auch verdammt lange nicht gesehen«, erwiderte er. »Wenn wir wenigstens öfter miteinander sprechen könnten.«

»Und das Risiko eingehen, dass ein übervorsichtiger Sicherheitsoffizier unsere Phasenfunk-Verbindung registriert und hinterfragt?« Sie drehte sich unter ihm auf den Rücken. »Das ist zu gefährlich.«

»Ich weiß.« Er hauchte ihr einen weiteren Kuss auf die Lippen. »Glaubst du, ich könnte es jemals vergessen? Aber lass mich doch träumen.«

»Mir geht es doch genauso.« Tess merkte, wie ihre Stimmung absackte. »Und eines Tages können wir das auch wieder. Bis dahin müssen wir uns gedulden und unsere Arbeit machen – während wir weiterhin recherchieren.«

»Apropos Arbeit«, sagte Zev. »Wir sollten uns langsam zur Kommandobrücke aufmachen. Sonst glaubt noch jemand, ich hätte dich aus der nächsten Luftschleuse geworfen.«

Sie schlüpften beide wieder in ihre Uniformen und zupften ihre Haare zurecht.

»Sieht man es mir an?«, fragte Tess.

»Was, dass du gerade heißen Sex hattest?« Zev grinste schelmisch. »Also ich sehe es dir an.« Er zwinkerte. »Aber alle anderen glauben vermutlich nur, dass du dir die Haare gerauft hast, weil ich dich so sehr geärgert habe.«

Sie kniff ihn in die Seite, worauf ein kurzes Gerangel ausbrach, das erneut in einem innigen Kuss endete.

»Wirst du Landurlaub bekommen?«, fragte Zev, während er sich ein letztes Mal die Uniform glatt strich.

»Sobald meine dilettantische Arbeit an euren hochkomplexen Sensoren abgeschlossen ist, gehe ich mir einen der berühmten Smaragdwälder auf Pearl ansehen, Sir.«

Zev lachte auf. »Gut, dann werde ich mir, nachdem ich mich lautstark über deine Arbeit geärgert habe, wohl auch einen kleinen Erholungsurlaub gönnen. Vielleicht laufen wir uns ja zufällig über den Weg.«

 

Gemeinsam verließen sie Zevs Quartier und machten sich auf den Weg zur Kommandobrücke. Als sie in den Lift stiegen, wären sie beinahe mit Alpha 365 zusammengestoßen. Flankiert von zwei Sicherheitsoffizieren, die Lieutenant Bruce Walker in der Mitte führten, stand der genetisch designte Sicherheitschef der HYPERION direkt an der Tür des Lifts. Sein Blick war – wie immer – frei von jeder Emotion, da die Wissenschaftler von Kassiopeia ihren gezüchteten Offizieren der Alpha-Linie keinen emotionalen Ballast mitgaben. Tess verspürte Mitleid mit dem armen Kerl. Ein Leben ohne Gefühle? Undenkbar!

»Ich würde es bevorzugen, wenn Sie den nächsten Lift nähmen, Lieutenant«, sagte der Alpha.

»Selbstverständlich, Sir.«

Die Lifttüren …

*

… schlossen sich und Alpha 365 war wieder allein, mit seinen Offizieren und dem Gefangenen.

Walker wirkte niedergeschlagen, seine Wut schien vollständig aufgebraucht zu sein. Er beteuerte noch immer, dass er den Torpedo nicht abgefeuert hatte, erwartete jedoch scheinbar nicht mehr, dass ihm jemand glaubte.

Alpha 365 hatte im Verlauf seiner Ausbildung zum Sicherheitschef zahlreiche Standardwerke der psychologischen Literatur studiert. Emotionale Reaktionen beruhten in allen Fällen auf anerzogenen Verhaltensmustern und charakteristischen Besonderheiten, die sich mit heuristischen Wahrscheinlichkeiten ableiten ließen. Es verwunderte ihn, dass Lieutenant Walker noch immer leugnete, etwas mit dem abgefeuerten Torpedo zu tun zu haben.

Die Beweise, die Lieutenant Commander Lorencia und er zusammengetragen hatten, waren eindeutig: Bruce Walker hatte sich in Commander Ishidas persönlichen Speicher gehackt und über diesen – unter Umgehung der Sicherheitsprotokolle – einen Torpedo auf einen angeschlagenen Parlidenraumer abgefeuert. Ein dilettantischer Versuch, die I.O. in Misskredit zu bringen.

»Eines Tages werden Sie bereuen, dass Sie mich dieser Tat beschuldigt haben«, sagte Walker. »Vermutlich hat diese Schlampe den Torpedo selbst abgefeuert.«

»Ich würde es begrüßen, wenn Sie in meiner Anwesenheit auf derart obszöne Bezeichnungen verzichten könnten«, sagte Alpha 365 gelassen. »Sollte ich mich irren und Sie sind tatsächlich unschuldig, wird ein neutrales Gericht Sie zweifellos rehabilitieren.«

Walker lachte auf. »Ach, Sie glauben, ich werde bis zu meinem Gerichtsverfahren überleben? Sie sind doch nicht so gut, wie ich immer dachte.«

»Auch ein Admiral Juri Michalew wird Ihnen hier auf der Station nichts anhaben können.« Als die Türen des Lifts sich öffneten, setzten sie sich in Bewegung. »NOVA ist eine Festung. Und neben der Stationssicherheit werden auch immer zwei meiner Männer Wache halten.«

»Sie sind tatsächlich nicht so gut, wie ich dachte.« Walker schüttelte den Kopf. »Aber das spielt keine Rolle. Sie müssen mich nicht beschützen – das könnten Sie auch gar nicht.«

Alpha 365 runzelte die Stirn, verlegte sich jedoch wieder aufs Schweigen. Irgendetwas entging ihm. Wie so oft wurde sein Unterbewusstsein aktiv, versuchte, ihm etwas mitzuteilen. Er würde warten, bis sich aus dem Instinkt ein logischer Gedanke bildete, und danach handeln – wie er es immer tat.

Schweigend setzten sie den Weg fort.

*

Raumstation NOVA, Alzir-System, 24. Januar 2266, 09:30 Uhr

Als Lieutenant Commander Akoskin zu Jayden aufblickte, wirkte er munter und ausgeruht. Der Taktikoffizier hatte seinen Aufenthalt auf Pearl sichtlich genossen und seinen Dienst vor einer Stunde, leise vor sich hin summend, wieder angetreten. Es war nicht schwer zu erraten, wie er sich die Zeit vertrieben hatte, und Jayden fragte sich einmal mehr, ob es irgendeinen Ort in dieser Galaxis gab, an dem keine Frau auf den Taktikoffizier wartete oder ihn verfluchte.

Die Kommandobrücke wirkte wie ausgestorben. Gerade mal zwei der wissenschaftlichen Stationen, die sich wie aufgereihte Perlen an der Wand entlangzogen, waren besetzt. Da sich Tess Kensington auf NOVA befand, hatte ihr Stellvertreter, Lieutenant Nurakow, den Dienst an der Ortungskonsole in der Alpha-Schicht übernommen.

Lieutenant McCall bereitete gerade die Übergabe ihrer Station vor, da sie ihren Landurlaub gleich antreten wollte, und sogar Janis Tauser hatte vor einer halben Stunde ihr gemeinsames Training abgesagt, da er ebenfalls nach Pearl geflogen war.

Seine I.O. hatte sich als Letzte in die Liste eingetragen und würde den Planeten erst übermorgen aufsuchen. Momentan befand sie sich im Maschinenraum, um irgendetwas mit Lieutenant Commander Lorencia zu besprechen. Wenn Jayden es richtig deutete, entwickelte sich eine Freundschaft zwischen den beiden Frauen, was er seiner I.O. mehr als gönnte.

Alpha 365 war wohl der geschäftigste seiner Offiziere. Noch immer verhörte er Lieutenant Walker und hatte parallel von NOVA aus einen Tiefenscann des Computerkerns der HYPERION veranlasst. Das Ergebnis war eindeutig ausgefallen: Es gab keinen bekannten Computervirus oder Trojaner im System.

Der Alpha hatte Jayden zu verstehen gegeben, dass er mittlerweile mehr denn je von einem Verräter ausging, der auf irgendeine Art mit dem ersten und zweiten Fraktal kommuniziert hatte, um die HYPERION vor dessen Einfluss zu schützen; gleichzeitig aber eiskalt dabei vorging, diese Artefakte in seine Gewalt zu bringen. Jayden wollte seinem Sicherheitschef keine Paranoia unterstellen, doch der Gedanke kam ihm einfach ein wenig zu weit hergeholt vor.

»Sir, die SE-RA-TA-LA-MU befindet sich bei Minimalgeschwindigkeit auf dem veranschlagten Vektor«, sagte Lieutenant Commander Akoskin. »Die PI-RA-SO-MA-FE aktiviert soeben ihre Traktorstrahlen, um das Schiff zu übernehmen.«

Jayden beobachtete im Holotank, wie der rentalianische Raumer das andere Schiff an sich kettete und fühlte sich unweigerlich von einer Last befreit. Damit war er nicht länger für das zweite Artefakt verantwortlich. Die Rentalianer würden es mit sich nehmen und zusammen mit dem ersten Fraktal, das nicht mehr auf dem Mars bleiben sollte, an einen geheimen Ort bringen.

»Übergabe ist abgeschlossen«, sagte Akoskin.

»Sehr gut, Commander.« Jayden war zufrieden. »Damit wäre dieses Problem für uns erledigt.« Es blieb zu hoffen, dass die Admiralität ihnen noch ein wenig Auszeit gönnte, bevor die nächsten Befehle eingingen. »Ich bin in der Sporthalle, Sie haben die Kommandobrücke.«

*

»Hast du noch mal mit ihm gesprochen?«, fragte Giulia und beobachtete ihr Gegenüber dabei genau. Noriko wirkte ein wenig angespannt, das mochte aber durchaus Einbildung sein.

»Nein. Ich wüsste nicht, was es noch zu besprechen gäbe. Er ist jetzt drüben auf NOVA und wird mit dem nächsten Schiff überführt, das zur Erde fliegt.«

»Dann ist das Kapitel also wirklich abgeschlossen?«

Noriko lächelte bitter. »Du willst wissen, ob ich innerlich in Ordnung bin? Glaub mir, Doktor Tauser hat mich mittlerweile zu drei Sitzungen antanzen lassen, weil er meine Diensttauglichkeit feststellen wollte. 'Haben Sie Schuldgefühle, Commander? Immerhin hat Walker einen Torpedo auf ein hilfloses Schiff abgefeuert, um Ihnen zu schaden', 'Können Sie gut schlafen?', 'Haben Sie Alpträume?', 'Was fühlen Sie, wenn Sie an den Lieutenant denken?' und so weiter.«

»Aber er hat dir deine Diensttauglichkeit bestätigt?«

Noriko bejahte. »Ich bin darüber hinweg und habe nicht einmal Paranoia entwickelt – das wurde mir offiziell attestiert.«

Giulia fiel ein Stein vom Herzen. Niemand hatte herausgefunden, dass sie es gewesen war, die den Torpedo manipuliert und abgefeuert hatte, um es in der Folge Lieutenant Walker in die Schuhe zu schieben. Nur so hatte sie Norikos Ansehen wiederherstellen und den verhassten Mann von Michalew loswerden können. Sie spürte kein Mitleid für den Offizier, der mit seinen radikalen Ansichten, seinen Intrigen und seiner Kaltblütigkeit beinahe Norikos Karriere ein weiteres Mal zerstört hatte. »Dann sollten wir diese leidige Angelegenheit vergessen«, sagte sie.

Sie kippte den letzten Schluck des Vitamin-Koffein-Drinks hinunter, den Lieutenant Pablo Alcazar zusammengemischt hatte. Der Techniker machte es sich zum Hobby, exotische ViKo-Geschmacksrichtungen zu kreieren. Abgesehen von zwei furchtbaren Fehlschlägen – Giulia versuchte den Gedanken an diese Variationen zu verdrängen – gelang es ihm meist recht gut. »Wann nimmst du deinen Landurlaub?«

»Wenn sich nichts verschiebt oder etwas Wichtiges dazwischenkommt, fliege ich übermorgen auf den Planeten«, sagte Noriko. »Wie sieht es bei dir aus? Kannst du deinen Urlaub abstimmen?«

»Das lässt sich machen. Mein Stellvertreter ist flexibel.« Lieutenant Boris Jegorow interessierte sich für nichts anderes als die Optimierung der Gerätschaften im Maschinenraum. Sein Beruf war seine Leidenschaft und er trieb sich sogar in seinen freien Minuten an den Konsolen herum. »Ich werde ihn sowieso dazu zwingen müssen, seinen Urlaub anzutreten. Ehrlich gesagt bin ich nicht mal sicher, ob ich ihm damit einen Gefallen tue.« Sie grinste.

»Also abgemacht«, sagte Noriko. »Du klärst das mit Boris und ich schreibe dich auf die Liste im gleichen Zeitfenster wie mich selbst.« Die I.O. schob sich ihr letztes Salatblatt in den Mund. »Wir sehen uns später. Ich muss noch zum Sicherheitschef.«

»Zum Alpha?« Giulia runzelte die Stirn. »Warum das?«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Noriko zögerlich. »Aber seitdem er Walker zur Station gebracht hat, ist er … seltsam. Er war noch ein zweites Mal drüben und hat jetzt einen Antrag für eine dritte Vernehmung gestellt.«

Mit einem Mal wurde Giulia mulmig zumute. Ahnte der Alpha etwa die Wahrheit? Immerhin behauptete Walker nach wie vor, dass er nichts mit den Ereignissen um den Torpedo zu tun hatte.

»Also, bis später«, verabschiedete sich Noriko.

Sie warf ihr Besteck samt Teller in den Rückgabeschacht.

»Bis später«, murmelte Giulia.

*

Tess rieb sich müde die Augen, als sie die Simulation zum tausendsten Mal ablaufen ließ. Die Prozentanzeige kroch förmlich über den Monitor. Vermutlich würde sie zusammenbrechen, bevor sie die Zahl Hundert erreichte.

»Wie sieht es aus, Lieutenant?«, fragte Commodore Harris. »Kommen Sie voran?«

»Ihr L.I. und ich konnten die Sensorlinsen korrekt ausrichten und die Verbindung zum Ortungsnetz der ÜL-Plattformen herstellen«, sagte Tess, während sie ihr weiteres Vorgehen überdachte. »Die Algorithmen der HYPERION sind eingespielt, aber wenn ich diese Anzeige korrekt deute, gibt es ein Problem mit der Bandbreite Ihrer Systeme.« Sie überprüfte noch einmal die Werte. »Das Ortungssystem ist nicht dazu ausgelegt, mit einer so alten Hardware zu operieren.«

»Ich verstehe.« Die Stimme von Commodore Harris klang ein wenig gekränkt.

»Ich wollte Ihr System nicht beleidigen, Sir«, stellte Tess klar. »Wir werden zweifellos eine Lösung für das Problem finden.«

Harris schwieg, worauf Tess weiterarbeitete. Der Commodore saß in seinem Konturensessel und starrte auf irgendwelche Anzeigen seiner Konsole. Ihn schien ihre Aussage zu ärgern, obgleich Tess lediglich die Fakten aufgezählt hatte. Sie mochte kommandierende Offiziere nicht, die sich derart mit ihrem Schiff identifizierten, dass sie alles, was kein Lob darstellte, als persönliche Beleidigung betrachteten.

Das Aufleuchten eines Icons erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie vergaß Commodore Harris augenblicklich. Die Sensoren, mochten sie auch noch so schlecht arbeiten, meldeten eine Signatur, die sie bereits kannte. Auf dem Weg zur NOVA-Station hatte sie das exakt gleiche Signal aufgefangen. Der interne Algorithmus hatte es – nachträglich – als Asteroid eingestuft. Sie blickte gebannt auf das Sensor-Log, während die Sekunden verstrichen, doch der Filter wurde nicht aktiv. Wie war das möglich? Die HYPERION und die NOVA-Station arbeiteten seit dem Update mit dem gleichen Algorithmus und der gleichen Sensortechnik. Was auf dem Interlink-Kreuzer aussortiert wurde, musste auch hier gefiltert werden. Doch das System verlangte von ihr eindeutig eine manuelle Einschätzung – warum?

Sie wechselte in eine andere Darstellung und veränderte die Granularität der ausgewerteten Daten. Auch auf sie wirkte das Ergebnis, als handle es sich um einen von vielen Asteroiden, die sich auf das Innere des Systems zubewegten. Irgendetwas hielt die hiesige K.I. jedoch davon ab, die Zuordnung automatisch durchzuführen. Auf die Schnelle konnte sie dieses Rätsel nicht alleine lösen und das Protokoll gab für einen solchen Fall klare Anweisungen.

 

»Sir«, wandte sie sich an Commodore Harris. »Die Sensoren empfangen eine unbekannte Signatur, die sich auf direktem Kurs in das Systeminnere befindet. Sie wird nicht als Schiff eingestuft.«

»Eine Signatur«, echote Harris. Er warf einen Blick auf seine Kommandokonsole, rief augenscheinlich die Sensordaten ab. Seine Mundwinkel verzogen sich abschätzig. »Da spielt Ihr neues System wohl ein wenig verrückt. Sollten Asteroiden und Weltraummüll nicht gefiltert werden?«

»In der Tat, Sir.« Tess nickte. »Doch die Automatik erwartet eine manuelle Bestätigung, was sehr ungewöhnlich ist. Irgendetwas an der Zusammensetzung des georteten Objektes scheint von der Norm abzuweichen; vermutlich eine Komponente der Materialzusammensetzung. Aber ohne detailliertere Analyse kann ich diese nicht benennen.«

Harris winkte ab. »Glauben Sie mir, Lieutenant, eine derartige Fehleinschätzung kam auch ab und an mit dem alten System vor. Ich verbuche das unter Kinderkrankheit. Die ÜL-Plattformen hätten uns jedwede Annäherung eines Raumschiffes mitgeteilt.«

»Falls ein solches Schiff sich nicht auf Schleichfahrt befindet und daher alle nicht lebenswichtigen Systeme abgeschaltet hat.«

Der Commodore lachte auf. »Ein derartiger Anflug würde Monate dauern.« Er winkte ab. »Das halte ich für ausgeschlossen. Und selbst wenn es anders sein sollte: Wir besitzen eines der besten Verteidigungssysteme der Flotte.«

»Aber Sir …«

»Sie scheinen uns wirklich nicht viel zuzutrauen«, fuhr ihr Harris in die Parade. »Ich denke, Ihre Arbeit hier ist sowieso beendet. Alles Weitere kann Lieutenant Hatzenberg übernehmen. Die Ortungsstation mag mit Ihrem neuen System auf dem Interlink-Kreuzer nicht mithalten können, doch ich versichere Ihnen, wir verstehen unser Handwerk.«

»Sir, ich wollte nicht …«

»Ich habe verstanden, Lieutenant!« Die übrigen Offiziere waren mit einem Mal eifrig mit ihren Konsolen beschäftigt und niemand sagte ein Wort. Harris wandte sich an Zev. »Geleiten Sie die Lieutenant bitte von der Station, Commander.«

»Mit Vergnügen, Sir.« Zev grinste hämisch, was er über die Jahre einstudiert und perfektioniert hatte.

Erneut wünschte sich Tess, dass sie nicht auf dieses leidige Schauspiel angewiesen wären. Wie sehr hätte sie Zevs Fürsprache jetzt benötigt. Sie erhob sich, verabschiedete sich mit einem abgehackten Nicken und verließ die Konsole.

*

»Er macht einen Fehler.«

Zev keuchte auf und sah sich hektisch um. »Willst du uns auffliegen lassen?!«

Tess ignorierte die Panik in seiner Stimme und fuhr fort: »Dieses Signal, ich habe es schon einmal empfangen: auf dem Weg hierher. Unser System hat es aus irgendeinem Grund automatisch im Filter verschwinden lassen, hier ist das jedoch anders. Ich glaube, es ist ein Raumschiff.«

»Warum sollte ein Raumer sich auf Schleichfahrt ins Systeminnere befinden?«

»Verdammt, Zev!« Sie versuchte sich zu beruhigen und sprach leise weiter. »Wir besitzen das zweite Fraktal, haben es gerade an einen rentalianischen Raumer übergeben. Vielleicht haben die es darauf abgesehen.«

Er schüttelte den Kopf. »Eine derartige Schleichfahrt dauert Monate. Zu diesem Zeitpunkt wusste noch niemand, dass ihr hierher kommen würdet, oder irre ich mich?

Siehst du. Es kann nichts mit dem Artefakt zu tun haben!«

»Dann ist es ein vorbereiteter Angriff der Parliden oder einer anderen Macht – Herrgott, ich habe keine Ahnung. Aber meine Instinkte sagen mir, dass etwas auf uns zukommt. Und gerade du solltest wissen, dass ich damit meist richtig liege.«

Zev atmete schwer aus. »Okay, was willst du tun? Ich glaube kaum, dass Harris dich noch einmal auf die Kommandobrücke lässt. Du hast die Station beleidigt, das ist für ihn ein Sakrileg.«

»Schalte mir eine Konsole frei.«

Zev fragte nicht weiter nach, trat an die Wand und loggte sich über seinen Kommandoaccount ins System ein.

Tess betätigte einige Icons, worauf das Gesicht einer jungen Frau mit braunen Locken erschien, die mit großen Augen in das Aufnahmefeld starrte. »Was kann ich für Sie tun, Commander? Oh, Tess! Wie kommst du an die Signatur vom I.O. der Station?«

»Hi, Sarah. Ich habe eine wichtige Nachricht für Captain Cross.« Sie berichtete ihr in Stichworten von der Sensorauswertung und ihrer Vermutung, inklusive ihres Rauswurfs von der Kommandobrücke der NOVA-Station.

»Der Captain ist gerade in der Sporthalle, Commander Ishida im Sicherheitsbüro. Akoskin ist der diensthabende Offizier. Soll ich ihm deine Vermutung weiterleiten?«

»Nein. Der Einzige, der sich mit Harris anlegen kann, ist Cross. Und davor brauchen wir Beweise. Ich überspiele dir die Sensor-Logs der Station. Suche bitte die heraus, die ich auf dem Weg zur NOVA gemacht habe. Sobald du sie überprüft hast, geh zum Captain, leg ihm beides vor und berichte ihm, was ich herausgefunden habe.«

»In Ordnung«, sagte Sarah zögerlich. »Aber warum machst du das nicht selbst?«

»Ich habe hier nur eingeschränkten Zugang zum System. Aber der L.I. der Station hat trotz seiner Sturheit begriffen, dass etwas an meiner Vermutung dran sein könnte. Ich analysiere im Maschinenraum den Algorithmus. Aus irgendeinem Grund hat der die Signatur anders eingeschätzt als unser System. Ich muss herausfinden, woran das liegt.«

»Okay. Ich gebe dir Bescheid, sobald ich mit dem Captain gesprochen habe.«

»Danke, Sarah.«

»Kein Ding. Wozu sind Freunde da?« Sie lächelte und beendete die Verbindung.

»Ich hoffe, du weißt, was du tust. Wenn du Schwierigkeiten bekommst, wird auch deine Freundin mit drinhängen«, sagte Zev. »Harris ist ein Commodore. Der kann deinem Captain die Hölle heiß machen. Lieutenant McCall wirkt auf mich nicht so, als würde sie es gut wegstecken, wenn ihr kommandierender Offizier sie daraufhin zusammenfaltet.«

»Sarah passiert nichts«, erwiderte Tess überzeugt. »Sie hat da so eine Art, mit ihren großen Augen zu kommandierenden Offizieren aufzusehen, die sie wie ein Schild vor sich herträgt. Glaub mir, die weckt noch jeden Beschützerinstinkt. Hat uns auf der Akademie oft geholfen, wenn wir in Schwierigkeiten gerieten.« Auf Zevs fragenden Blick fügte sie hinzu: »Wir waren im gleichen Jahrgang.«

»Weiß Sie …«

»Natürlich nicht!«

»Gut, ich gehe zurück zur Kommandobrücke. Verschwinde du in den Maschinenraum, aber mach um Gottes willen keinen Ärger! Ich sorge dafür, dass der L.I. dir ein Gast-Account freischaltet. Beschränke dich aber aufs Recherchieren. Harris sollte nicht erfahren, dass ich dich frei auf der Station herumlaufen lasse. Wenn er sich wieder etwas abgekühlt hat, bist du als Besucherin, die ihre Freizeit hier verbringt, wieder willkommen. Er wird schnell sauer, aber das verraucht auch ebenso schnell wieder.« Mit diesen Worten wandte er sich um und kehrte zurück zur Kommandobrücke.

Tess sah ihm nach, bis er um die Gangbiegung verschwunden war. Sie hatte ein ganz mieses Gefühl.

*