Heliosphere 2265 - Der komplette Fraktal-Zyklus

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Auf den Gesichtern der übrigen Brückencrew spiegelten sich die unterschiedlichsten Emotionen wider. Scham, Stolz, Freude.

»Ma’am, ich habe soeben das Signal des Kurierbootes verloren«, meldete Lieutenant Kensington. »Ein Teil der Parlidenflotte hat es abgefangen.«

Das Hochgefühl verpuffte. Kuriere hatten den Befehl, alle sensiblen Daten aus dem Computer zu löschen und im schlimmsten Fall das Boot zu zerstören, damit der Feind bei einer Enterung an keinerlei Informationen gelangte. Im vorliegenden Fall vermutete sie jedoch eher, dass die Parliden es schlicht und einfach abgeschossen hatten.

»Gibt es eine Rettungskapsel?«

Ein hektisches Blinken auf Kensingtons Konsole zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie hob die Arme in einer entschuldigenden Geste. »Das kann ich nicht sagen, unsere Sensorplattform wurde gerade vernichtet. Die Parliden sind uns auf den Fersen.«

Vor ihrem inneren Auge sah Noriko Fähnrich Tobias Feldmann. Immer ein Lächeln auf dem Gesicht; die Haare so verwuschelt, als hätten sie noch nie einen Kamm gesehen. Ständig dem aktuellen Trend folgend, wechselte er seine Kontaktlinsen täglich, wodurch seine Augen mal gänzlich schwarz waren, mal violett schimmerten. Er hatte sich um den Kurierdienst gerissen, wollte selbst einmal einen solch wichtigen Einsatz durchführen. Sie blickte auf den Holotank, sah jedoch nur sein lachendes Gesicht. Warum erinnerte man sich immer an das Lachen?

*

IL HYPERION, Bereitschaftsraum des Captains, 16. Januar 2266, 12:00 Uhr

»Das war knapp, Commander. Verdammt knapp.« Jayden dachte mit Schrecken daran zurück, wie nahe ihnen die verfolgenden Parlidenraumer gekommen waren. In buchstäblich allerletzter Sekunde konnte die HYPERION den Interlink-Antrieb aktivieren und entkommen.

Mittlerweile hatte er Ishidas Bericht gelesen.

»Es war eine abenteuerliche Mission«, erwiderte seine Stellvertreterin. »Wie Sie wissen, hatte ich in der Vergangenheit oft mit problematischen Offizieren zu tun. Aber was Walker hier getan hat, ist einfach unvorstellbar.«

Jayden schloss Ishidas Abschlussbericht und deaktivierte seine Konsole. Es tat gut, wieder an Bord seines Schiffes zu sein. Die Rentalianer hatten ihren Horchposten vernichtet, bevor sie durch die Transmitter verschwunden waren. Ein Shuttle hatte Jayden an Bord geholt und sie waren den Parliden knapp entkommen. Ohne die Antimateriebombe, die neben dem gesamten Planeten auch alle Orbitalforts und die angedockten Schiffe mit in den Untergang gerissen hatte, wäre diese Flucht nicht so glimpflich verlaufen.

»Ich habe mir den Bericht von Alpha 365 durchgelesen«, sagte Jayden. »Walker hatte aufgrund seines Status als sekundärer Taktikoffizier Zugang zum Hauptcomputer. Doch es hätte ihm nicht möglich sein dürfen, auf Ihre Konsole zuzugreifen. Wir haben seine Computerkenntnisse wohl unterschätzt – ebenso wie seinen Hass gegen Sie. Aber bei den vorliegenden Beweisen wird er sich nicht mehr herausreden können. Das Kapitel Walker ist erledigt. Und immerhin hat diese Angelegenheit auch etwas Gutes.«

»Sir?«

»Wir sind einen von Michalews Leuten los. Und Sie haben vor allen deutlich gemacht, dass Sie sich nichts gefallen lassen. Nach dieser Sache dürften Sie vorerst Ruhe haben.«

»Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Walker war nicht der einzige Mann, den Michalew an Bord geschleust hat, da bin ich sicher. Aber durch eine Anklage gegen den Lieutenant wird die Angelegenheit ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Einstweilen hält der Admiral also hoffentlich die Füße still. Das gibt mir Zeit, meinen Stand zu festigen.« Ishida lächelte. »Insofern haben Sie recht: Seine absolut dämliche Aktion hatte auch etwas Gutes.«

»Das erwähnen Sie in Ihrem Bericht natürlich besser nicht.« Jayden zwinkerte ihr zu. »Die Admiralität wird sowieso genug zu tun haben, die Daten auszuwerten, die wir beim Durchflug des Systems gesammelt haben.«

»Glauben Sie, die Vermutung der Rentalianer trifft zu? Gibt es dort Gefangenenlager?«

Jayden nahm sich einige Sekunden Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Dann erwiderte er: »Uns ist nie in den Sinn gekommen, dass die Parliden Gefangene machen könnten. Das widerspricht allem, was wir über sie wissen. Sie zerstörten aufgebrachte Schiffe meist vollständig.« Er zögerte.

»Aber?«

»Wer kennt nicht die Geschichten über Kolonien, die den Parliden in die Hände fielen und die nach der Rückeroberung entvölkert waren; Rettungskapseln, die nie gefunden wurden; Schiffe, die spurlos verschwanden.«

»Ein schlimmer Gedanke.« Ishida schluckte. »Aber dann hätten die Parliden seit Jahrzehnten Gefangene gemacht. Und nicht nur menschliche.«

»Der Geheimdienst wird unsere Berichte sehr genau lesen und die Sensorendaten genau analysieren. Warten wir ab, was dabei herauskommt. Ich nehme an, man wird die Rentalianer bitten, auch ihre Daten zur Verfügung zu stellen.«

Ishida nippte vorsichtig an ihrem heißen Vitamin-Koffein-Drink. »Die werden sich vor Hilfsbereitschaft überschlagen. Immerhin suchen sie diese Beweise bereits seit langer Zeit.«

»Ich hoffe ehrlich gesagt, dass sie sich über diese gesamte Zeit geirrt haben. Doch einstweilen können wir nur warten. Aber kümmern wir uns wieder um die unmittelbaren Herausforderungen«, sagte Jayden. »Die Admiralität gab uns neue Befehle. Wir bringen das angekoppelte rentalianische Schiff zur NOVA-Raumstation.«

Noriko runzelte die Stirn. »Halten Sie das für eine gute Idee, Sir? Die Station liegt im Machtgefüge der Völker sehr exponiert.«

In Gedanken stimmte Jayden seiner Stellvertreterin zu. Genau dieses Argument hatte er vor Admiral Sjöberg angebracht. Aufgrund ihrer exponierten Lage im Dreivölker-Dreieck – die Station lag genau zwischen dem Raum der Parliden, der Menschheit und der ehemaligen Grenze der Rentalianer – war sie leicht angreifbar.

Sjöberg hatte die ausgezeichnete Bewaffnung der Station sowie die Nähe zum rentalianischen Raum als Gegenargument eingeworfen.

»Ein rentalianisches Schiff ist bereits auf dem Weg, um uns dort zu treffen«, wandte sich Jayden an Ishida. »Bis sie eintreffen, dürfen wir die SE-RA nicht betreten. Nicht, dass irgendjemand auf eine solch hirnrissige Idee käme. Die Rentalianer nehmen das Schiff in Empfang und bringen das Artefakt zu einem geheimen Ort.«

»Es wird nicht zum Mars verlegt?«

Jayden schüttelte den Kopf. »Der Mars ist nicht sicher genug. Irgendjemand in der Admiralität hat nach dem Mars-Debakel wohl begriffen, dass das Fraktal zu gefährlich ist. Welch eine Überraschung. Manchmal frage ich mich, ob irgendjemand meine Berichte wirklich liest. Man wird beide Teile an einen anderen Ort bringen.«

»Wir spielen also Bote?«

»Ich denke, so kann man es zusammenfassen.« Jayden aktivierte die Holoprojektoren in seinem Schreibtisch, worauf die schematische Zeichnung der HYPERION mit der angekoppelten SE-RA erschien. »Ich werde deutlich besser schlafen, wenn wir das Ding los sind.«

»Da geht es mir ähnlich, Sir.«

Der sanfte Dreiklang des Türschotts ertönte. Jayden warf einen kurzen Blick auf die ID des Besuchers, dann gab er die Tür frei.

»Sir«, grüßte ihn Alpha 365.

»Was kann ich für Sie tun, Commander?«

Der Sicherheitschef trat bedächtig näher. Seine blonden Haare waren wie immer streng nach hinten gelegt. Sein Gesicht glich in seiner Emotionslosigkeit einer Maske. »Ich würde gerne unter vier Augen mit Ihnen sprechen, Sir.«

»Wir sind so weit fertig, Commander?«, wandte Jayden sich an Ishida.

»Das sind wir, Sir. Commander Akoskin hat die Brücke. Ich ziehe mich für heute zurück.« Sie erhob sich und verließ den Bereitschaftsraum.

Alpha 365 wartete, bis das Schott sich hinter Ishida geschlossen hatte. »Im Verlauf der Untersuchung zu Lieutenant Walkers Vergehen habe ich einige beunruhigende Entdeckungen gemacht, Sir.«

»Davon steht gar nichts in Ihrem Bericht. Setzen Sie sich doch bitte.«

Alpha 365 nahm Platz. »Das tut es in der Tat nicht, Sir. Und dafür gibt es Gründe. Im Zuge der Ermittlungen besah ich mir die System-Logs des Schlachtverlaufs. Hierbei entdeckte ich etwas Sicherheitsrelevantes.«

Jayden war immer wieder verblüfft darüber, wie emotionslos sein Sicherheitschef Probleme verbal artikulierte. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, wäre ihm ein ums andere mal der Gedanke gekommen, dass der Alpha in Wahrheit ein Androide mit einer menschlichen Maske sei. »Um was genau handelt es sich dabei?«

»Kurz bevor das rentalianische Schiff seine Energie verlor, wurde mittels Phasenfunk ein Signal dorthin gesendet.«

Der Lieutenant Commander schwieg, während Jayden ihn anstarrte. »Kann es sich dabei um einen Kontaktversuch durch Lieutenant McCall handeln?«

Ein Kopfschütteln. »Das Signal war verschlüsselt und wurde nicht über eine Brückenkonsole versendet. Das hat allerdings nichts zu heißen, denn der Absender könnte es intern weitergeleitet haben. Oder es gibt keinen Absender und wir haben es hier mit etwas ganz anderem zu tun.«

»Nämlich?«

»Durch die Ereignisse auf dem Mars müssen wir davon ausgehen, dass das Artefakt über weite Strecken kommunizieren kann. Möglicherweise hat es einen Datensatz in unsere Datenbank geschleust. Dieser könnte für den Funkimpuls verantwortlich sein.« Der Alpha legte den Kopf leicht schief. »Ich empfehle eine Reinigung des Computerkerns, sobald wird die NOVA-Station erreicht haben.«

Es wunderte Jayden nicht, dass sein Sicherheitschef die neuen Einsatzbefehle bereits kannte. Vermutlich gab es nichts an Bord, was er nicht wusste. »Das werde ich auf jeden Fall veranlassen.«

 

»Doch wir müssen ebenso von der Möglichkeit eines Verräters an Bord ausgehen.«

Jayden zuckte bei den Worten innerlich zusammen. Der Gedanke, dass ein Offizier der Space Navy gegen die Interessen der Solaren Union und dieses Schiffes handelte, war absurd. »Ich stimme Ihnen zu, obgleich ich eher an eine Korrumpierung des Systems glaube. Wie sollte ein Verräter die Energie auf der SE-RA deaktivieren?«

»Der Funkimpuls war nicht an die Besatzung oder den Computerkern der SE-RA-TA-LA-MU gerichtet«, korrigierte Alpha 365. »Die Signatur der Übertragung entsprach dem Signal, das auf dem Mars von dem Artefakt ausging. Das Artefakt wurde angefunkt, nicht das Schiff.«

»Aber niemand weiß, was es für ein Artefakt ist!« Jayden schlug mit der Hand auf die Tischplatte. »Selbst wenn es an Bord einen Spion geben sollte, von wem wurde er gesandt? Dieses Fraktal arbeitet mit einer Technologie, die fortschrittlicher, aber auch fremdartiger ist als alles, was wir bei anderen Völkern gesehen haben.«

»Und warum sollte eine solche Spezies nicht dazu in der Lage sein, einen Menschen zu beeinflussen, zu kopieren, zu erpressen oder die Gestalt eines Menschen anzunehmen?«

Jayden lachte auf. »Entschuldigen Sie meine deutlichen Worte, aber das klingt für mich ein wenig paranoid. Außerdem: Wozu sollte diese ganze Aktion denn dienen?«

»Das weiß ich nicht, Sir. Zum jetzigen Zeitpunkt gehe ich von einem Trojaner in unserem Computerkern aus. Trotzdem werde ich – mit Ihrer Erlaubnis – in alle Richtungen ermitteln.«

»Tun Sie das«, stimmte Jayden zu. »Und was auch immer Sie finden: Setzen Sie sich zuerst mit mir in Verbindung. Dann ergreifen wir weitere Maßnahmen. Bis dahin zu niemandem ein Wort. Ich möchte eine Hexenjagd an Bord vermeiden.«

»Natürlich, Sir.«

»Gut. Halten Sie mich auf dem Laufenden. Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich habe eine dringende Verabredung auf der Krankenstation.«

Der Alpha nickte kurz, dann verließ er den Bereitschaftsraum. Jayden hätte das nun Kommende gerne noch hinausgezögert, doch das war sinnlos. Irgendwann musste er sich der Wahrheit stellen. Er deaktivierte seinen Holo-Desk und machte sich auf, um Doktor Petrova zu treffen.

*

Legat 2 wagte es nicht, auf die Außenkameras zuzugreifen. Wie gerne hätte er ein Bild des rentalianischen Schiffes gesehen, auf dem der zweite Teil des Artefaktes verstaut war. Zwar hatte der Plan nicht exakt wie berechnet funktioniert, doch das vorliegende Ergebnis musste genügen.

Eine weitere Provokation gegen die Abtrünnigen war erfolgt. Zudem war eine ihrer Basen zerstört worden und die Menschheit besaß weiteres Aufklärungsmaterial. Zweifellos würde der Geheimdienst dies sehr interessant finden.

Legat 2 massierte sich die Schläfen. Es galt, so viele Bereiche im Blick zu behalten, so viele Dinge in Bewegung zu setzen, so viel zu koordinieren. Je näher die Vollendung des Plans rückte, desto achtsamer galt es vorzugehen. Ein kleiner Fehler konnte unabsehbare Folgen haben. Nicht auszudenken, wenn ein solcher Fehler generationenlange Planungen zunichtemachte.

Die Rentalianer würden den zweiten Teil des Artefaktes nun abholen und mit dem ersten Teil der Menschen verbinden. Damit war die Einheit fast vollständig. Nur noch ein Fragment verblieb.

Legat 2 lächelte. Die Menschheit war leicht zu manipulieren. Die passenden Informationen an den richtigen Stellen konnten so viel in Gang setzen. Leider hatte Legat 2 Michalew anscheinend falsch eingeschätzt. Der Admiral reagierte bisher nicht wie vorgesehen. Andererseits verblieb noch ein wenig Zeit, wenn die Daten sich als korrekt herausstellten. Die Handflächen von Legat 2 wurden feucht. Bald war es soweit. Alles war in Position gebracht. In wenigen Tagen ging es los. Auf der NOVA-Station würde der Anfang vom Ende beginnen.

*

Gemeinsam standen sie auf dem Beobachtungsdeck und genossen die Aussicht. Lieutenant Commander Giulia Lorencia spürte einen Hauch schlechten Gewissens, als sie an ihren Stellvertreter dachte. Der musste die momentane Arbeit für die nächsten Stunden alleine bewältigen. Andererseits hatte sie sich eine Auszeit verdient.

»Gleich ist es soweit«, sagte Noriko und blickte auf ihr Chronometer. »Jetzt.«

Ein Wabern ging durch die Interlink-Blase, dann fiel das Feld in sich zusammen. Der Anblick war atemberaubend.

Aufgrund der enormen Geschwindigkeit falteten sich die Raumdimensionen zu einem engen Tunnel zusammen. Die sichtbaren Sternbilder wurden verzerrt dargestellt. Die HYPERION stellte den Mittelpunkt eines Tunnels dar, in den von beiden Seiten Licht einströmte. Hierdurch änderte sich die Farbe der Sterne. Jene vor dem Schiff unterlagen einer Blau-, die dahinter einer Rotverschiebung.

»Es war eine ausgezeichnete Idee, hierher zu kommen«, sagte Giulia. »Quasi zur Feier des Tages.«

»Was meinst du?«

»Na, was meine ich wohl?!« Sie musste über Norikos unbedarften Gesichtsausdruck lachen. »Mit seiner Aktion hat sich Walker ins Abseits manövriert und du bist aus dem Schneider. Die Stimmung an Bord ist ziemlich schnell umgeschlagen.«

»Ich kann nicht gutheißen, was er getan hat. Er wollte ein kampfunfähiges Schiff zerstören! Aber du hast recht, für mich hat sich alles zum Guten gewendet. Dieser zermürbende Kleinkrieg mit Michalew hätte mich über kurz oder lang in die Paranoia getrieben. Ganz ehrlich, ich habe schon hinter jeder Ecke einen von Michalews Leuten gesehen. Ich hoffe, dieses Kapitel ist jetzt erst einmal abgeschlossen. Von dieser Schlappe wird er sich nicht so schnell erholen.«

Giulia lachte laut auf. »Also ich hoffe, du vermutest nicht hinter jedem einen von Michalews Leuten.« Wieder regte sich das schlechte Gewissen in ihr, als sie Noriko anlächelte.

»Natürlich nicht. Ich bin dir wirklich dankbar für deine Hilfe beim Aufspüren des Manipulators. Ich traue Alpha 365 viel zu, aber ohne deine Kenntnisse hätte Walker vielleicht gewonnen. Es war einfach etwas viel in letzter Zeit.«

»Das verstehe ich.« Und genau deshalb war es ja auch so wichtig, dass dieser Torpedo abgefeuert wurde, dachte sie. Und wieder der Stich.

Warum nur hatte sie ein schlechtes Gewissen? Walker war ein Arschloch, der es nicht anders verdient hatte. Niemand würde ihm seine Unschuldsbeteuerungen glauben. Die einzige Person, die die Wahrheit kannte, war sie selbst. Und sie würde sicher nicht zu Captain Cross marschieren und ihm gestehen, dass sie Norikos Konsole gehakt, den Torpedo abgeschossen und ihn zur Detonation gebracht hatte. Walker war außer Gefecht, Norikos Ansehen wiederhergestellt und Michalew hatte eine Schlappe erfahren. Wenn das kein Grund zum Feiern war.

»Was sagen denn deine gut unterrichteten Quellen über die Stimmung an Bord?«, fragte Noriko und riss sie damit aus ihren Gedanken.

»Du hast im Kampf gegen das Parlidenschiff ganz schön Punkte gutgemacht«, erwiderte Giulia. »Und dass du Walker auf der Brücke mit dem Pulser bewusstlos geschossen hast, kam auch gut an.«

»Wirklich?!« Noriko riss überrascht die Augen auf.

»Ach, den konnte doch keiner leiden.« Giulia grinste. »Und du hast dich an jedem Punkt an die Regeln gehalten.«

»Regeln sind wichtig.«

Und doch müssen sie manchmal gebrochen werden. »Absolut«, sagte Giulia. »Und solange du so weitermachst, hast du den Rest der Crew bald in der Tasche.« Sie zwinkerte.

Noriko wirkte trotz der zurückliegenden Schlacht ausgeruht und leuchtete von innen heraus. Jeder konnte ihr ansehen, dass sie bester Laune war. Und genau so sollte es sein.

Giulia dachte an jenen Moment zurück, als sie die Manipulationen vorgenommen hatte. Das Kribbeln, das ihren gesamten Körper durchzog, die Angst entdeckt zu werden, und dann das Hochgefühl, damit durchgekommen zu sein. Es hatte sich angefühlt wie in alten Zeiten. Der Zweck heiligte eben doch die Mittel, wie sie immer wieder feststellte. Sollte ihre Tat jemals auffliegen, würde sie sich in einer Zelle wiederfinden, so viel war sicher. Das allerdings würde nicht passieren. Im Gegensatz zu Walker hatte sie ihre Spuren gut verwischt. Immerhin war es nicht das erste Mal. Sie besaß ausreichend Erfahrung.

Ein Blick in Norikos Gesicht zeigte ihr, dass sie auch dieses Mal die richtige Entscheidung getroffen hatte. Das Gute musste einfach ab und an gewinnen.

Giulia nippte an ihrem ViKo und fühlte sich einfach fantastisch. Während die HYPERION bei gleichbleibender Beschleunigung durchs All raste, um Energie aus der dunklen Materie zu extrahieren, genossen sie weiter den Ausblick, der sich vom Beobachtungsdeck bot. Schweigend, lächelnd, zufrieden.

*

IL HYPERION, Krankenstation, 16. Januar 2266, 13:30 Uhr

Doktor Irina Petrova war eine Frau, der es oft an Feingefühl mangelte. Sie war kompetent, aber auch ruppig und undiplomatisch. Als sie jetzt auf Jayden zutrat, dominierte ein Ausdruck tiefster Beunruhigung ihr Gesicht. In ihren Händen hielt sie ihr persönliches Memopad.

Jayden saß auf einer der Untersuchungsliegen und wurde mit jedem Schritt, den die resolute Ärztin auf ihn zutrat, unruhiger. Direkt vor ihm hielt sie inne und bedachte ihn mit einem bedeutungsschweren Blick.

»Die Auswertungen haben etwas gedauert, Sir, aber ich fürchte, unsere Vermutungen treffen zu – wenn auch auf eine andere Art, als bisher gedacht.« Doktor Petrova betätigte ein Icon auf ihrem Pad, worauf der kleine Holotank neben der Krankenliege zum Leben erwachte. Eine Darstellung von Jaydens Gehirn erschien darin. Die einzelnen Bereiche unterschieden sich durch Farbmarkierungen.

»Anders als gedacht? Inwiefern, Doktor?« Jayden versuchte, aus der Anzeige schlau zu werden, doch ihm sagten weder die farblich abgestuften Bereiche noch die Markierungen etwas.

Petrova zoomte mit einer geübten Handbewegung jenes Areal heran, in dem sich sein Chip befand. Eingebettet in ektodermales Gewebe sah er genauso aus wie beim letzten Mal, als Jayden einen holografischen Scan seines Gehirns gesehen hatte.

»Beginnen wir mit den guten Nachrichten«, sagte Doktor Petrova und setzte ein Lächeln auf, das so gar nicht zu ihr passen wollte. »Die Funktionen des Chips sind nicht beeinträchtigt. Ebenso ist die Datenstruktur intakt.« Sie machte eine Pause, blickte noch einmal auf ihr Memopad und straffte die Schultern. »Leider gibt es ein Problem mit der bioneuralen Schnittstelle.« Sie zoomte die entsprechende Stelle heran. Winzige Fäden verbanden den Chip mit diversen Nervenknoten des Hirns. »Wie Sie vermutlich wissen, werden die Kontaktfäden des Kommandochips mittels Nanotechnik an die Nerven gekoppelt. Durch einen entsprechenden Funkimpuls lösen diese bei Bedarf diese Kopplung. Was immer auf dem Mars geschehen ist, hat diese Entkoppelungsfunktion zerstört. Die Naniten haben die Kontaktfäden nun sogar mit den Nerven verschmolzen.« Sie machte eine bedeutungsschwere Pause.

»Sie wollen damit sagen, dass der Chip nicht entfernt werden kann?«

Doktor Petrova nickte. »Er funktioniert tadellos, doch er kann nicht mehr extrahiert werden. In der Regel geschieht dies durch die Zufuhr spezieller Naniten, die in der Lage sind, die Blut-Hirn-Schranke zu passieren. Diese zersetzen den Chip, und seine Reste werden über die Blutbahn abtransportiert. Als ich versuchte, einen Nanitenstamm einzuschleusen, der die Kontaktfäden ihres Chips entfernen und ersetzen sollte, konnte ich keinen Erfolg feststellen. Im Gegenteil erlebte ich einen kolossalen Fehlschlag: Die Naniten wurden von ihren Chip-Pendants vollständig zerstört.«

Jayden erinnerte sich an das Chaos auf dem Mars, das von dem Artefakt ausgelöst worden war. »Haben Sie Ihre Untersuchungsergebnisse bereits an die Admiralität weitergeleitet?«

Petrova nickte. »Das habe ich, Sir. Man hat damit begonnen, jeden Kommandooffizier zu untersuchen, der sich im Einflussbereich des Artefakts befand. Doch bisher waren alle Ergebnisse negativ. Aus irgendeinem Grund ist nur Ihr Chip beeinflusst worden. So wie auch nur Sie die Koordinaten des nächsten Artefakts kannten.«

»Und vergessen Sie nicht meine plötzlichen Kenntnisse über die Schriftsprache der unbekannten Erbauer des Artefaktes.«

»Der Speicher des in den Kommandochip integrierten Translators wurde mit neuen Datensätzen gefüllt«, bestätigte Petrova. »Unnötig zu erwähnen, dass keine Kopie davon angefertigt werden kann. Ich fürchte, Sie werden bald sehr viel Zeit mit den Linguisten an Bord verbringen, um manuell die Syntax und Semantik dieser fremden Sprache zu dokumentieren.«

 

Jayden graute es schon jetzt davor. Was ihn jedoch viel mehr beunruhigte, war die Verschmelzung seines Chips mit seinem Hirn. Wer konnte schon sagen, was dieses verdammte Artefakt noch angestellt hatte?

»Doktor«, Jayden räusperte sich, »ich weiß, die Frage mag seltsam erscheinen, aber der Chip ist doch nicht in der Lage, mich zu kontrollieren?«

Petrova lachte auf. »Ich versichere Ihnen, Captain, ein solches Szenario ist völlig abwegig. Als die Chips eingeführt wurden, machten sich viele Kommandooffiziere darüber Sorgen, dass sie durch diese ferngesteuert werden könnten, man ihre Gedanken darauf speichern oder ihnen Erinnerungen einpflanzen würde. Das alles ist nicht möglich. Die Verbindung zwischen Chip und Hirn ist unidirektional. Sie können auf die Daten des Chips zugreifen, der Chip kann jedoch keine Daten von sich aus senden. Zudem besteht überhaupt kein Zugriff vom Chip zu höherwertigen Funktionen des Hirns. Machen Sie sich darüber also keine Sorgen.«

»Wenigstens etwas. Also gut, Doktor, was werden wir tun? Ich will diesen Chip aus meinem Hirn heraus haben, und zwar lieber heute als morgen.«

»Einstweilen können wir nichts tun. Und solange ich die genaue Reaktion der Naniten nicht voraussagen kann, werde ich auch auf einen chirurgischen Eingriff verzichten.« Doktor Petrova wirkte bei diesem Geständnis nicht gerade glücklich. »Ich werde in nächster Zeit mit verschiedenen Nanostämmen experimentieren. Doch bis ich eine Möglichkeit gefunden habe, die Barriere zu umgehen, werden Sie mit dem Chip leben müssen.«

Jayden freute sich schon auf die Diskussion mit Admiral Sjöberg, der seinerseits die übrige Admiralität davon überzeugen musste, dass sich der Kommandant der HYPERION nicht über Nacht in eine tickende Zeitbombe verwandelt hatte.

»Ich verstehe. Danke, Doktor.«

Jayden verließ die Krankenstation. Er brauchte einige Minuten allein. Von Anfang an hatte er den verdammten Chip verabscheut. Es gab genug andere Möglichkeiten, Alpha-Dateien und Kommandocodes zu schützen. Aber nein, die Admiralität hatte der Empfehlung des Komitees zur sicheren Datenspeicherung von militärisch sensiblen Dateien nachgegeben und die Chips eingeführt. Vielleicht sollte er ein persönliches Gespräch mit dem Komiteevorsitzenden führen. Jayden atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen.

Doktor Petrova würde eine Möglichkeit finden, den Chip wieder abzukoppeln, daran bestand kein Zweifel. Die Frau mochte ja ein wenig barsch sein, ihre Kompetenz stand jedoch außer Frage. Bis dahin würde er sich mit der Situation arrangieren. Nicht, dass er eine Wahl gehabt hätte.

*