Heliosphere 2265 - Der komplette Fraktal-Zyklus

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Raumstation SOL-22, Im Orbit um Neptun, 13. Januar 2266, 21:00 Uhr

»Ich hoffe, es ist verdammt noch mal wichtig!«, fluchte Admiral Santana Pendergast, als sie den Raum betrat.

Seine Kollegin wirkte zerzaust, was Björn unweigerlich schmunzeln ließ, war sie doch sonst immer wie aus dem Ei gepellt. »Ich fürchte, das ist es«, sagte er. »Es gibt beunruhigende Neuigkeiten von Captain Cross.«

Pendergast nahm Platz und strich sich die Uniform glatt. »Das ist in letzter Zeit recht häufig der Fall, wie mir scheint.«

Björn verzichtete auf eine Antwort. Die Admiralin mochte sich nach außen hin ruppig und skeptisch geben, doch momentan unterstützte sie seinen Kurs und damit die aktuelle Crew der HYPERION, was von unschätzbarer Bedeutung war. Weitaus bedeutender, als sie bisher ahnte.

Die Plätze um den Tisch füllten sich nach und nach. Einige Admiräle traten ein, andere materialisierten sich als Holo-Projektionen. Als einer der Letzten erschien auch Michalew.

Der Führer der Hardliner, und damit Björns erbitterter Gegner, wirkte seltsam abwesend. Tiefe Falten durchzogen das Gesicht des 56-jährigen. Sein braunes Haar war licht; die eisgrauen Augen strahlten nicht so energiegeladen wie sonst, sondern blickten trüb in die Runde.

An der Stirnseite des ovalen Tisches erschien das Hologramm von Admiral Zhang. Als dienstältester Admiral war er der offizielle Leiter der Space Navy und konferierte täglich mit der Präsidentin. Obwohl die meisten Fachentscheidungen von den jeweils zuständigen Admirälen getroffen wurden, kam es auch immer wieder zu demokratischen Abstimmungen. Gerade politisch wichtige Entscheidungen wurden so getroffen, da niemand alleine verantwortlich sein wollte.

Die Space Navy wird immer mehr zu einem politischen Organ, stellte Björn einmal mehr abfällig fest. Es blieb zu hoffen, dass diese Zusammenkunft nicht in eine stundenlange Diskussion ausartete.

»Admiral Sjöberg, Sie haben dieses Treffen einberufen. Sie haben das Wort.«

Björn erhob sich. »Danke, Admiral. Ich fasse mich kurz, da die Zeit drängt. Um 22:15 Solarer Standardzeit erhielt ich eine Nachricht von Captain Cross. Er befindet sich aktuell auf Rental IV, in Gesellschaft des Obersten Rudelführers der Rentalianer. Es stellte sich heraus, dass es im dortigen System in der Tat ein weiteres Artefakt gibt. Es wirkt auf die Rentalianer jedoch anders als auf uns Menschen. Es beeinflusste die Crew eines Schiffes, worauf diese eine Antimateriebombe stahl und davonflog.«

»Damit können die einen Planeten ausradieren!«, sagte Isa Jansen entsetzt. »Gibt es Hinweise auf ihr Ziel? Besteht Gefahr für die Solare Union?«

Björn schüttelte den Kopf. »Zweifellos werden sie sie einsetzen, doch ihr Vektor deutet nicht in unsere Richtung. Captain Cross ist es gelungen, das wahrscheinliche Ziel ausfindig zu machen.«

»Das da wäre?«, wollte Zhang wissen.

»Das Schiff hat Kurs auf den Parlidenraum gesetzt. Es steuert auf ein System zu, über das wir bisher kaum Aufklärungsdaten besitzen. Die HYPERION hat unter dem Kommando von Commander Noriko Ishida die Verfolgung aufgenommen.«

Er hatte sie gesagt, die magischen Worte. Admiral Michalews Kopf fuhr in die Höhe, den Blick auf Björn gerichtet wie ein Raubtier, das seine Beute taxierte. Doch überraschend schnell glättete sich Michalews Stirn und er wandte den Blick ab.

»Aktuell befindet sich die HYPERION noch im Raum der Rentalianer und damit innerhalb der Phasenfunk-Relaiskette«, sprach Björn weiter. »Doch in einigen Stunden wird dies nicht mehr der Fall sein. Wir müssen uns für ein Vorgehen entscheiden. Kommandantin Ishida benötigt klare Befehle.«

»Ihre Empfehlung, Admiral Sjöberg?« Zhang wirkte nach außen hin gelassen, doch das tat er immer. Björn hatte ihn als einen Mann schneller Entscheidungen und klarer Worte kennengelernt.

»Sie soll das Schiff verfolgen und vernichten, bevor es die Bombe einsetzen kann. Andernfalls werden die Parliden umgehend einen Vergeltungsschlag gegen die Rentalianer führen. Unser Beistandsabkommen würde uns in diesem Fall dazu verpflichten, den Rentalianern zu helfen. Ich muss nicht sagen, worauf das hinauslaufen könnte.«

»Und was ist, wenn die Parliden unsere Intervention nicht als Hilfe ansehen, sondern als Angriff?«, fragte Admiral Pendergast. Wie immer suchte sie die Schwachstelle der Empfehlung und hinterfragte das Vorgehen – sie spielte den Advocatus Diaboli. »Die HYPERION hat im Elnath-System vor wenigen Wochen drei ihrer Schiffe zerstört. Und genau dieses Raumschiff – für die Parliden ein rotes Tuch – kommt nun herbeigeeilt, um angeblich das Schiff eines mit der Menschheit assoziierten Volkes zu vernichten? Das könnte genauso gut nach hinten losgehen.«

»Ein guter Einwand«, Zhang nickte Admiral Pendergast zu. »Aber es läuft darauf hinaus, dass wir uns zwischen diesen beiden Möglichkeiten entscheiden müssen. Und beide könnten unvorhersehbare Folgen nach sich ziehen. Halten wir uns heraus, greift bei einem Vergeltungsschlag durch die Parliden das Beistandsabkommen. Greifen wir ein, könnte es als feindlicher Akt betrachtet werden. Ich denke, jeder ist sich dessen bewusst. Da uns die Zeit davonläuft und ich die Präsidentin informieren muss, müssen wir uns jedoch entscheiden. Sie erwartet einen Plan, hinter dem eine geeinte Admiralität steht.«

Natürlich konnte die Präsidentin ihr Veto einlegen, doch das hatte sie bisher noch nie getan.

Björn schüttelte den Kopf – Politiker. Sollte der Space Navy diese Operation um die Ohren fliegen, würde die Präsidentin sich ganz einfach davon distanzieren.

Zhang bat um Handzeichen für und gegen eine Intervention der HYPERION. Zhang selbst, Santana, Isa und Björn stimmten mit zwei weiteren für einen Angriff. Fünf Admiräle stimmten dagegen.

»Juri, wie stimmen Sie?«, wollte Zhang wissen.

Alle Blicke richteten sich auf den Admiral.

Björn schloss die Augen. Er hatte vermutet, dass es so kommen würde. Bei den meisten seiner Kollegen war klar, in welches Lager sie gehörten. Und die Befürworter eines Krieges gegen die Parliden würden diese Möglichkeiten ausnutzen und gegen eine Intervention stimmen. Sie hofften, dass daraus auf jeden Fall ein Krieg entstand. Michalew wartete doch nur auf eine solche Gelegenheit.

»Lassen Sie die HYPERION das verdammte Ding abschießen«, sagte Michalew an Zhang gewandt. »Die Chancen, dass Ishida das hinbekommt, ohne einen interstellaren Zwischenfall zu provozieren, sind äußerst gering. Aber so besteht immerhin noch eine gewisse Chance auf Frieden.« Der Admiral räusperte sich. »Ich bin nicht sicher, ob ein Krieg zu diesem Zeitpunkt eine gute Idee ist.«

Wäre in diesem Augenblick ein Parlide unter ihnen materialisiert, Björn wäre nicht überraschter gewesen. Was war mit Michalew nur los? Björns Spione in den Reihen des Admirals sprachen schon die ganze Zeit davon, dass er seltsam in sich gekehrt wirkte und irgendetwas ausheckte. Was ging nur vor sich? Wenn die Versammlung vorbei war, würde er einige seiner Leute aktivieren, um das herauszubekommen.

»Damit steht es sieben zu fünf. Ich werde der Präsidentin empfehlen, dass wir das Schiff verfolgen und zerstören. Die Versammlung ist hiermit aufgelöst.«

Nach und nach verschwanden die einzelnen Admiräle.

»Sie haben eine Glückssträhne, Björn«, sagte Santana leise. »Ich hoffe, das war die richtige Entscheidung.«

Mit einem Nicken stand sie auf und ging.

*

Büro der Präsidentin, London, 13. Januar 2266, 23:05 Uhr

»Das ging überraschend schnell«, begrüßte Präsidentin Kartess Admiral Zhang, als er vor ihr materialisierte.

Er selbst befand sich noch immer auf SOL-13, um die Neukonstruktion des nächsten Schiffes der Interlink-Klasse zu besprechen. Sein Körper saß auf einem Holo-Chair, der seine neuronalen Wellen über den Phasenfunk in einen Körper aus Photonen im Büro der Präsidentin projizierte.

»Ab und an sind diese Zusammenkünfte doch ganz nützlich«, sagte er zu der hochgewachsenen Frau mit dem rotblonden Haar.

Präsidentin Kartess strahlte mit jedem Schritt und jeder Bewegung Eleganz aus. Sie trug ein modisches Kostüm und wirkte von ihrem filigranen Wesen her zerbrechlich, wodurch sie von ihren Feinden oft unterschätzt wurde. Ein Fehler, den jene Personen nur einmal begingen.

»Also gut, Yoshio, wie lautet Ihr Vorschlag für mich? Wofür spricht sich der Rat der Admiralität aus?«

Natürlich hatte er der Präsidentin noch während der Beratung einen Kurztext in ihren persönlichen Speicher gesendet.

»Sieben zu fünf für eine Intervention. Ich habe eine Nachricht an Kommandantin Ishida bereits vorbereitet. Mit Ihrem Einverständnis werde ich sie absenden.«

»Die ist hiermit erteilt«, sagte die Präsidentin. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, griff nach einer auf dem Schreibtisch stehenden Porzellantasse, deren Wert vermutlich Yoshios Jahresgehalt überstieg, und nippte bedächtig daran. »Während ihr Rat debattierte, habe ich den Außen- und den Verteidigungsminister ins Bild gesetzt. Beide planen bereits für verschiedene Szenarien voraus, können im Ernstfall also schnell reagieren. Die übrigen Kabinettsmitglieder wissen bisher von nichts, und das wird auch noch eine Weile so bleiben. Mir steht wahrlich nicht der Sinn nach irgendwelchen Sondersitzungen. Gab es Probleme mit Michalew oder Sjöberg?«

Yoshio schüttelte den Kopf. »Sie haben sich beide tadellos verhalten. Michalew war heute handzahm. Irgendetwas ist da im Busch.« Während er sprach, aktivierte er seine körperlichen Funktionen auf SOL-13 mit einer gespeicherten Handgeste. Das Hologramm stand noch immer still vor der Präsidentin, während er mit seiner rechten Hand blind eine Eingabe auf der Konsole seines Holo-Chairs vornahm. Die Befehle an Ishida wurden nun automatisch über seinen Adjutanten versandt. Er aktivierte wieder das taktile Feedback des Hologramms, und das Gefühl seines Originalkörpers verblasste.

 

»Müssen wir uns Sorgen machen?«, fragte die Präsidentin.

Yoshio schüttelte den Kopf. »Michalew ist ein Hund, der bellt, aber nicht beißt. Er spielt doch seit Jahrzehnten den großen Hardliner, rasselt mit den Säbeln und macht uns das Leben im Senat und Rat der Admiralität schwer. Nein, er wird noch eine Zeit lang stillhalten. Ehrlich gesagt bin ich mir über seine momentanen Intentionen nicht im Klaren.«

»Behalten Sie ihn im Auge«, sagte die Präsidentin. »Ich will über jeden seiner Schritte informiert werden.« Sie erhob sich und trat an das Panoramafenster, das die gesamte Breite der Wand einnahm. Der Blick über die Gärten des Ratspalastes war atemberaubend. »Ich habe weiß Gott genug andere Sorgen, als mich um einen verdammten Admiral zu kümmern, der kurz davor steht, Amok zu laufen. Der Eriin-Bund überfällt ständig Handelsschiffe und schwächt damit die Wirtschaft der äußeren Systeme, wodurch die Senatoren in ihrer Heimat unter Druck geraten. Die Vertreter der Handelshäuser sitzen mir im Nacken, damit ich die Space Navy darauf ansetze. Und nicht zu vergessen das nach der Schlacht von Elnath anwachsende Parlidenproblem, was die Atmosphäre auch nicht gerade verbessert. Wenn wenigstens die Rentalianer nicht so störrisch wären und uns einfach ihre Teleportationstechnik übergeben würden. Das würde die Beliebtheitswerte der Regierung ordentlich ankurbeln. Dank eines Erdrutschsieges von Kirkovs Partei haben wir bei den Wahlen vor einer Woche die Mehrheit im Senat verloren. Das macht es momentan noch schwerer. Glauben Sie mir, Yoshio, momentan stehe ich kurz davor, die Phasenfunk-Relais-Kette abzuschalten und damit alle Holo-Übertragungen der Vertreter der Randkolonien auszusperren. Damit wäre wenigstens die leidige Subventionsdebatte erledigt. Wirklich, Yoshio, Michalew steht auf meiner Prioritätenliste nicht sehr weit oben. Sollte er aber weiterhin ein Problem darstellen, bin ich durchaus gewillt, dem Verteidigungsminister auf die Füße zu treten, damit er ihn aus dem Amt entfernt.«

Yoshio sog scharf die Luft ein. »Ma’am, das wäre keine gute Idee. Wenn …«

»Ich weiß, ich weiß«, sie stoppte seinen Redefluss. »Er würde seine politischen Verbindungen ausnutzen und uns das Leben zur Hölle machen. Glauben Sie mir, ich bin mir der Macht, die er mittlerweile angehäuft hat, durchaus bewusst. Doch das bedeutet nicht, dass ich mir alles gefallen lassen werde.«

Yoshio nickte. Er konnte die Präsidentin ja verstehen. Leider gab es aktuell nun mal einen Gleichstand zwischen Michalews und Sjöbergs Anhängern, was meist jede Debatte zu einem schmutzigen Schlagabtausch werden ließ.

Einzig Santana Pendergast zeigte sich unbeeindruckt von dem Kleinkrieg und entschied stets auf Grundlage aktueller Fakten, auf wessen Seite sie sich schlug.

»Mir ist durchaus klar, dass Ihre Geduld begrenzt ist, Madame Präsident. Doch bitte unternehmen Sie nichts. Eine Entlassung Michalews wäre eine Ohrfeige – für die gesamte Admiralität.«

»Das wäre es zweifellos. Und eine verdiente. Ich kann mir die Schlagzeile in der Presse schon vorstellen.« Die Präsidentin lächelte. »Einer der mächtigsten Admiräle entlassen. Das würde der Ohrfeige doch noch einmal zusätzliche Schlagkraft verleihen. Ich denke, mehr muss ich dazu nicht sagen. Bringen Sie Michalew auf Kurs, Yoshio – und zwar bevor ich eingreifen muss.«

»Ich habe verstanden.«

»Ausgezeichnet.« Die Präsidentin nahm wieder Platz. »Dann entschuldigen Sie mich jetzt. Der Oppositionsführer wartet schon, und ich fürchte, dieses Gespräch wird ebenfalls sehr unerfreulich.«

Yoshio nickte der Präsidentin noch einmal respektvoll zu. »Madame Präsident.« Dann deaktivierte er den Holo-Feed.

Fluchend erhob er sich aus seinem Holo-Chair auf SOL-13. Er konnte nur beten, dass Ishida es nicht versaute und Michalew noch eine Weile stillhielt. In der momentanen Situation hatte er andere Sorgen als Admiral Juri Michalew. Er musste ihm zugutehalten, dass er bisher nichts weiter tat, als sich mit dem Parlidenkörper zu befassen. Scheinbar kamen die Wissenschaftler damit nicht voran, machten nur einen nutzlosen Scan nach dem anderen. So war der Admiral immerhin erst einmal beschäftigt und verzichtete auf seine üblichen Spielchen.

*

IL HYPERION, Im Interlink-Flug, 13. Januar 2266, 23:55 Uhr

Sie flogen direkt in ein schwarzes Loch. Zumindest kam Noriko es so vor. Die Admiralität hatte die Entscheidung von Captain Cross bestätigt, und nun lag es an ihr, den Befehl auszuführen. Was auch immer vor Ort geschah: Es gab niemanden, an den sie sich wenden konnte. Ihre Aktionen konnten darüber entscheiden, ob die Parliden weiter den Frieden wahrten oder schon morgen eine Armada zusammenstellten, um den Krieg wieder aufzunehmen. Wenn sie ehrlich war, wunderte sie sich noch heute darüber, dass die Sternköpfe nach dem Zwischenfall im Elnath-System nicht kriegerisch reagiert hatten.

Mit einem tiefen Seufzer trat sie an das Geländer des Kommandopodestes. Die HYPERION flog mit einem Überlichtfaktor von 6200 im Interlink. So konnten sie, bei gleichbleibendem Vektor, das rentalianische Schiff noch einholen. Sobald es aus dem Phasenraum zurückkehrte, würden auch sie den Interlink-Flug unterbrechen – aller Voraussicht nach im Territorium der Parliden.

Das Aussichtsdeck zog sich bogenartig über die Unterseite des Schiffes und war zu dieser Zeit gut besucht. Überall saßen oder standen Offiziere in kleineren Gruppen zusammen und genossen die Freizeit und den tollen Ausblick. Eine breite Front aus transparentem Stahl bot einen wunderbaren Blick auf die vorbeihuschenden Sterne. Die Offiziere sprachen begeistert davon, wie der Übergang zwischen Normalraum und Interlink-Flug anzuschauen war. Norikos Platz war zu diesem Zeitpunkt leider stets auf der Brücke.

»Ich dachte mir schon, dass du hier bist.« Die Stimme von Giulia klang frisch und fit. »Es geht doch nichts über diesen Ausblick. Kein Vergleich zu diesem eintönigen orangefarbenen Wabern im Phasenraum.«

»Hast du schon mal den Sprung miterlebt?«

Giulia schüttelte den Kopf. »Nein. Meist zu viel zu tun. Aber ich habe Aufnahmen gesehen.«

»Das ist nicht das Gleiche.« Noriko fühlte ein wehmütiges Ziehen in ihrem Inneren. »In meiner nächsten Freischicht werde ich hier sitzen und mir den Übergang ansehen.«

»Ich habe von dem kleinen Zwischenfall auf der Kommandobrücke gehört.« Giulia nahm einen großen Schluck ViKo und verzog abschätzig die Mundwinkel. »Walker liegt nach Punkten vorne.«

Noriko stützte ihren Kopf auf die rechte Hand. Überall flogen die kleinen Lichtpunkte vorbei. Sterne. Welten. Zivilisationen. Alles, was sie von Anfang an gewollt hatte, war, die Weiten dort draußen zu erkunden. Zu forschen, zu entdecken, den Frieden zu schützen. Stattdessen focht sie kleine Scharmützel aus, wurde von einem Admiral torpediert und musste sich gegen Gerüchte zur Wehr setzen. Worin lag in alldem der Sinn?

»Das tut er vermutlich«, flüsterte Noriko.

»Noriko.« Giulia wandte sich ihr zu. »Commander. Lassen Sie ihn nicht gewinnen.«

»Walker …«

»Walker, Michalew, wen auch immer« Giulia hob beschwörend die Arme. »Setzen Sie sich durch. Andernfalls werden Sie niemals Ihren inneren Frieden finden.«

Damit wandte sie sich um und ging.

*

IL HYPERION, Kartas-System, 15. Januar 2266, 13:10 Uhr

»Commander, ich kann die auslaufende Kaskade eines Phasendurchbruchs anmessen. Das rentalianische Schiff ist soeben wieder in den Normalraum eingetreten«, meldete Lieutenant Commander Kensington.

»Mister Task, bringen Sie uns ebenfalls in den Normalraum«, befahl Noriko.

Wenige Augenblicke später fiel die Interlink-Blase in sich zusammen, und die HYPERION begann bei 0,45 LG ihr Abbremsmanöver.

»Die Sensoren nehmen ihre Arbeit auf, aber ohne ÜL-Plattformen oder Kiesel ist unsere Sichtweite begrenzt«, sagte Kensington. »Erbitte Erlaubnis, die Kiesel aussetzen zu dürfen.«

Beinahe hätte Noriko impulsiv zugestimmt. Leider befanden sie sich im Territorium der Parliden. Das Aussetzen der Sonden wurde von diesen zweifellos nicht gerne gesehen. »Haben wir die SE-RA noch in der Ortung?«

Kensington überprüfte kurz die Daten auf ihrer Konsole. »Das haben wir, Ma’am.«

»Dann keine Kiesel, Lieutenant. Wir beschränken uns auf die Schiffssensoren.«

Kensington nickte mit verkniffenen Mundwinkeln. Noriko teilte das Unbehagen der Ortungsoffizierin. Wer flog schon gerne in ein unbekanntes Sonnensystem, ohne zu wissen, was ihn erwartete? Und dann auch noch in das System eines eher kriegerisch eingestellten Volkes …

»Ich orte eine Abfangflotte aus fünf Parlidenschiffen«, meldete Kensington kurz darauf. »Ich kann noch keine Details zu den Schiffstypen nennen, doch ihre Tonnage deutet auf etwas Großes hin.«

Noriko seufzte. Damit hatte ihre Verfolgung sich quasi erledigt. Die Schiffe würden die SE-RA aus dem All schießen, bevor diese ihre Antimateriebombe aussenden konnte. »Zeit bis zum Kontakt?«

»Zwei Stunden und zehn Minuten, dann befinden sich die Parliden den bisherigen Erkenntnissen nach in Feuerreichweite zur SE-RA«, sagte Kensington.

»Lieutenant McCall, stellen Sie eine Verbindung zu einem der Parlidenraumer her.« Noriko wollte den Parliden die Situation erklären. Womöglich fanden sie noch einen anderen Weg, die SE-RA aufzuhalten.

»Keine Reaktion«, meldete McCall kurz darauf. »Sie empfangen unsere Daten, reagieren aber nicht.«

Noriko fluchte innerlich. Diese verdammten Aliens! Mit ihrer aggressiven Art verurteilten sie die Crew der SE-RA zum Tode. Sie selbst hätte das Schiff manövrierunfähig geschossen und per Traktorstrahl erst einmal aus dem System geschleppt.

»Commander Akoskin«, wandte Noriko sich an ihren Taktikoffizier, »ich will eine Lösung, die es uns ermöglicht, das Artefakt zu bergen. Gehen Sie davon aus, dass die SE-RA vernichtet wird und wir es daraufhin noch mit vier feindlichen Schiffen zu tun haben.«

»Sie wollen vier Parlidenschiffe auf deren Territorium angreifen?« Akoskin runzelte die Stirn. »Unser Zusammenstoß mit ihnen im Elnath-System konnte von den Diplomaten gerade noch zurechtgebogen werden, und dort haben die Sternköpfe den ersten Schuss abgegeben. Aber hier sähe das völlig anders aus!«

»Wenn Sie eine Lösung für mich haben, bei der kein Schuss abgefeuert wird, bin ich Ihnen dankbar. Andernfalls bleibt uns keine Wahl. Die werden uns so oder so beschießen. Und keinesfalls dürfen die in den Besitz des Artefaktes gelangen.« Noriko hätte den Stuhl des Captains jetzt gerne wieder an Jayden Cross übergeben.

Sie erinnerte sich noch genau daran, wie sie ihn zu Beginn für ein Weichei gehalten hatte. Einen Grünschnabel, der wegen einer einmaligen Heldentat zum Captain befördert worden war. Doch er hatte seinen Mann gestanden und gezeigt, dass er auf diesen Stuhl gehörte. Nun war sie es, die sich beweisen musste. Aber konnte sie in der aktuellen Situation überhaupt das Richtige tun?

»Ich werde mir Mühe geben, Ma’am.« Akoskin begann damit, an seiner Konsole Eingaben vorzunehmen.

Noriko lehnte sich zurück und starrte auf den Holotank, in dem die SE-RA sich den fünf roten Punkten näherte. Dann war es soweit: Die Punkte trafen aufeinander und erloschen nach und nach.

»Ma’am!« Die Stimme von Lieutenant Kensington überschlug sich. »Die SE-RA bewegt sich weiter ins Systeminnere.« Sie blickte mit aufgerissenen Augen auf ihre Konsole, konnte augenscheinlich nicht fassen, was sie dort sah. »Die Parlidenschiffe sind besiegt. Vier von ihnen wurden zerstört, eines wrackgeschossen.«

Für einen Moment herrschte Stille auf der Brücke. Alle starrten auf den Holotank.

»Wie ist das möglich?« Norikos Gedanken überschlugen sich. Wie hatten die das gemacht? Besaßen die Rentalianer eine Geheimwaffe, von der die Menschheit noch nichts wusste? Oder war die Lösung viel offensichtlicher? »Geben Sie mir eine Erklärung, Lieutenant!«

»Kurz bevor die Parliden ihre Waffen abfeuerten, ging von dem rentalianischen Schiff eine Strahlenwelle aus. Die Details werden noch ausgewertet.«

 

Noriko nickte. Also hatte einmal mehr das Artefakt eingegriffen. Aus irgendeinem Grund wollte dieses Ding, dass die Rentalianer ihre Bombe abwarfen. »Lieutenant Task, können wir die SE-RA einholen?«

»Ja«, sagte Task.

»Etwas mehr Details bitte, Lieutenant.« Noriko stand kurz davor, ihn durchzuschütteln. Wie gelang es ihm nur, so ruhig zu bleiben?

»Bei gleichbleibendem Vektor ist zu vermuten, dass die SE-RA den Abwurf der Bombe in die Sonne plant. Dafür muss das Schiff aber weiter abbremsen, es sei denn, sie opfern das Schiff und fliegen direkt hinein. Wenn wir unsere Geschwindigkeit halten, werden wir die SE-RA zweifellos einholen, Ma’am. Ich übertrage die berechneten Rendezvous-Koordinaten auf den Holotank.«

»Danke.« Auf Norikos Konsole erschien das hektisch blinkende Symbol einer Prioritätsnachricht. Sie berührte das Icon, worauf die Nachricht sich öffnete. Die Darstellung flimmerte. Codezeilen liefen über das kleine Display. »Was soll das?«, murmelte sie.

»Ma’am, wir haben soeben einen Torpedo abgefeuert!« Das Gesicht von Lukas Akoskin war kreidebleich. »Einen Typ-A32 mit Lasercluster-Gefechtskopf. Das Ziel ist das wrackgeschossene Parlidenschiff. Einschlag in acht Minuten.«

Sie sprang auf. »Stoppen Sie den Torpedo!«

»Das kann ich nicht, Ma’am. Der Zugriff wurde verschlüsselt.« Akoskin blickte überrascht auf. »Der Feuerbefehl erfolgte von der Kommandokonsole.«

Noriko überlief es eiskalt. Die Nachricht! Irgendjemand hatte ihre Konsole gehackt. Jemand innerhalb des Schiffes. Während die übrige Besatzung sie mit offenem Mund anstarrte, machte Akoskin hektisch Eingaben auf seiner Konsole. Nur einer stellte – wie meist – ein überhebliches Grinsen zur Schau: Lieutenant Bruce Walker.

Norikos Brust wurde eng, als sie die Wahrheit begriff. »Das ist lächerlich! Natürlich habe ich diesen Torpedo nicht abgefeuert! Können Sie die Verschlüsselung knacken und den Sprengkopf früher zünden?«

Akoskin schüttelte den Kopf, während seine Finger weiter über die Konsole glitten. »Nicht in der Zeit, die uns verbleibt. Der Einschlag erfolgt in wenigen Minuten.«

»Lieutenant McCall, Ihnen ist es vor Kurzem gelungen, das Passwort für die Datenbank der PROTECTOR zu entschlüsseln. Können Sie Commander Akoskin helfen?«

Die schüchterne Lieutenant schüttelte den Kopf. »Ich würde ja gerne, Ma’am, aber die Zeit dafür reicht einfach nicht aus.«

Das darf nicht wahr sein. Noriko ballte zitternd die Hände zu Fäusten. Machtlos sah sie zu, wie der Torpedo auf das wrackgeschossene Parlidenschiff zuflog, wo er das Leben der wehrlosen Besatzung ebenso auslöschen würde wie den Frieden.

*