Ein MORDs-Team - Der komplette Fall Marietta King

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Die Galerie reachAble

Ein Dienstag

Als Olivia am nächsten Morgen vor der Galerie stand, um sich noch vor Schulbeginn für den Wettbewerb einzutragen, traute sie ihren Augen kaum.

Eine Menschentraube hatte sich auf der Straße vor der Galerie versammelt. Die konnten doch nicht alle für den Wettbewerb da sein, oder doch? Olivia ging näher. Der Wagen von Sheriff Bruker parkte mitten auf dem Gehsteig. Olivia verdrehte die Augen. Diesen Nichtsnutz Bruker konnte sie am frühen Morgen so wenig ertragen wie Marias aufgedrehte Tanzmucke.

Die Passanten tuschelten miteinander, deuteten auf das zerbrochene Schaufenster oder reckten die Köpfe, um über den Polizeiwagen hinweg ins Innere der Galerie blicken zu können.

»Was ist denn hier los?«, fragte Olivia eine ältere Dame, die mit ihrem Rollator am Bordstein wartete und dem Treiben zusah.

»Heute Nacht wurde in der Galerie eingebrochen. Die haben die Scheiben eingeschlagen und die Bilder mit Blut beschmiert. Ekelhaft.« Die alte Frau blicke Olivia nicht mal an, während sie sprach. »Ich wusste immer, dass das nicht gut endet mit dieser Frau. Ich wusste es! Aber auf mich will ja keiner hören.«

Oh nein, bitte nicht, dachte Olivia, ließ die Alte stehen und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Wieso brach jemand in die Galerie ein und verwüstete alles? Wieso gerade heute? Und was bedeutete das für den Wettbewerb?

Sie hatte die Nacht über fast kein Auge zugetan, weil sie fieberhaft überlegte, wie sie das Geld auftreiben konnte, um ein neues Objektiv zu besorgen. Ganz kurz hatte sie sogar mit dem Gedanken gespielt, Danielle um das Geld zu bitten, es aber sofort wieder verworfen. Es musste noch eine andere Möglichkeit geben.

Mittlerweile hatte Olivia sich durch die Menschentraube gekämpft und sah das Ausmaß der Verwüstung.

Die große Fensterwand zur Straße war mit einer Statue eingeschlagen worden, die aussah wie ein Baum mit Tentakeln. Die Scherben lagen auf dem Bürgersteig verteilt. Quer über die Rückwand war das Wort »Geiz« mit roter Farbe geschrieben worden. Weiter links standen »Scharlatan« und »Heuchlerin«. Olivia schob sich zwischen den Gaffern hindurch, bis sie vor dem Polizeiabsperrband stand. Ein paar Meter weiter von ihr entfernt wurde gerade Rebecca Reach verhört. Die Galeristin trug ein elegantes dunkelblaues Kostüm. Die blonden Haare hatte sie, wie auf dem Bild im Flyer, zu einem Dutt gebunden. Ihre Bewegungen waren anmutig und weiblich, als hätte sie sie vorher genau einstudiert. Olivia schätzte sie auf Ende vierzig. Die Gazetten im Internet waren sich diesbezüglich nicht einig. Rebecca machte einen großen Hehl um ihr wahres Alter. Gerade presste sie sich ein Taschentuch abwechselnd auf die Nase oder die Augen, um ihre Tränen abzuwischen, während sie mit dem Officer sprach und ihre Aussage zu Protokoll gab. Olivia stellte sich auf die Zehenspitzen, um mehr erkennen zu können. In der Galerie standen jede Menge unterschiedlicher Skulpturen. Gebilde mit Tentakeln oder Gnome, die im Schneidersitz saßen und Pfeife rauchten. Olivia erinnerte sich, dass das letzte Motto der Ausstellung »Ein Sommernachtsalbtraum« war. Der Künstler hatte irgendeinen Hass auf Shakespeare und diesen in seinen Skulpturen ausgelebt. Jetzt hatte jemand anderes seinen eigenen Hass ausgelebt und die halbe Galerie verwüstet. Die meisten Skulpturen waren mit roter Farbe beschmiert, an der linken Wand stand in großen Buchstaben »Lügnerin« geschrieben. Und zwar quer über Schwarz-Weiß-Fotografien der Stadt New York hinweg. An einer anderen Wand das Wort »Mörderin«.

Jemand rempelte Olivia von hinten an, sie torkelte und musste sich an einem Typen abfangen, der direkt vor ihr stand.

»Hey!«, rief dieser und drehte sich um. »Kannst du nicht aufpassen? Verflucht noch mal, das ist ein Armani-Hemd!« Der Junge war nur ein paar Jahre älter als Olivia, trug Jeans und ein weißes, na ja, nun eher kaffeebraunes Hemd und hatte dunkle, leicht gewellte Haare. In einer Hand hielt er einen Becher, mit der anderen begutachtete er den Fleck, der sich auf seiner Brust ausgebreitet hatte.

»Entschuldigung«, stammelte Olivia. »Mich hat jemand geschubst.«

»Ja, klar doch.«

Sie nahm ihre Schultasche von der Schulter und wühlte darin herum. Irgendwo hatte sie doch noch eine Packung Taschentücher.

»Was für ein beschissener Morgen«, brummelte er und stellte den halb vollen Kaffeebecher auf einem Briefkasten ab.

»Hier«, sagte Olivia und reichte ihm die Packung Taschentücher.

Er blickte auf, schien zu überlegen, ob er sie annehmen sollte oder nicht.

»Es tut mir leid«, sagte Olivia noch mal. »Ich zahl dir die Reinigung.« Wie auch immer sie das anstellen sollte. Ein Armani-Hemd kostete bestimmt Aufschlag, nur weil Armani draufstand. »Ich bin Olivia.«

»Chris Archer.« Er nahm die Taschentücher und begann das Hemd trocken zu tupfen. »So eine elende Grütze. Heute geht wirklich alles schief.«

Erst da bemerkte Olivia die Fototasche, die zu seinen Füßen stand. Darauf lag ein Stativ. Ein Manfrotto. Na super, wenn er sich so eins leisten konnte, war die Ausrüstung bestimmt genauso hochwertig.

»Bist du wegen des Wettbewerbs hier?«, fragte Olivia möglichst beiläufig. Wenn Chris zu ihrer Konkurrenz gehörte, konnte sie einpacken.

»Nein. Ich bin der Assistent von Lucian.«

»Ist ja cool.« Was für ein klasse Spruch, Oliv. Damit beeindruckst du ihn sicher.

Chris blickte auf, musterte Olivia kurz und wandte sich wieder seinem Hemd zu. Doch statt den Schaden zu beheben, machte er den Fleck eher größer.

Olivia beobachtete ihn dabei. Der ist ja richtig schnuckelig. Seine braunen Augen haben fast den gleichen Farbton wie seine Haare. »Wie gesagt, ich zahl dir gerne die Reinigung«, sagte sie leise.

»Lass gut sein. Nach dieser verfluchten Katastrophe ist ein ruiniertes Hemd doch die perfekte Krönung.«

»Weiß man schon, wer eingebrochen ist?«

»Klar doch. Die Polizei hat diesen Fall auf die Prioritätenliste ganz nach oben geschoben. Man munkelt, dass sie sogar Kollegen vom CSI herbestellt haben. Sie werden alles daran setzen, diese Vandalen zu verhaften. Wo kämen wir hin, wenn jeder einfach ungestraft hässliche Kunstwerke verunstalten könnte?«

»Verstehe. Ihr habt keine Ahnung, wer es war – und die Polizei wird sich einen Dreck darum kümmern.«

Chris blickte sie mit einem Stirnrunzeln an und schüttelte den Kopf. »Eine Schnellmerkerin, sieh mal einer an.«

»Chris!«, rief ein Mann auf einmal.

Olivia und Chris drehten sich gleichzeitig um. Für eine Sekunde verschlug es ihr den Atem. »Das ist Lucian McAllister.« Der Modefotograf. Der Gott. Der ultimative Superheld. Wobei Olivia ihn sich größer vorgestellt hatte. Er stand neben Rebecca Reach, die ihn um fast einen halben Kopf überragte. Die hatten bestimmt bei den Bildern in der Zeitung getrickst.

Chris seufzte. »Der Herr und Meister ruft. Hier.« Chris gab Olivia das Päckchen Taschentücher zurück und schnappte sich den Kaffee, den er vorhin auf dem Briefkasten abgestellt hatte. »Ich werde mir mal den nächsten Anschiss abholen. Lucian hasst kalten Kaffee, aber da ich meinen Job vermutlich eh verliere, spielt das keine Rolle.«

»Aber du wirst doch nicht wegen des Einbruchs deinen Job verlieren?! Was kannst du denn dafür?«

»Alles. Ich war für den Wettbewerb und für die neue Ausstellung von Lucian verantwortlich. Ich habe dafür zu sorgen, dass alles reibungslos läuft.«

»So ein Quatsch.«

»Schön. Genau das werde ich Lucian sagen: So ein Quatsch. Das stimmt ihn bestimmt milder.« Chris schüttelte den Kopf, hob die Fototasche auf und setzte sich in Bewegung.

»Oh, eine Frage noch«, rief Olivia ihm nach: »Wo kann ich mich für den Wettbewerb einschreiben?«

»Beim lieben Gott vielleicht. Der Wettbewerb ist natürlich abgesagt.«

»Was? Nein! Das könnt ihr doch nicht machen.«

»Sag das der Polizei. Die Galerie bleibt bis auf Weiteres geschlossen. Ein Traum!«

»Aber wenn der Täter geschnappt wird, kann der Wettbewerb doch stattfinden, oder?«

Eine Antwort erhielt sie nicht. Chris schlängelte sich durch die Menschenmenge und brachte Lucian den nur noch halb vollen Kaffeebecher. Lucian nahm einen kleinen Schluck und schüttelte verärgert den Kopf.

Ein Traum. In der Tat. Und dieser platzte gerade wie eine dicke, fette Seifenblase. Olivia brauchte diesen Wettbewerb. Sie knabberte an ihrer Unterlippe, drehte um und folgte den Menschen, die sich bereits wieder zerstreuten, um ihrer Arbeit nachzugehen. Der Einbruch war eine kurzzeitige Sensation, eine Ablenkung vom Alltag, die so schnell verpuffte, dass heute Abend kein Hahn mehr danach krähen würde. Und genauso würde es die Polizei auch handhaben. Ein wenig recherchieren, dann den Fall als »ungelöst« zu den Akten legen. Fertig.

Also hieß es selbst kreativ werden. Olivia lief zurück zu ihrem Auto. Sie würde Hilfe brauchen und wusste auch schon, wen sie darum bitten könnte.

*

Zur rüstigen Eiche

Dienstag nach der Schule

Danielle tippte auf ihrem neuen iPhone herum, während sie die Drehtüren Zur rüstigen Eiche passierte. Die Seniorenresidenz, in der ihre Gran lebte. Danielle musste unbedingt die Fortschritte der letzten Reitstunde aufschreiben, immerhin hatte sie heute zum ersten Mal den fliegenden Galoppwechsel geschafft.

»Obacht, junge Frau«, rief ein älterer Mann auf einmal.

Danielle blickte auf und bremste. Sie wäre fast in einen Opi gelaufen, der im Rollstuhl saß. Er trug ein langes Nachthemd, um den Hals baumelte eine Sauerstoffmaske.

 

»Tut mir leid, ich habe Sie gar nicht gesehen.«

»Das habe ich bemerkt.« Er grinste zahnlos zu Danielle hoch. Entweder hatte er sein Gebiss vergessen oder legte keinen Wert darauf. Danielle erwiderte sein Lachen. Im Foyer herrschte reges Treiben. Pfleger liefen umher, Handwerker bauten ein Holzpodest auf. Es wurde gehämmert, gebohrt und geplaudert.

»Was ist denn hier los?«

»Ein Event«, sagte der Alte und nickte freudig. »Die bauen eine Bühne.«

»Und für was?«

»Für die Beatles! Sie werden ein Konzert geben.«

»Aber die Beatles gibt es doch gar nicht …« Danielle blickte zu dem Opi. Er wippte mit den Schultern hin und her, als würde bereits die Musik laufen und fing an lauthals »Let it be« zu singen. »John Lennon ist der Größte!«

»John Lennon ist …«

«Let it be, let it beeeee …”

Danielle schüttelte den Kopf. »Dann mal viel Spaß mit den Beatles.« Sie lief weiter. Der Alte grölte noch eine Weile vor sich hin, wobei er immer wieder die erste Strophe wiederholte. Danielle passierte das Foyer und schrieb noch rasch eine SMS an ihre Mum, damit sie wusste, dass alles okay war.

»Hi, Danielle!«, rief jemand.

Sie blickte auf. »Hi, Phil. Alles klar?«

Der Pfleger kam gerade aus einem Flur gelaufen. Seit Mischa Blackwood wegen Drogenkonsums während der Arbeit suspendiert worden war, war Phil als neuer Pfleger für ihre Gran eingeteilt. Der junge Kerl mit den Sommersprossen und den roten Haaren war Danielle eindeutig sympathischer. Allein schon wegen seines irischen Akzents, wobei Danielle glaubte, dass er den nur fakte. Unter dem Arm trug er eine Ein-Meter-Holzplatte, die in rotem Samt eingewickelt war.

»Klaro, haben einiges zu tun.«

»Das stimmt. Was ist eigentlich los? Und erzähle mir nicht, Paul McCartney sitzt im Büro des Heimleiters und bespricht gerade seine Gage.«

»Hat dir das der alte Arthur erzählt? Dem darfst du kein Wort glauben. Letzte Woche hat er behauptet, er hätte einen Außerirdischen an der Eiche draußen hängen sehen.«

»Ich dachte mir schon, dass das nicht stimmt, aber was soll der Trubel?«

»Wir bereiten eine Gedenkfeier für den Direktor der alten Schule vor, Henry Snyder. Er hat sich heute Nacht erhängt. Wundert mich gar nicht, er hatte auf seine letzten Tage ziemliche Schmerzen. Wurde vom Krebs förmlich aufgefressen.«

»Oh. Das tut mir leid.« Danielle hatte den Mann zwar nicht gekannt, aber die Vorstellung, wie jemand von seinen eigenen Zellen von innen heraus zerstört wurde, trieb ihr die Gänsehaut auf die Arme.

»Und weil er so eine Berühmtheit war und schon ewig hier lag, veranstalten wir eine kleine Gedenkfeier. Wir stellen alte Bilder von ihm aus, der Heimleiter wird ein paar Worte über ihn verlieren und es gibt gegrillte Würstchen. Du bist natürlich herzlich eingeladen zu kommen.«

»Das ist nett, aber ich weiß nicht, ob ich kann.«

»Komm einfach, wenn es passt.«

»Mache ich. Wie geht es Gran eigentlich? Alles gut mit ihr?«

»Sehr gut sogar. Ich achte darauf, dass sie die richtigen Pillen einnimmt.«

Danielle legte eine Hand auf seine Schulter. »Danke dir. Ich muss weiter. Man sieht sich.«

»Ja.« Phil drehte um, dabei verrutschte das Samttuch, das um die Holzplatte gewickelt war. Ein lebensgroßes Foto eines Mannes kam zum Vorschein. Er war mittelgroß und schmächtig. Die Art von Mann, die einem nicht im Gedächtnis blieb. Ein Allerweltsgesicht. Er trug einen Anzug und posierte mit einem Lächeln neben einem Pokal aus Silber.

»Ist das der Direktor?«, fragte Danielle und betrachtete das Bild genauer.

»Oh ja. Warte.« Phil zog den Rest des Tuches herunter.

Der Direktor stand vor einem blauen Vorhang auf einer Bühne. Das Bild war eindeutig gestellt worden, so verkrampft wie er in die Kamera lächelte. Danielle betrachtete es lange. Irgendetwas kam ihr daran bekannt vor, doch sie konnte beim besten Willen nicht sagen was.

»Das ist an dem Abend vor dem Mord aufgenommen worden«, sagte Phil.

»Dem Mord?«

Phil nickte und beugte sich näher zu ihr. »Dem Marietta-King-Mord. Der ging damals durch alle Medien, aber du bist zu jung, um davon zu wissen.«

Ach, und Phil war gerade mal fünf Jahre älter als sie. »Erzähl mir mehr davon.« Natürlich wusste Danielle von dem King-Mord. Immerhin hatte sie unlängst mit Randy, Olivia und Mason einen geheimen Raum gefunden, in dem alle Unterlagen zu dem Fall von Billy Tarnowski zusammengesucht worden waren. Zudem waren Masons Vater Jamie und Danielles Mum Shannon Freunde von Marietta und ein Paar gewesen. Ein Fakt, den Danielle immer noch nicht so recht verdaut hatte. Sie konnte sich die beiden beim besten Willen nicht miteinander vorstellen.

»Also, die Bilder vom Shooting sollten am nächsten Tag in der Zeitung erscheinen«, erzählte Phil weiter. »Die Schule plante nämlich einen Wettbewerb, bei dem auch Schüler anderer Städte eingeladen waren. Mit jeder Menge Presse und so. Es sollte eine Art Jeopardy werden. Kennst du Jeopardy?«

»Die Quizshow, in der man die Antwort als Frage formulieren muss.«

»Genau. Sie wollten eine Jeopardyshow in der Schule ausrichten, aber dazu kam es nicht, wegen des Mordes an Marietta King. Die ganze Veranstaltung wurde abgesagt. Möchte nicht wissen, was das gekostet hat. Das Bild hier ist aus dem Archiv von damals. Es wurde nie veröffentlicht. Heute quasi das erste Mal.«

»Ist ja interessant. Dürfte ich das fotografieren?«, fragte sie. »Meine Mum ging damals auf die Schule, als Snyder noch Direktor war. Sie wird sich sicherlich dafür interessieren, dass er tot ist.«

»Klar doch.« Phil richtete das Bild auf, damit es gerade stand.

Danielle zog ihr iPhone aus der Tasche und knipste zwei Bilder. Sie würde es den Jungs und Olivia zeigen. Wenn dieses Foto am Abend von Mariettas Tod aufgenommen worden war, war es ein weiteres Puzzlestück in dem Rätsel. Danielle checkte, ob die Bilder etwas geworden waren und steckte das iPhone wieder ein. »Danke.«

»Gerne«, sagte er und zog den Samtbezug wieder über das Foto. »Bis später dann. Wir sehen uns.«

Sie verabschiedete sich von Phil und lief weiter zum Zimmer ihrer Gran. Gerade wollte sie an die Tür klopfen, als ihr Handy pfiff. Der Signalton, wenn Mum ihr eine SMS schickte. Danielle blickte kurz drauf: »Wir sind morgen Abend auf der Gedenkfeier von Henry Snyder eingeladen. Dein Vater möchte, dass du dir noch etwas Passendes zum Anziehen besorgst. Dezent und schwarz.«

Das war’s. Kein: Hab dich lieb, kein: Wie geht’? Nur ein: Tu dies, tu das, stell keine Fragen. Danielle hatte absolut keinen Bock auf eine weitere langweilige Veranstaltung, bei der sie die Vorbildtochter mimen musste. Mit einem Seufzen schaltete sie das Handy ab und klopfte an die Tür von Gran.

»Hi, Gran«, sagte sie.

»Kindchen! Schön, dass du da bist.«

Danielle trat ein und musterte ihre Großmutter. Sie sah blass aus und ihre Hände zitterten leicht. »Geht es dir gut, Gran?«

»Ja, ich bin nur etwas müde. Ich habe die halbe Nacht nicht geschlafen, weil mein Nachbar so viel Lärm gemacht hat und heute bohren und hämmern sie schon den ganzen Tag.«

»Sie bauen eine Bühne auf.«

»Das habe ich gehört. Angeblich kommen die Beatles.«

Danielle lachte. »Das sind nur Gerüchte, Gran. Wie wäre es, sollen wir ein bisschen in den Garten? Heute ist ein herrlicher Tag.«

»Nur, wenn wir am Eisstand vorbei können.«

»Einverstanden. Du stehst Schmiere, ich besorge das Eis.« Wenn Dr. Silverman, der behandelnde Arzt ihrer Gran, erfuhr, dass ihre Großmutter schon wieder naschte, würden sie Ärger bekommen. Hier mussten sie taktisch klug vorgehen.

»Perfekter Plan«, sagte Gran und grinste verschwörerisch.

*

Tarnowski-Haus

Mittwoch, nach der Schule

Randys Finger flogen über die Tastatur und nahmen jedes Wort auf, das Danielle von sich gab. Er hatte mittlerweile verschiedene Dokumente angelegt und über Schlagwörter miteinander verknüpft. Dieses würde in der Akte über die Mordnacht landen. Bis er sich durch den restlichen Aktenberg gewühlt hatte, würden allerdings noch einige Wochen ins Land ziehen.

»… heute Nacht gestorben«, schloss Danielle ihre Erzählungen und zog die Beine an. Sie fläzte auf ihrem Lieblingsohrensessel, während sie Randy in aller Ausführlichkeit berichtete, was sie erfahren hatte.

Randy drückte auf »speichern« und trank einen Schluck Kaffee. Schwarz und heiß. Perfekt.

Mason kniete vor dem geöffneten Kühlschrank und überlegte seit einer gefühlten Stunde, was er trinken sollte.

»Alter, wenn du das Ding nicht bald zumachst, ziehen hier die Eisbären ein«, sagte Randy.

Mason grummelte, nahm sich eine Limo und setzte sich auf einen alten Bürostuhl am anderen Ende des Tisches.

Sie hatten den geheimen Raum mit den Aufzeichnungen von Billy Tarnowski erst vor ein paar Tagen entdeckt, aber Danielle hatte in Windeseile eine Kaffeemaschine, einen Wasserkocher, eine kleine Herdplatte (mit leerem Magen konnte man nicht denken) und einen Kühlschrank organisiert. In der Ecke standen zwei Eimer Farbe für die Wände und verschiedene Stoffmuster, mit denen sie die Couchen neu beziehen wollte, außerdem hatte sie einige Bilder mit vielen bunten Farbklecksen mitgebracht.

»Das ist moderne Kunst, du Banause«, hatte sie gesagt, als Randy gefragt hatte, ob das ihre Katze gemalt habe.

Außerdem hatte Randy mittlerweile eine kabellose Verbindung zwischen dem alten Router und dem neuen Rechner aufgebaut. So hatten sie immerhin eine 100 MBit/s Download- und eine 5 MBit/s Upload-Rate. Zusammen mit Mason hatte er seinen alten Rechner aufgebaut, den Scanner und einen Drucker angeschlossen. Sie hatten ihre eigene kleine Kommandozentrale.

»Ich habe das Bild von dem Direktor fotografiert«, sagte Danielle und kramte ihr Smartphone aus ihrer Handtasche. »Irgendetwas darauf kam mir bekannt vor, aber mir ist immer noch nicht eingefallen was.«

Sie machte Anstalten aufzustehen, um es den Jungs zu zeigen, aber Mason war bereits aufgesprungen und nahm es ihr ab. Mason bemühte sich sichtlich darum, etwas Sinnvolles zu diesem Projekt beizusteuern, obwohl er sich gar nicht so anstrengen musste. Sein Selbstwertgefühl hatte gehörig gelitten seit der Sache mit den Drogen an der Schule. Das Verschwinden der Beweise hatte es nicht besser gemacht, im Gegenteil: Mittlerweile verbreitete Brian Bruker die Story, dass Mason im Polizeirevier eingebrochen war und die Drogen geklaut hatte. Wie Mason das hätte anstellen sollen, sagte Bruker allerdings nicht. Heute in der Pause hatte Randy mit angehört, wie Bruker über Olivia Young ablästerte. »Die kleine Conchita hat doch voll Dreck am Stecken. Vermutlich hat sie Collister geholfen, ins Revier einzubrechen und die Drogen zu klauen.«

»Wo ist eigentlich Olivia?«, fragte Randy. Er hatte sie seit dem letzten Treffen hier unten nicht mehr gesehen oder gesprochen.

»Keine Ahnung«, sagte Danielle.

»Sie kommt noch«, antwortete Mason und blickte dabei auf das Foto, das Danielle geschossen hatte. Randy und Danielle starrten ihn gleichzeitig an. Mason brauchte ein paar Sekunden, bevor er die Blicke der anderen bemerkte.

»Dir sagt sie Bescheid und uns nicht?«, fragte Randy.

Mason zuckte mit den Schultern. »Was denn? Sie hat mir vorhin ’ne Nachricht geschickt. Kann ich doch nix für, wenn sie euch nicht informiert.«

»Zeig mal her das Bild.« Randy sprang auf und nahm Mason das Smartphone weg. Ihm wäre es fast wieder aus der Hand gefallen, als er das Foto sah. »Heiliger Strohsack!«

Jetzt wurde auch Danielle hellhörig und richtete sich im Sessel auf. »Also ist doch etwas Auffälliges daran. Es kam mir gleich so bekannt vor.«

»Das kann man so sagen. Kommt her.« Randy setzte sich wieder vor den Computer und öffnete die Bilder, die er heute früh eingescannt hatte. Er blätterte durch, bis er das Gesuchte fand. »Seht euch mal die Schuhe an.«

Mason und Danielle beugten sich je über eine Schulter von Randy und glotzten auf den Monitor. Mason pfiff durch die Zähne als ihm klar wurde, was er da sah.

Das Foto, das Randy ihnen zeigte, war ein ausgeschnittenes Katalogbild. Daneben der Hinweis von Billy: Harrison hat die Schuhe identifiziert, die der Unbekannte trug. Trotz intensiver Recherche konnte ich niemanden finden, der solch ein Paar besitzt.

 

»Das bezieht sich auf den Unbekannten, den Harrison in der Nacht des Mordes gesehen hat«, sagte Danielle. »Der, der mit dem Super-8-Film an ihm vorbeigelaufen ist.«

»Richtig«, sagte Randy. »Und nun wissen wir auch, wer es war. Der verstorbene Direktor.«

Danielle sah sich noch einmal das Handyfoto an, das sie geschossen hatte. »Es sind definitiv die gleichen Schuhe, aber das kann doch auch Zufall sein, meinst du nicht?«

»Zufall? Ernsthaft? Das Foto von dem Direktor wurde am Abend des Mordes aufgenommen. Das hat dieser Phil doch erzählt, oder?«

»Ja. Das Shooting fand einen Tag vor dem Wettbewerb statt, also in der Nacht, in der Marietta und die anderen eingebrochen sind.«

»Das passt doch wie die Faust aufs Auge. Der feine Herr Direktor trug die Schuhe noch von dem Shooting, als er aus der Schule kam – und Harrison hat ihn gesehen. Vielleicht musste er die Schuhe zurückgeben oder so und deshalb haben die 84er nie einen Hinweis darauf gefunden.«

Mason schürzte die Lippen. »Möglich.« Dann lächelte er Randy an. »Gute Arbeit, Alter.«

»Danke aber das war Danielles Verdienst.«

»Jetzt müssten wir nur noch wissen, was der Direktor mit dem Film gemacht hat.«

»Vielleicht können wir uns in seinem Haus umsehen«, sagte Danielle. »Mum hat mir geschrieben, dass wir morgen zur Gedenkfeier des Direktors eingeladen sind. Bei ihm daheim.«

»Warum das?«, fragte Mason.

»Keine Ahnung. Weil wir ständig auf irgendwelche Feiern eingeladen sind. So ist das eben. Doch diesmal könnte ich die Chance nutzen und mich etwas umsehen.«

»Einer von uns sollte mit«, sagte Randy. »Vier Augen sehen mehr als zwei.«

»Dann mach du das«, sagte Mason sofort. Randy war klar, warum sein Freund nicht mitgehen wollte. Er war der Drogenjunge, der Sportversager, der Loser vom Dienst und niemand, der gerne in so einer feinen Gesellschaft gesehen wurde.

»Ich habe leider keinen Anzug«, sagte Randy. »Also wirst du gehen.«

»Aber ich kann da nicht …«

Das Poltern von oben unterbrach Mason. Einige Augenblicke später kam Olivia hereingestürzt. Sie war außer Atem, als wäre sie die letzten Blocks gerannt, aber soweit Randy wusste, war ihr Auto wieder intakt, nachdem er darauf gelandet war und einen Krater hinterlassen hatte.

»Leute, ich muss mit euch reden.« Fast ohne Luft zu holen erzählte Olivia von dem Wettbewerb, von dem Einbruch in der Galerie und wie wichtig es für sie war, diese Sache aufzuklären. »Wir müssen den Randalierer finden und dafür sorgen, dass der Wettbewerb wie geplant stattfindet.«

»Gibt es denn einen Anhaltspunkt, wer es gewesen sein könnte?«, fragte Randy.

»Chris, der Assistent von Lucian, sagt Nein.«

Randy hätte schwören können, dass Olivia ein kleines bisschen rot wurde, als sie den Namen Chris aussprach, aber vermutlich hatte er sich getäuscht. Sie war zu tough, um rot anzulaufen.

»Ist er süß?«, fragte Danielle, der es offenbar auch nicht entgangen war.

»Wer?«, fragte Olivia.

»Chris.«

»Spielt das eine Rolle?« Olivia sah zu Boden und Randy verstand. Diesen Blick kannte er zu gut. So glotzten die Mädels immer, wenn sie mit Mason sprachen. Oder eher, so hatten sie früher geglotzt, als er noch der Sportheld war. Heute gingen sie ihm eher aus dem Weg.

»Wir müssen diesen Einbruch aufklären«, sagte Olivia. »Bitte, Leute.«

»Und wie?«, fragte Danielle.

»Ganz einfach«, sagte Randy und griff sich eine Lakritzstange aus dem Glas, das er neben den Computermonitor gestellt hatte. Er liebte die Dinger. »Können wir uns irgendwie in der Galerie umsehen?«, fragte er Olivia.

»Vielleicht kann ich Chris kontaktieren und ihn fragen. Auf dem Anmeldebogen zum Wettbewerb stand eine Kontaktnummer. Mit ein bisschen Glück ist es seine. Ich rufe an und vereinbare ein Treffen mit ihm.«

»Dann machen wir das so: Danielle und Mason, ihr geht zu der Gedenkfeier. Und Olivia und ich sehen, was wir wegen des Einbruchs in der Galerie herausfinden können.«

Mason rollte die Augen, aber Randy fand den Plan ziemlich genial und würde sich nicht davon abbringen lassen.

»Was für eine Gedenkfeier?«, fragte Olivia.

»Setz dich«, sagte Mason. »Wir erklären es dir.«

*