Ein MORDs-Team - Der komplette Fall Marietta King

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»Ja, Miss Perkins? Was? Sind Sie sich sicher? Verstehe. Danke.« Der Hörer knallte auf die Gabel des Telefons, das der Anwalt zweifellos aus dem vorherigen Jahrhundert mit herübergerettet hatte.

Jemand sollte ihm sagen, dass Telefone heute kein Kabel mehr haben, dachte Mason.

Zum ersten Mal seit dem Betreten des Raumes wirkte der Anwalt überrascht. »Es scheint so, als sei das Drogenpaket aus der Asservatenkammer des Sheriffs entfernt worden.«

Stille.

»Bitte?«, fragte sein Dad. »Ich verstehe nicht.«

»Um ehrlich zu sein, bin ich auch verblüfft«, gab van Straten zu. »Das war das einzige Beweismittel, das dem Staatsanwalt zur Verfügung stand. Meine Sekretärin hat mich soeben darüber informiert, dass das Verfahren gegen Ihren Sohn eingestellt wurde.«

Sein Dad grinste über das ganze Gesicht. Van Straten wirkte einfach nur perplex, aber nicht unzufrieden. Mason hingegen fühlte sich leer.

»Was ist los?«, fragte sein Dad. »Freust du dich nicht?«

»Freuen?«, erwiderte er wütend. »Was sollte mich daran freuen? Dass die Drogen verschwunden sind, wird sich herumsprechen. Das macht alles nur noch schlimmer! Ich wollte, dass meine Unschuld bewiesen wird. Aber jetzt werde ich ewig der Drogenjunge sein, der eigentlich ins Gefängnis gehört, der aber wegen eines Diebstahls – und so wird es der Sheriff hinstellen – nicht verurteilt worden ist. Damit bin ich endgültig erledigt.«

Mason sprang auf, ließ seinen verdutzten Vater sitzen und rannte davon.

*

Olivia stand in der Dunkelkammer und wartete. Da die Tür nicht abschließbar war, konnte sie nur darauf hoffen, dass ihre Eltern und Geschwister das Betreten-endet-tödlich-Schild an der Tür ernst nahmen. Es war jedes Mal ein Glücksspiel.

Über die Sache mit Mason hatte sie den Wettbewerb ganz vergessen, an dem sie demnächst teilnehmen wollte. Sie warf einen Blick auf die Ausschreibung, die sie aus der Barrington Cove Gazette herausgerissen hatte. Ein Tourismus-Magazin suchte nach Bildern von den Sandstränden Barrington Coves. Da sie grundsätzlich einen leeren Geldbeutel hatte und den letzten Rest ihres Geldes in die Reparatur des Autodachs gesteckt hatte, war das die Gelegenheit.

Natürlich hatte Danielle angeboten, sich an der Reparatur zu beteiligen. Selbstverständlich hatte Olivia abgelehnt. So weit käme es noch, dass sie Geld von ihr annahm.

Sie seufzte.

Bisher war es ihr noch nicht gelungen, den perfekten Moment einzufangen. Und perfekt musste er sein.

Sie hatte die Bilder mit Wäscheklammern an einer Schnur vor der Bretterwand aufgehängt. Zuerst erschienen nur die Umrisse, dann entstanden Kleckse, schließlich Szenen. Es waren jene Bilder, die sie am Strand aufgenommen hatte, bevor sie auf Mason getroffen war.

Olivia lächelte. Die Aufnahmen waren nicht schlecht. Sie hatte den Sandstrand aus mehreren Perspektiven aufgenommen. Auf zwei der Bilder sah man Mason, wie er auf dem Steg stand und traurig auf das Meer hinaus schaute.

Trauriger Junge am Strand. So könnte er mal auf positive Art berühmt werden.

Schließlich kamen noch Aufnahmen von den Holzbohlen des Steges. Überall gab es eingeritzte Herzchen und Zeichnungen.

Olivias Lächeln gefror.

Sie trat näher an eines der Bilder heran. Kein Zweifel: Jemand hatte ein Herz in das Holz geritzt. Im Inneren stand: 1984. Darunter: J.C. + M.K.

Kann es ein Zufall sein? Jamie Collister und Marietta King?

Olivias Gedanken rasten. Das würde erklären, warum der Vater von Mason noch bis vor kurzem nach dem Mörder gesucht hatte.

Er war mit Marietta zusammen. Womöglich hat er sie sogar geliebt?

Dieser Gedanke jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Jeder schien auf irgendeine Art mit dem toten Mädchen in Verbindung zu stehen.

Wer warst du, Marietta?

Olivia wollte es herausfinden. Und dass Randy und Mason das auch wollten, stand außer Frage. Sie griff nach dem Foto. Die Frage war nur, ob das, was sie am Ende finden würden, dem Sportjungen tatsächlich gefallen würde.

*

Jamie Collister ließ seinen Blick über die Terrasse schweifen, auf der er vor wenigen Stunden Shannon getroffen hatte. Dass er so schnell hierher zurückkehren würde, hätte er nicht gedacht. Aber es war notwendig, immerhin durfte jetzt kein Fehler mehr geschehen.

Es war Montagabend und die Dämmerung brach herein. Regentropfen plätscherten auf den See nieder und hinterließen winzige aufspritzende Tropfen, die kreisförmige Wellen auf der Oberfläche erzeugten. Die Woche begann erst, doch Jamie fühlte sich bereits ausgelaugt. In wenigen Tagen begannen die Schulferien. Mason durfte zwar ab morgen wieder am Unterricht teilnehmen, nachdem die Staatsanwaltschaft die Klage hatte fallen lassen, doch sie hatten entschieden, ihn die letzten paar Tage nicht in die Schule zu schicken. Die Drogen-Geschichte war noch zu präsent.

Endlich erklangen die Schritte.

»Du spannst mich also noch immer gerne auf die Folter«, sagte er.

»Aber, Mister Collister«, kam es zurück. »Habe ich Sie jemals enttäuscht?«

Sie lachten beide.

Im Dämmerlicht zeichnete sich die Silhouette eines Mannes ab. In seiner Hand trug er ein Päckchen. »Wenn mich jemand damit erwischt hätte, würde ich jetzt in einer Zelle sitzen.«

Jamie schluckte. Kein Zweifel, mit so einer Menge an Drogenchemikalien wäre sein Sohn auch direkt verurteilt worden. Indizien waren manchmal genug.

»Ich hätte das Zeug auch gleich entsorgen können«, sagte der andere. Er trug eine einfache braune Hose, darüber ein burgunderfarbenes Hemd. Die Kombination tat in den Augen weh, aber irgendwie war das zu einem Markenzeichen von ihm geworden. Sie hatten sich damals kennengelernt, in der Mordnacht.

»Ich will mit meinen eigenen Augen sehen, wie die Beweise gegen meinen Sohn verschwinden«, sagte er. »Keine Hintertür, kein doppelter Boden.«

»Du hast Angst, dass der Graf es sich anders überlegt, was?« Bei diesen Worten wirkte Jamies Gegenüber traurig. »Manche Kämpfe kann man wohl nicht gewinnen.«

»Das mag sein. Aber dieser ist noch nicht vorbei.«

»Ich dachte, du hättest die Beweise vernichtet.«

Jamie lächelte. »Es gibt noch einen letzten Ort, an dem die Informationen zu Marietta sowie alle unsere zusammengetragenen Spuren geschützt aufbewahrt werden. Zusammen mit Unterlagen zu unseren alten Fällen.«

»Wo?«

Er schüttelte den Kopf. »Da Billy tot ist, bin ich der Einzige, der davon weiß. Und so soll es auch bleiben. Momentan muss ich die Füße stillhalten, der Graf lässt mich sicher beobachten. Ich bin ihm einmal zu oft auf die Zehen getreten. Aber diesen Kampf hat er noch nicht gewonnen.«

Seine Gedanken schweiften ab zu dem geheimen Raum in Billys Haus. Sie hatten damals nach dem Tod von Marietta damit begonnen, Informationen zusammenzutragen.

Anfangs hatten sie die Akten in einem Nebenraum der Kanzlei von Harrisons Dad untergebracht. Als dort ein Feuer ausgebrochen war – eindeutig die Handschrift des Grafen –, sah es düster aus. Wohin ausweichen? Welcher Ort war sicher? Dann hatten Billys Eltern das Haus am Stadtrand gekauft, was Shannon, Billy, Harrison und ihn in ein haarsträubendes Abenteuer gestürzt hatte, in dessen Verlauf sie den geheimen Raum entdeckten.

Wer ihn ursprünglich erbaut hatte, wusste Jamie bis heute nicht. Natürlich hatten sie diese Entdeckung niemandem erzählt, sondern begonnen, den Raum in ihr eigenes kleines Reich zu verwandeln. Alle Akten wurden dort aufbewahrt.

Glücklicherweise hatte Mister van Straten bereits Einblick in das Testament von Billy erhalten. Er vererbte sein Haus – und allen verbliebenen weltlichen Besitz – an Jamie. Damit war der geheime Raum einstweilen sicher vor dem Zugriff anderer.

»Vertraust du mir nicht?«

»Doch, das tue ich«, sagte er. »Aber wenn du nichts weißt, kannst du auch nichts versehentlich verraten. Und gerade in deinem Job als Deputy schwebst du doch ständig in irgendeiner Gefahr.«

Sachsen schnaubte. »Die einzige Gefahr kommt von diesem Arschloch Bruker. Ich frage mich immer noch, wie der sich so lange als Sheriff halten konnte. Bei jeder Wiederwahl stimme ich gegen ihn.«

Jamie lachte. »Wo Geld ist, sind auch Stimmen. Die Reichen und Mächtigen unterstützen ihn, weil er den Status quo erhält. Es würde mich nicht wundern, wenn auch der Graf Geld in seine Tasche fließen lässt, denn ein inkompetenter Sheriff kommt ihm sehr zugute. Der Einzige, der dem Grafen noch Paroli bietet und den Sheriff ordentlich an die Kandare nimmt, ist der Bürgermeister.«

Sachsen nickte. »Gerade heute hat er ihn wieder zur Sau gemacht. Irgendeine Sache im Crest Point. Es ist immer eine Freude, wenn ich den Bürgermeister zu Bruker durchstellen darf. – Unsere Sekretärin ist mehr damit beschäftigt, sich die Nägel zu lackieren als ihren Job zu tun.«

Beide lachten.

»Also schön, ich lasse dieses Paket bei dir«, sagte Deputy Sachsen. »Meine Spuren sind verwischt, niemand wird darauf kommen, dass der trottelige gutmütige Sachsen etwas aus der Asservatenkammer hat verschwinden lassen. Dein Sohn ist sicher. Und ich halte ein Auge auf ihn gerichtet. Momentan scheint er sich ja ständig in irgendwelche Probleme zu stürzen.«

»Er hat es nicht leicht, seit …«

»Ich weiß«, unterbrach Sachsen. »Mach‘s gut, Jamie.«

Und schon war er wieder alleine.

Sein Blick fiel auf das Paket.

Nur das Plätschern der Regentropfen war noch zu hören, dazwischen die Schreie einiger Vögel. Der Geruch von nassem Laub lag in der Luft.

 

Jamie nahm das Paket auf und ging in die Hütte.

*

Ein Montagabend,

Im geheimen Raum des Tarnowski-Hauses

»Also schön, ich bin dabei«, sagte Danielle. Sie saß in ihrem Lieblingssessel und hatte die Beine übereinandergeschlagen. Ihr iPhone hatte zwar keinen Empfang, doch sie hielt es trotzdem in der Rechten – vermutlich ein Reflex.

Randy grinste über beide Ohren und genoss den verblüfften Blick von Mason und Olivia nach Danielles Aussage.

»Das ist toll«, sagte Mason. Er saß hinter dem Schreibtisch. »Wie kommt's?«

Danielle schaute zu Randy auf, der an einem der Aktenschränke lehnte und die Arme verschränkt vor der Brust hielt. »Sag es ihm.«

»Dein Dad und ihre Mum waren damals dabei, als Marietta starb. Sie waren zwei der Fünf, die in die alte Schule eingebrochen sind.«

Mason wirkte geschockt. »Aber … Unsere Eltern? Beide?«

Danielle und er sahen sich betreten an.

»Ich will wissen, was damals passiert ist«, sagte Danielle. »Es kommt mir vor, als wäre meine Mutter eine ganz andere gewesen. Irgendetwas muss passiert sein, das sie so sehr verändert hat.«

Randy konnte ihr da im Stillen nur zustimmen. Als sie das herrschaftliche Anwesen der Holts verlassen hatten, waren sie auch auf Shannon Holt gestoßen. Die Frau war betrunken und wollte ihre Tochter davon abhalten, mit Randy – dem Freund dieses Drogenjungen Collister – mitzugehen. Danielle allerdings hatte ihre Mutter einfach ignoriert. Selbst die Drohung, dass ihr Vater alles erfahren würde, war vergeblich gewesen.

»Das ist nicht alles«, sagte Olivia. Sie war bisher auffallend ruhig gewesen. Nun zog sie ein Foto aus der Tasche und schob es Mason über den Tisch. »Das ist ein Bild, das ich am Strand aufgenommen habe – du weißt schon wo. Die Initialen in diesem Herzchen, es könnte natürlich einfach ein Zufall sein, aber nach allem, worauf wir gestoßen sind, glaube ich das nicht.«

Mason sah einen Moment verdutzt auf das Foto, dann riss er die Augen auf. »Mein Dad und Marietta King?«

Randy schnappte sich das Bild. »Oh. Na ja, das ergäbe durchaus Sinn. Ich habe mir die Unterlagen angeschaut. Billy war da sehr gründlich.« Er öffnete einen Aktenschrank und zog ein ledergebundenes Buch hervor. »Er wollte wohl ein Buch über den Mordfall schreiben und veröffentlichen und hat dafür auch Informationen über seine Freunde aus der Zeit vor dem Fall zusammengetragen.«

»Und?«, fragte Mason.

»Dein Dad und Marietta waren tatsächlich kurze Zeit ein Paar. Mehr steht da aber nicht drin. Und … na ja. Dann kam er mit Shannon zusammen.«

»Was?!«, riefen Mason und Danielle gleichzeitig.

Randy zog die Schultern ein. »Sorry, ich dachte, ich warte auf den richtigen Moment, um es euch zu sagen.«

Er sah den beiden an, dass das Kopfkino einsetzte. Beide verzogen angeekelt die Lippen.

»Auf jeden Fall steht hier drin einiges«, sagte Randy schnell, um das Thema zu wechseln. »Es beginnt mit einem Erlebnisbericht von Harrison Lebovitz. Er war einer der 84er. Als sie in die Schule einbrachen, stand er Schmiere.« Randy bekam eine Gänsehaut. »Stellt euch das nur vor, nachts alleine in der Schulaula zu stehen. Gruselig.«

Olivia trat neben ihn. »Und was hat er mitbekommen?«

»Nicht viel«, erklärte Randy. »Er hat es tatsächlich geschafft, einzudösen. Dann kam ein Unbekannter die Treppen runter. Harrison hat sich versteckt. Er konnte aber sehen, dass dieser jemand ein Super-8-Band bei sich trug und sehr auffällige Schuhe anhatte.« Er deutete auf ein Katalogbild, das jemand ausgeschnitten und neben den Bericht geklebt hatte. »Kurz darauf haben die anderen ihm gesagt, er soll abhauen.«

»Nicht sehr aufschlussreich«, sagte Mason.

»Stimmt«, gab Randy zu. »Aber immerhin ein Anfang. Billy hat wohl jeden seiner Freunde aufschreiben lassen, wie er diese Nacht erlebt hat, und das dann zusammengetragen. So entsteht ein vollständiges Bild, wenn man alle Berichte gelesen hat.«

»Dann lies weiter.«

»Mache ich ja«, sagte Randy. »Allerdings ist das nicht so leicht. Die hatten damals echt eine Sauklaue und dazwischen gibt es seitenlange Notizen, Querverweise, Bilder und eingeklebte Kopien. Es wird eine Weile dauern, bis ich mich da durchgearbeitet habe.«

Olivia schlug ihm auf die Schulter. »Viel Spaß. Ich würde sagen, du bist ab sofort für die Recherche im Mordfall King zuständig und gehst das alles durch.«

»Bin dafür«, sagte Danielle.

»Tolle Idee«, warf Mason ein.

Randy verdrehte die Augen. »Na, vielen Dank auch.« Innerlich freute er sich natürlich darüber. In alten Akten zu wühlen machte ihm Spaß – zumindest bis zu einem gewissen Grad. »Ich werde alles einscannen, was ich mir ansehe, mit Schlagworten versehen und in einer verschlüsselten Datei abspeichern. Dann können wir nach und nach über Stichworte die Dateien durchsuchen.«

»Gute Idee.« Mason grinste. »Ich wusste, du bist der Richtige dafür.«

»Es sind übrigens nicht alles Akten zu Marietta King«, sagte Randy. »Die 84er haben eine Menge Zeug erlebt und alles aufgeschrieben. Zum einen in ihrer Zeit als Schüler und später dann auf dem College. Ich habe nur mal Stichproben gemacht, aber dieser seltsame Graf, mit dem dein Dad im Steinbruch gesprochen hat, kam auch öfter vor.«

»Wir müssen höllisch aufpassen«, sagte Olivia. »Nehmt das bitte ernst. Wir haben es hier nicht nur mit einem uralten Mordfall zu tun, der Mörder läuft auch noch dort draußen rum. Und mit einem Gangsterboss, der so lange unentdeckt bleiben konnte, ist auch nicht zu spaßen.«

»Gemeinsam schaffen wir das«, sagte Randy optimistisch. »Und hey: Wenn ich das sage, der aus dem Fenster geflogen ist, gibt es keine Widerworte!«

»Schon gut.«

»Mein Dad darf von alldem nichts erfahren«, sagte Mason. Besorgt knetete er seine Finger. »Er hat viel riskiert, um mir zu helfen. Wenn er erfährt, dass wir an der Sache dran sind, wird er alles tun, um uns zu stoppen. Immerhin hat er seine gesamten Aufzeichnungen zu dem Fall weggegeben, um uns zu schützen.«

»Das Gleiche gilt für meine Mum«, sagte Danielle.

Randy zuckte die Schultern. »Dann also geheim.«

Sie waren sich einig.

»Jetzt schau nicht so«, sagte Randy zu Mason. »Die Drogen sind weg, das Verfahren eingestellt. Du solltest glücklich sein. Und nach den Sommerferien denkt keine Sau mehr daran.«

In Wahrheit war Randy sich da nicht so sicher. Barrington Cove hatte die unangenehme Eigenschaft, dass nichts wirklich vergessen wurde. Im Falle von Mason konnte er nur hoffen, dass er sich irrte.

Mason schwieg.

»Also schön, dann werde ich mir mal überlegen, wie wir hier unten ein wenig Farbe ins Spiel bringen«, sagte Danielle. »Die Vorhänge da müssen raus. Und die Couchbezüge gehen ja mal gar nicht. Vielleicht noch ein paar andere Bilder an die Wand. Und denkt nicht mal an halbnackte Models, ihr zwei.«

Mason wurde rot.

»Außerdem brauchen wir dringend eine Verbindung zum Netz«, sagte Randy, nachdem er ein weiteres Mal auf sein Smartphone-Display gestarrt hatte. Wenn Sie Zugriff zu einem Server wollten, um die Daten sicher auszulagern – man wusste ja nie, was hier unten geschehen konnte, vielleicht stürzte der Raum irgendwann ein –, benötigten sie eine ordentliche Internetverbindung. »Ich habe oben einen Router gesehen. Ein, zwei Verstärker – und wir haben eine Verbindung. Ich hab auch noch einen alten Computer, den ich hier reinstellen kann. Und ’nen Scanner.«

»Wenn ich es mir recht überlege, könnte ich hier eine schöne Dunkelkammer für das Entwickeln von Fotos einrichten«, dachte Olivia laut. »Da besteht wenigstens nicht die Gefahr, dass jemand mittendrin die Tür aufreißt. Und das Zeug hierher zu bringen ist keine große Sache. Das könnte ich morgen gleich anpacken. Und da ja bald Ferien sind …« Sie zwinkerte.

Mason schaute von einem zum anderen. »Na ja, dann sorge ich für ein wenig Lesestoff oder so. Und koordiniere alles. Vielleicht hole ich auch ein paar Sportgeräte?« Es war schnell ersichtlich, dass Mason keine Ahnung hatte, wie er sich beteiligen konnte.

Randy grinste. »Keine Angst. Wir teilen das schön auf. Ich«, er zeigte auf seine Brust, »Hirn. Du«, er zeigte auf Mason, »Muskeln. Wer, denkst du, wird den Rechner schleppen?«

Mason knurrte und stürzte sich auf den Freund.

Ein Gerangel entstand.

»Jungs«, sagte Danielle.

»Das wird ein Spaß«, seufzte Olivia.

Beide grinsten sich an und brachen in Lachen aus, während Mason Randy eine Kopfnuss verpasste.

*

Epilog I – Lose Enden

Es war schon ein Ärgernis. Zwei Tage lang hatte Elisabeth nun wegen der falschen Medikamente fast ständig geschlafen. Ohne ihre kleine Danielle wäre dieser Irrtum niemals aufgeflogen. Sie war dem Kind ja so dankbar.

Was sonst wohl passiert wäre?

Bisher war sie mit der Behandlung hier, im Pflegeheim Zur rüstigen Eiche, durchaus zufrieden gewesen. Jetzt fühlte sie sich unsicher. Konnte ein solcher Fehler noch einmal vorkommen?

Elisabeth seufzte.

Danielle hatte bereits angekündigt, dass sie morgen noch einmal vorbeischauen wollte. Sie freute sich darauf, das Kind wiederzusehen, mit ihr zu plaudern und vielleicht ein wenig Schach zu spielen. Bei einer solchen Partie rauchten die Köpfe und die Lebensgeister kehrten zurück.

Es machte Elisabeth traurig, dass Danielle nun in diesem großen kalten Haus alleine war. Natürlich wusste sie, warum das Heim sie eines Tages abgeholt hatte. In einer Blitzaktion war Danielles Vater sie losgeworden, weil Elisabeth sich eben nicht seinen Regeln hatte unterwerfen wollen.

Shannon war zu schwach, als dass sie sich durchsetzen konnte. Und Danielle? In Elisabeths Enkelin brannte ein Feuer, so viel war klar. Doch wusste sie bereits um ihre eigene Stärke?

Ein Poltern aus dem Nebenzimmer erklang.

Elisabeth schloss die Augen. Nicht nur, dass ihr Körper scheinbar genug davon hatte zu schlafen, sie war derart hellwach, dass sie jedes Geräusch hörte. Dabei war ihr direkter Nachbar normalerweise ein ganz Stiller.

Nur einmal hatte sie kurz mit ihm gesprochen. Natürlich hatte sie ihn erkannt. Der ehemalige Direktor der Barrington Cove High, wo Shannon zur Schule gegangen war, hatte damals intensiven Kontakt zur Familie gehalten, nachdem die beste Freundin von Shannon, Marietta, eines so grässlichen Todes gestorben war.

Elisabeth hatte das Bild gesehen, das am Tatort aufgenommen worden war. Allein der Gedanke, dass ihr kleines Töchterchen ebenfalls dort gewesen war – was nicht alles hätte passieren können! –, hatte ihr damals beinahe eine Ohnmacht beschert. Doch Shannon war stark gewesen. Sie hatte sich nicht unterkriegen lassen, war ihrem Stern gefolgt, bis … ja, bis zu jenem Tag, als sich alles veränderte.

Abermals riss ein Poltern sie aus den Gedanken.

Wütend donnerte Elisabeth mit der Faust gegen die Wand. »Ich versuche hier zu schlafen!«

Scheinbar besaß der alte Zausel noch so etwas wie Anstand. Der Lärm endete.

»Na also, geht doch.«

Sie drehte sich zur Seite und versank erneut in Gedanken.

Auf der anderen Seite der Wand streckte der Direktor zitternd die Hand aus, als könne er seine Nachbarin alleine dadurch auf das Grauen aufmerksam machen, das er gerade durchleiden musste.

Die Schlinge um seinen Hals saß fest.

»Warum haben Sie das getan, hm?«, erklang ein Flüstern neben seinem linken Ohr. »All die Jahre haben Sie geschwiegen und es ging Ihnen gut damit.«

Er wollte antworten, doch die Schlinge verhinderte, dass ein Ton seinen Hals verließ. Die Luft wurde knapp, rote Punkte führten einen grausamen Reigen vor seinen Augen auf.

»Mussten Sie unbedingt den Priester anrufen?«, hauchte die Stimme. »Und dachten Sie tatsächlich, dass ich das nicht bemerke? Oh ja, Direktor, ich habe Sie niemals aus den Augen gelassen. Seit damals, seit jener Nacht, als es geschehen ist.«

Die Schlinge wurde noch fester zugezogen. Der Direktor versuchte sie zu lösen, doch seine Finger kamen einfach nicht unter den hauchdünnen Draht. Er strampelte, ging zu Boden.

Sein Peiniger aber wich keinen Deut zur Seite.

Tränen lösten sich aus seinen Augenwinkeln. Er bereute längst, was er damals getan hatte. Zuerst war es der Schock gewesen, dann die Panik und schließlich Kalkül. Die Schülerin war schließlich tot, was brachte es schon, wenn er den Mörder offenbarte – nichts. Stattdessen hatte er dafür gesorgt, dass sein Schweigen entlohnt wurde. Die Super-8-Aufnahme war sicher verwahrt, war es bis heute. Leider wusste außer ihm niemand, wo sie sich befand. Damit war der letzte Beweis, der den Mörder überführen konnte, für alle Zeit begraben.

 

Mittlerweile fraß der Krebs sich durch die Eingeweide des Direktors, und vor dem letzten Atemzug hatte er sein Gewissen einem Priester gegenüber erleichtern wollen. Das Telefonat war heute Mittag erfolgt, morgen früh hätte die Beichte abgenommen werden sollen.

»Marietta King ist tot«, zischte die Stimme hasserfüllt. »Tot, verdammt noch eins. Es war notwendig, wissen Sie. Genau wie ihr Ableben es nun ist, Herr Direktor. Sie sind der Letzte, der die Wahrheit kennt. Der Letzte in einer langen Linie. Ich hoffe, es ist Ihnen ein Trost, dass Ihr Tod die Geschichte beendet.« Ein weiterer Ruck.

Blutrote Schlieren liefen über sein Gesicht, alles verschwamm. Beinahe hatte er das Gefühl, dass der hauchdünne Draht Haut, Fleisch und Knochen durchschnitt. Das also war die Strafe für sein Schweigen.

»Ruhen Sie in Frieden, Direktor«, erklang die Stimme ein letztes Mal. »Und grüßen Sie mir Marietta.«

Dann verschwand die Umgebung und der Direktor fiel in ewige Schwärze.

*