Ein MORDs-Team - Der komplette Fall Marietta King

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»Wir sollten besser still sein, immerhin kann Thompkins jederzeit auftauchen«, sagte Randy schnell.

Sie kauerten zwischen zwei Sträuchern. Es war der gleiche Platz, den Mason und er schon heute Mittag verwendet hatten. Von hier aus hatten sie einen wunderbaren Ausblick.

Randy war so darauf konzentriert, Crest Point zu beobachten, dass er zusammenzuckte, als Mason sich keuchend zwischen ihn und Olivia schob.

»Sorry, ich bin eingepennt«, sagte er. »Kein Wunder, dass so viele Touris unsere Strände unsicher machen, das Meer ist einfach zu idyllisch.«

»Alter, du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der unter Druck am besten schläft. Gib mir vor der nächsten Klausur was davon ab.«

»Wozu, du schreibst doch eh nur Einsen.«

Tief unter ihnen hatten die beliebtesten Plätze sich geleert. Gerade ging das letzte Pärchen, das am hartnäckigsten gewesen war, eng umschlungen davon.

»Wurde ja auch Zeit«, sagte Danielle schnippisch. »Manche Leute sollten sich ein Zimmer nehmen.«

Sie warteten.

Und warteten.

Und warteten.

Irgendwann zog Danielle ihr funkelnagelneues Smartphone heraus und begann damit, irgendein Quiz zu spielen. Randy döste ein wenig, während Mason aufmerksam durch den Feldstecher sah. Olivia hielt das Richtmikrofon und lauschte gespannt in den Kopfhörer.

»Und?«, fragte Mason.

»Bisher nur irgendwelche Vögel.« Sie runzelte die Stirn. »Warte mal, da ist was.«

Mason schaute sofort in die angegebene Richtung. Tatsächlich kam dort jemand von der gegenüberliegenden Seite zwischen zwei Reihen dicht beieinander stehender Steine auf die kleine zentrale Fläche gelaufen, die leicht erhöht lag.

»Das ist nicht Thompkins«, sagte Mason. »Das passt nicht von der Statur. Der Typ dort ist größer. Aber ich kann sein Gesicht nicht erkennen.«

Der Unbekannte wartete.

Es dauerte nur Minuten, da hielt ein Auto in der Nähe der Büsche, zwischen denen die Freunde kauerten. Thompkins und zwei seiner Lakaien stiegen aus.

Was wollen die mit dem Lautsprecher? Der ist so groß wie ein Koffer, damit könnten die den ganzen Crest Point beschallen.

Das Trio stieg den Pfad hinab.

Mason gab Randy einen Schubs. Der Freund war sofort hellwach. Danielle verstaute ihr Handy und sie scharten sich alle um Olivia, um kein Wort zu verpassen, das dort unten gesprochen wurde.

»Wartet, ich lass die Übertragung von ’ner App ausgeben«, sagte Randy. Schnell konfigurierte er die Verbindung, worauf leise Stimmen aus dem Lautsprecher klangen. »Das ist besser.«

Mason legte den Feldstecher zur Seite.

»Ich hatte schon befürchtet, dass Sie nicht kommen würden«, sagte Thompkins. »Darüber wäre mein Boss sehr verärgert gewesen.«

»Keine Sorge, ich habe Ihre Nachricht klar und deutlich verstanden.«

Mason zuckte zusammen.

»Ist das dein Dad?!«, fragte Randy fassungslos.

Mason nickte nur, unfähig, etwas zu erwidern.

»Es wäre nicht notwendig gewesen, seinen besten Freund aus einem Fenster zu werfen.«

Thompkins lachte. »Sie sollten froh sein, eigentlich wäre ihr Sohn der Glückliche gewesen. Leider war er nicht greifbar, daher musste ich improvisieren. Hätten Sie nur reagiert, als die Drogen bei Mason gefunden wurden.«

»Ich bin hier, oder nicht?«

Im Hintergrund erklangen seltsame Geräusche. Mason schaute durch den Feldstecher, während sein ganzer Körper sich anfühlte, als wäre er in Eiswasser getaucht worden. »Die haben den Lautsprecher aufgestellt«, erklärte er den anderen.

Zwar hatten Thompkins und seine Leute eine Taschenlampe, Masons Dad ebenso, doch die Erhebung war einfach zu weit entfernt. »Und jetzt steckt einer ein Pad auf die Lautsprecherbox.«

Augenblicke später erhellte sich das Pad, was für Mason aussah, als würde weit entfernt eine quadratische Fläche aufleuchten.

»Guten Abend, Mister Collister«, erklang eine seltsam verzerrte Stimme mit deutlichem englischen Akzent. »Nach so vielen Jahren stehen wir uns also endlich gegenüber, mag es auch nur über eine audiovisuelle LTE-Verbindung sein.«

Mason bekam eine Gänsehaut. Die Stimme wurde von einem Vocoder verzerrt, war aber eindeutig männlich.

»Ich hatte immer gehofft, dass Sie in Handschellen abgeführt werden, wenn wir uns das erste Mal begegnen.«

»Aber, aber«, ein Lachen erklang, »wer wird denn so unfreundlich sein? Sie und Ihre kleine Bande haben sich jahrelang redlich Mühe gegeben, meine Identität aufzudecken, dem zolle ich Hochachtung. Nur deshalb habe ich niemanden verschwinden lassen. – Doch unterschätzen Sie mich nicht. Die Zeit der Spiele ist lange vorbei.«

»Das haben Sie deutlich gemacht«, sagte sein Dad. »Meinem Sohn Drogen in den Spind zu schmuggeln, war eine widerliche Idee.«

»Kollateralschaden nennt man so etwas. Nach all den Abenteuern sollten Sie sich an so etwas gewöhnt haben. Ich erinnere mich an eine Zeit auf dem College, als Sie und Ihre Freunde recht übermütig wurden. Der arme Harrison wäre beinahe … zu Schaden gekommen. Wann war das gleich, '86?«

Mason zuckte zusammen. Wer immer dieser Kerl war, der da mit seinem Dad sprach, er hasste ihn schon jetzt.

»Es ist mein Sohn!«

»Und damit dürften wir alle wissen, wo wir gerade stehen. Wie ich sehe, haben Sie den Koffer dabei. Gehe ich richtig in der Annahme, dass sich darin alle Unterlagen zum Fall Marietta King befinden?« Stille. »Mister Collister?!«

»Ich habe alle Dateien gelöscht. Das hier sind Ausdrucke aller Unterlagen, die ich über die letzten Jahre gesammelt habe.« Er schnaubte. »Warum tun Sie das? Ich dachte immer, dass Sie auch daran interessiert sind, den Mordfall aufzuklären. Mögen Sie auch die Unterwelt der Stadt unter Ihre Kontrolle gebracht und mehr schmutzige Dinge gedreht haben als der größte Meisterverbrecher der Geschichte, haben Sie doch auch immer nach Beweisen gesucht.«

Mason beobachtete, wie Thompkins den Koffer entgegennahm. Wenn sein Dad wirklich glaubte, dass sich darin alle Unterlagen befanden und auch der seltsame Kerl auf dem Monitor davon ausging, wusste keiner der beiden von dem geheimen Raum im Tarnowski-Haus.

»Das hat Sie nicht zu interessieren«, sagte der Unbekannte. »Ihre Zeit als Hobbydetektiv ist vorbei und Marietta King – möge Sie in Frieden ruhen – wird als ewig ungelöster Mordfall in die Geschichte eingehen. Habe ich Ihr Wort, das Sie in dieser Sache nicht weiter ermitteln?«

»Wenn Sie die Finger von meinem Sohn und all seinen Freunden lassen, haben Sie mein Wort.«

»Ausgezeichnet.« Ein Klatschen erklang. »Dann haben wir einen Deal. Da ihre Freunde von damals tot sind oder die Spurensuche längst aufgegeben haben, werden keine weiteren Maßnahmen mehr notwendig sein. Sie dürfen also davon ausgehen, dass niemand mehr aus einem Fenster stürzt. Genießen Sie das Familienleben, das haben Sie sich redlich verdient.«

»Was ist mit der Entlastung meines Sohnes?«

Der Unbekannte lachte. »Sie waren in der Vergangenheit stets überaus einfallsreich, wenn es darum ging, ein Ziel zu erreichen. Zweifellos werden Sie das wieder schaffen. Es ist nicht meine Aufgabe, ein Problem zu lösen, das nur deshalb entstanden ist, weil Sie störrisch waren.«

»Sie Bastard!«

»Vorsicht, Mister Collister.« Die Stimme bekam einen gefährlichen Klang. »Vergessen Sie niemals, mit wem Sie sprechen. Ich weiß alles, ich sehe alles, ich bin überall und nirgends. In dreißig Jahren ist es Ihnen nicht gelungen, meine Identität aufzudecken. Vielleicht bin ich Ihr Nachbar oder ihr Chef oder der Direktor Ihres Sohnes.« Ein metallisches Lachen drang aus dem Lautsprecher. »Ich hoffe, dass wir nie wieder Kontakt aufnehmen müssen. Andernfalls fürchte ich, wird es für Sie nicht so glimpflich ausgehen.«

Der Monitor erlosch.

»Ähm«, meldete sich Danielle. »Also wenn wir den Sheriff noch benachrichtigen wollen, damit er Thompkins auf frischer Tat ertappt, dann müssten wir das jetzt tun.«

Mason funkelte sie an. »Das dort unten ist mein Dad, wir werden auf keinen Fall den Sheriff rufen! Außerdem hat keiner dort unten etwas Illegales getan, oder hast du was anderes gesehen?«

»Es scheint sich alles um diese Marietta King zu drehen«, sagte Randy, das Kinn auf die Handflächen gestützt. »Tarnowski hat auch jahrelang gesucht, deinem Dad aber scheinbar nichts davon erzählt.«

»Oder er hat so getan, als wären das alle Unterlagen, während er in Wahrheit eingeweiht war.«

»Glaube ich nicht«, sagte Randy. »Er würde nicht dein Leben aufs Spiel setzen. Eher hätte er das ganze Tarnowski-Haus abgefackelt.«

»Ist euch eigentlich klar, dass es dort draußen jemanden gibt, der die Ermittlung im King-Fall unter allen Umständen aufhalten will?«, sagte Olivia. »Ich meine: Er hat dir Drogen untergeschoben, Mason. Und du, Randy, wurdest aus dem Fenster geworfen.«

»Das heißt, wir müssen sehr vorsichtig sein, wenn wir ihn finden wollen«, sagte Mason leise.

»Ihn finden?«, echote Danielle. »Hast du gerade nicht zugehört? Dein Dad und seine Freunde haben dreißig Jahre lang versucht, diesen seltsamen Mordfall aufzuklären und diesen Typen dingfest zu machen. Keines von beiden ist ihnen gelungen. Warum glaubst du, sollten wir mehr Glück haben?«

»Jetzt verstehe ich«, murmelte Randy. »Vorhin habe ich mir die Unterlagen angeschaut, die Tarnowski gesammelt hat. Da war auch ein Bild dabei, auf dem Marietta King als Mädchen drauf war. Einer der Jungs kam mir irgendwie bekannt vor. Das war dein Dad, Mason. Er war mit ihr befreundet.«

Olivia nahm die Kopfhörer ab. »Das erklärt, warum sie damals alles versucht haben, um die Sache aufzuklären. Hieß es nicht, dass insgesamt fünf Jugendliche in die Schule eingebrochen sind? Marietta King starb, aber die anderen vier kamen heil wieder raus. Dein Vater war einer davon, Billy Tarnowski auch.«

 

»Bleiben noch zwei übrig«, sagte Randy.

»Das spielt doch gar keine Rolle«, sagte Danielle.

»Natürlich tut es das!« Mason musste sich zusammenreißen, ruhig zu bleiben. »Der Mörder läuft immer noch frei dort draußen herum. Und dieser unbekannte Gangsterboss, der laut meinem Dad die Unterwelt kontrolliert, mischt auch kräftig mit.« Der Gedanke ließ ihn den Kopf schütteln. Olivia hatte Recht, er hatte sein ganzes Leben wohlbehütet und beschützt verbracht, während Barrington Cove und die Menschen um ihn herum nicht das zu sein schienen, was sie vorgaben zu sein.

»Wir sind nicht das FBI«, sagte Danielle. »Was passiert, wenn man sich mit solchen Typen anlegt, haben wir doch mittlerweile gesehen.« Sie deutete auf Randy. »Der Sturz hätte auch übler ausgehen können.«

»Niemand zwingt dich dazu mitzumachen«, erwiderte Mason gereizt. »Bestell dir am besten deinen Chauffeur und lass dich nach Hause fahren, in euer kleines Schloss.«

Danielle schluckte. Für einen Augenblick wirkte sie, als ob sie gleich in Tränen ausbrechen würde.

»Tut mir leid«, sagte Mason. »Das war nicht so gemeint.«

»Doch, war es.« Sie funkelte ihn an. »Aber es ist egal, was ich tue, nicht wahr? Ich besorge einen Arzt, der Randy versorgt, stelle unsere Limousine zur Verfügung und klaue den CLS von meinem Dad. Wenn ihr es braucht, ist mein Geld gut genug – bin ich gut genug. Aber ansonsten muss man die verwöhnte reiche Göre nicht ernst nehmen. Viel Erfolg beim Detektiv spielen.« Sie kroch aus dem Gebüsch und rannte davon.

Mason fühlte sich wie das größte Arschloch der Welt. »Ich … Ach, verdammt.«

Selbst Olivia sah zerknirscht aus. »Wir sollten noch einmal mit ihr reden.«

Mason warf einen Blick durch den Feldstecher. »Mein Dad ist weg. Thompkins und seine Leute kommen gerade hoch, wir müssen warten, bis sie fort sind.«

»Wir reden morgen mit ihr.«

Keiner wollte mehr sprechen. Und so warteten sie, bis Thompkins und seine Bande gegangen waren, packten still zusammen und machten sich auf den Weg.

»Also, bis bald«, sagte Olivia und fuhr davon.

Randy nahm das Rad, Mason sein Skateboard.

Crest Point blieb hinter ihnen zurück wie ein Albtraum. Voller Rätsel, die sich nur langsam lichteten.

*

Barrington Cove, ein Montag

Danielle lag in ihrer Hängematte vor dem Fenster und starrte hinaus. Sonnenschein tauchte die Wälder und Wiesen hinter dem Anwesen in helle, kräftige Farben, die Blätter schienen von innen heraus zu leuchten. Wie gerne hätte sie sich jetzt in den Sattel geschwungen, um einfach davonzureiten und alles zu vergessen.

Die Hängematte baumelte in einem kleinen Erker ihres Zimmers an zwei Stangen. Auf dem Fenstersims daneben stand ein Glas mit kühlem Eistee. Wütend schlug sie ihr Buch zu und legte es beiseite. Anstatt sich auf wichtige Dinge zu konzentrieren, drehten sich ihre Gedanken ständig im Kreis.

Die Vorwürfe von Olivia und später Mason hatten sie – obwohl sie es nur ungern zugab – hart getroffen. Bevor sie auf die beiden und Randy getroffen war, war sie mit ihrem Leben eigentlich ganz zufrieden gewesen.

Heute Morgen, als die Putzfrau gekommen war, hatte Danielle sich aber plötzlich sehr unwohl gefühlt. Als ihr Dad dann unfreundlich geworden war, weil Conchetta ein paar Staubflusen auf einem Bilderrahmen übersehen hatte, war das Danielle richtiggehend peinlich gewesen.

Gleichzeitig war sie aber auch wütend über die Doppelmoral. Olivia warf Danielle nicht weniger vor, als dass sie in eine reiche Familie geboren worden war.

Entschuldige, tut mir furchtbar leid!

Mason wiederum spielte sich als cooler Typ auf, dabei hatte er panische Angst davor, seine Unschuld nicht beweisen zu können.

Und dann der Plan, die wahre Identität des Drahtziehers hinter der Drogensache aufzudecken, um damit Masons Unschuld zu beweisen.

Sie schnaubte.

Wie sollte ihnen gelingen, was den anderen vieren dreißig Jahre lang nicht gelungen war? Obendrein würden sie sich dabei in Lebensgefahr begeben, hatte dieser Gangsterboss doch mehr als deutlich gemacht, dass er keinerlei Skrupel kannte, jemanden aus dem Fenster zu werfen – oder verschwinden zu lassen.

Warum müssen alle Jungs immer den Helden spielen?

Masons bester Freund war aus dem Fenster geworfen worden, der Drahtzieher hinter der Sache war ein unbekannter Gangsterboss, und trotzdem wollte er weitermachen.

Vermutlich war ihm nicht klar, was Geld und Macht, vor allem in Kombination, ausrichten konnten. Sie hörte tagtäglich, wie ihr Vater darüber sprach, welche Firma er gerade rechtlich beraten hatte, um dabei zu helfen, Firmenübernahmen durchzuführen. Ständig sprach er davon, wer dadurch gefeuert worden war, wie viel Geld aber auf der anderen Seite in seine Taschen floss und wie stolz er auf Danielles Bruder war, der später die Kanzlei übernehmen sollte. Leben wurden in seinen Statistiken und Verträgen auf Zahlen reduziert.

Glücklicherweise war es nicht aufgefallen, dass sie den CLS aus der Garage ausgeborgt hatte. George war der beste Chauffeur, den sie je gehabt hatten – mit einer Menge Verbindungen. Vermutlich hatte er den Tank wieder aufgefüllt, den Kilometerstand zurückgesetzt und jede Spur verwischt, die darauf hindeuten mochte, dass der Wagen woanders gewesen war als in der Garage.

Seltsamerweise hatte ihr Dad auch nichts dazu gesagt, dass Randy bei Doktor Silverman behandelt worden war. Mit etwas Glück hatte der Doc ihre Mum am Telefon erwischt, und die hatte dem Ganzen im Alkoholrausch keine Beachtung geschenkt.

Damit war sie noch einmal davongekommen.

Trotzdem hatte ihr Dad, weil sie gestern so spät nach Hause gekommen war, das Reiten für drei Tage verboten. Er erwartete Disziplin. Die Regeln, die er aufgestellt hatte, mussten von jedem Familienmitglied befolgt werden.

Und das alles nur wegen Mason.

Sie hätte die Sache auf sich beruhen lassen sollen. Nachdem der Pfleger ihrer Granny ausgetauscht worden war, achtete die Heimleitung ganz besonders darauf, dass sich ein ähnlicher Vorfall nicht mehr ereignete. Andernfalls würde Danielles Vater vermutlich den ganzen Schuppen kaufen und jeden Angestellten an die Luft setzen.

Manchmal war es doch praktisch, dass sie mit seiner Gnadenlosigkeit punkten konnte.

Als es an der Tür klopfte, zuckte Danielle zusammen. Es kam quasi nie vor, dass ihre Mum oder ihr Dad sie tagsüber besuchten.

»Ja?«

Jemand schob die Tür einen Spalt weit auf und steckte seinen Kopf herein.

Randy lächelte schüchtern. Seine Haare wirkten wie immer, als hätte ein Tornado hindurchgetobt. Sein Shirt war etwas zu groß, aber die blaue Slim-fit Jeans saß perfekt.

»Störe ich?«

Im ersten Moment war Danielle zu verblüfft, als dass sie etwas erwidern konnte. »Nein«, sagte sie daher nur.

Randy schob die Tür hinter sich zu. »Nett hast du es hier.« Er ließ den Blick schweifen.

Danielle dachte lieber nicht darüber nach, wie ihr Zimmer mit dem Himmelbett, den Tüllvorhängen und den rosa Kissen auf einem altfranzösischen Sofa auf einen Jungen wirken musste.

Schnell sprang sie aus der Hängematte und wäre dabei beinahe gestolpert. Einen letzten Rest an Würde wahrend, richtete sie sich kerzengerade auf. »Was machst du hier?«

»Na ja.« Er scharrte mit den Schuhspitzen auf dem Boden. »Bei all der Hektik am Wochenende konnte ich mich nicht dafür bedanken, dass du die Limousine organisiert hast. Wer weiß, was sonst passiert wäre.«

»Doktor Silverman hat gesagt, dass du nur einen Schock und Schürfwunden davongetragen hast, du hättest auch so überlebt.«

Randy legte den Kopf zur Seite und sah sie forschend an. »Die Menschen sagen nicht oft ‚Danke‘ zu dir, oder?«

Danielle wurde rot. Dann musste sie lächeln. »Gern geschehen.«

»Schon besser.«

Jetzt grinste er übers ganze Gesicht, was irgendwie niedlich aussah. Nicht, dass sie Interesse an Randy Steinbeck hatte – zumindest keines, das über das einer Freundschaft hinausging –, aber auf eine seltsame Kleiner-Bruder-Art hatte der Nachwuchs-Nerd etwas Goldiges an sich. »Das ändert aber nichts an meiner Meinung.«

Er nahm den Rucksack herunter, kramte einen Moment darin und deutete auf ihren Schreibtisch. »Darf ich?«

Sie nickte.

Randy breitete ein paar alte Polaroids, Zettel und kopierte Unterlagen aus. »Ich war noch einmal im geheimen Raum. Es ist unglaublich, was Billy zusammengesammelt hat.«

»Billy?«

»Hm?« Er sah auf. »Oh, ich meine Billy Tarnowski. Ein paar der ersten Dokumente stammen noch aus dem Jahr 1984. Stell dir das mal vor! Zusammen mit seinen Freunden hat er kurz nach der Ermordung von Marietta mit den Ermittlungen begonnen. Masons Dad war einer der 84er.«

»Die 84er?«

»So nenne ich sie.« Er wedelte mit der Hand. »Das ist doch jetzt egal. Auf jeden Fall haben sie jahrelang einen haarsträubenden Fall nach dem anderen erlebt, während sie versucht haben, den Tod von Marietta King zu lösen. Die Zeitungen waren damals voll davon, es war das Stadtgespräch schlechthin.«

Danielle musste zugeben, dass sie interessiert war, was aber nichts an ihrer Meinung änderte und sie keinesfalls zugeben würde.

Sie setzte sich auf ihren Stuhl, betrachtete die Bilder und bekundete mäßiges Interesse.

»Auf jeden Fall haben die 84er im Verlauf ihrer Ermittlungen herausgefunden, dass es in Barrington Cove einen Mann gibt, der die Unterwelt quasi kontrolliert. Stell dir das nur vor, wir haben unseren eigenen Professor Moriarty.«

»Ist das so was wie Doktor Frankenstein?«

Randy, der gerade Luft geholt hatte, um weiter zu sprechen, hielt inne und starrte sie entsetzt an. »Sag mal, liest du ab und zu auch Bücher?«

»Klar. Vor allem zum Thema Pferde und Boote.«

»Oookay.« Er nickte, als habe sie gerade eine seiner Vermutungen bestätigt. »Moriarty war der Gegenspieler von Sherlock Holmes. Wer das ist, weißt du aber, ja?«

»Klar. Der letzte Film mit Robert Downey jr. war nicht schlecht. Jetzt weiß ich, wen du meinst.«

Jetzt sah Randy so aus, als könne er nur mit Mühe an sich halten. »Okay, ich fange gar nicht erst an.« Er seufzte. »Auf jeden Fall hat er überall hier in der Stadt seine Hand im Spiel, wenn es um dunkle Geschäfte geht. Die 84er haben niemals herausgefunden, wer er ist. Aber, und an der Stelle wird es interessant: Er war auch sehr daran interessiert, den Mord an Marietta King aufzuklären. Er nennt sich übrigens«, Randy hob eines der Polaroids in die Höhe, auf dem die alte Barrington High von außen zu sehen war, »der Graf. Und er hat einen englischen Akzent.«

Sie nahm das Foto entgegen. Hinter einem der Fenster konnte man schemenhaft eine Person ausmachen. Sie konnte nicht einmal erkennen, ob es ein Junge oder ein Mann war. »Das ist ja alles ganz toll, aber damit änderst du meine Meinung nicht.«

Randy grinste, als sei er ein Zauberer, der jetzt, wo die Vorstellung sich dem Ende entgegen neigte, das Kaninchen aus dem Hut zog. »Der Graf hatte einmal, das war Ende der 80er, ein Mädchen vom 84er-Team gekidnappt. Deshalb habe ich mir die mal genauer angesehen. Es war die beste Freundin von Marietta King.«

Danielle verdrehte die Augen. »Okay. Und warum erzählst du mir das alles? Das ist ja echt nett, dass du dir so viel Mühe gibst, aber das ändert meine Meinung nicht.«

»Das Mädchen hieß Shannon Jenkins.«

Und da war es, das Kaninchen.

Oder genauer: der Vorschlaghammer.

Danielle hatte das Gefühl, als hätte Randy gerade ausgeholt und ihr die Faust ins Gesicht gedonnert. »Aber … Jenkins ist der Mädchenname meiner Mum.«

Randy nickte. »Deine Mum ist eine der 84er gewesen, ebenso wie Masons Dad. Sie waren ’ne Zeitlang sogar zusammen und viele Jahre danach noch beste Freunde. Ich weiß nicht, was dann passiert ist, aber irgendwann hat sie sich von dem Team abgewendet.«

Danielle konnte es nicht fassen. Ihre schnapsdrosselige Mutter, die den ganzen Tag Martinis schlürfte und am Pool lag, die ständig versuchte, den armen Poolboy abzuschleppen – der wiederum von ihrem Dad ständig ausgetauscht wurde – und der die Bräune ihrer Haut wichtiger war als die Bürgermeisterwahl, hatte einst mit ihren Freunden in einem Mordfall ermittelt.

 

Erst jetzt bemerkte Danielle, dass Randy ihr ein Foto hinhielt. Sie schnappte es ihm aus der Hand, als wäre es ein Diamant. Tatsächlich: Auf dem vergilbten Polaroid, das mit Selbstauslöser aufgenommen worden war, standen die 84er im geheimen Raum und grinsten in die Kamera.

Danielle konnte es nicht erklären, doch mit einem Mal hatte sie das Gefühl, durch ein Fenster in die Vergangenheit zu blicken und einen Teil ihrer Mutter zu sehen, der vor langer Zeit gestorben war. Das Mädchen auf dem Bild wirkte durchsetzungsstark und energiegeladen, als könne sie es mit der ganzen Welt aufnehmen.

Als sie aufblickte, waren ihre Augen nass.

Randy schaute zerknirscht drein. »Tut mir leid, ich wollte nicht …«

»Schon gut.« Sie winkte ab. »Danke, dass du mir das gezeigt hast.«

»Ich weiß nicht, was eure Eltern begonnen haben«, sagte Randy, »wer Marietta King umgebracht hat oder wer dieser Graf ist, aber es ist noch nicht vorbei.«

»Was meinst du?«

Randy zuckte die Schultern. »Die Drogen in Masons Schrank. Mein ‚Sturz‘ aus dem Fenster. Der geheime Raum mit all diesen Unterlagen und die Verstrickung eurer Eltern in Dinge, die scheinbar heute noch Auswirkungen haben – das können wir nicht einfach so beiseite schieben.«

Danielle starrte auf das Foto. Sie konnte spüren, wie die Neugierde in ihr erwachte. Sie wollte wissen, was ihre Mum und die anderen 84er damals für Abenteuer erlebt hatten. Mason hatte es nicht verdient, dass sein Leben auf dem Altar dieses alten Kampfes zwischen seinem Dad und dem Graf geopfert wurde. Und ja, sie wollte wissen, wer Marietta King – das Mädchen mit den traurigen Augen – umgebracht hatte. Zur Hölle, sie wollte nicht länger hier zu Hause herumsitzen – alleine.

Mit einem Mal wurde ihre Brust eng. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

»Alles okay?«, fragte Randy besorgt.

»Bestens«, sagte sie schnell. »Lass uns nach draußen gehen. Ich zeig dir unseren Garten. Dann reden wir weiter.«

Er musterte sie noch einen Augenblick durchdringend, als würde er überlegen, ob er Hilfe herbeirufen sollte, dann sagte er: »Okay.«

Gemeinsam verließen sie das Zimmer.

*

Eigentlich hatte Mason geglaubt, dass eine derartige Umgebung nur von Regisseuren und Drehbuchautoren erdacht wurde, um eine altehrwürdige Anwaltskanzlei darzustellen. Doch tatsächlich blickten grimmig dreinschauende Männer von in Goldrahmen eingefassten Ölgemälden auf ihn herab. Der Teppich war so tief und flauschig, dass man bei jedem Schritt darin versank und kein Laut zu hören war. Die Wände waren holzvertäfelt. In der Luft lag ein Geruch von Tabak – keine Zigaretten, eher Zigarren.

Sein Dad hatte eine der Computerzeitschriften vom Tisch des Wartebereichs genommen und blätterte lustlos darin. Mason konnte sich auf nichts konzentrieren, stierte einfach mal hierhin und mal dort hin. Wie er diese Warterei hasste.

»Mister van Straten erwartet Sie dann«, sagte eine ältliche Sekretärin, deren grauer Rock vermutlich mit Stahlplatten verstärkt worden war.

Mason schluckte.

Gemeinsam mit seinem Dad trat er in das Büro, das sich nur unwesentlich vom Wartebereich unterschied. Einzig der wuchtige Ebenholzschreibtisch, hinter dem ein schlanker Mann mit grauem Haar thronte, war auffällig.

Das also war der berühmte Mister van Straten, der Rechtsanwalt, auf den sein Vater Stein und Bein schwor. Nach eigener Aussage hatte der ihn schon aus zahlreichen Problemen gehauen – in die er natürlich stets unschuldig geraten war. Mittlerweile konnte sich Mason denken, dass besagte Probleme mit den Ermittlungen der 84er-Clique zu tun hatten.

»Ah, Mister Collister und Sohn.« Er kam um den Schreibtisch herum, schüttelte beide Hände seines Dads – man konnte es auch übertreiben –, ergriff auch kurz Masons rechte Hand und bedeutete ihnen dann, Platz zu nehmen.

Vor ihm auf dem Tisch lag eine aufgeschlagene Akte. »Ich muss zugeben, wir stecken hier in einer Bredouille.« Er warf Mason einen langen Blick zu. »Zuerst die gute Nachricht: Entgegen der ersten Ankündigung des Staatsanwaltes hat sich kein Belastungszeuge gemeldet.«

Aus den Augenwinkeln beobachtete Mason seinen Dad. Der wirkte überrascht und lächelte. »Das ist ja großartig!«

Natürlich musste ihm klar sein, dass der Mann, mit dem er einen Pakt geschlossen hatte, diesen gekauften Zeugen zurückgezogen hatte. Was er nicht wusste, war, dass es sich dabei um Brian Bruker handelte, den Sohn des Sheriffs. Nachdem sein Dad die Unterlagen über Marietta King herausgerückt hatte, sah der Unbekannte aber wohl keine weitere Veranlassung mehr, Mason über diese Schiene ans Leder zu gehen.

»Leider gibt es noch immer das ordentliche Drogenpaket, das man in ihrem Spind gefunden hat, Mister Collister.« Bei diesen Worten richtete sich der unangenehme Blick van Stratens wieder auf ihn. »Dass es sich dabei um illegale Black Flash-Tabletten handelt, macht es nur noch schlimmer. Gerade letzte Woche ist ein Jugendlicher aus Sunforest Cove – unserer lieben Nachbargemeinde – wegen diesem Zeug ins Koma gefallen. Seitdem fährt der Gouverneur eine Nulltoleranz-Politik. Das wurde natürlich an die Bürgermeister- und Sheriff-Ämter weitergegeben.«

Er seufzte schwer. »In Ihrem Fall handelt es sich zwar trotzdem nur um einen Indizienbeweis, aber leider wird er ausreichen, Sie von der Schule zu werfen, und vermutlich fallen auch ein paar Sozialstunden an. Das Eintragen in ihre Schulakte wird zudem dafür sorgen, dass Sie keinen Collegeplatz bekommen.« Er zuckte entschuldigend die Schultern. »Natürlich werde ich entsprechende Gegenargumente anführen und die Beweiskette als Ganzes infrage stellen. Prinzipiell müssen wir den Staatsanwalt allenfalls ein paar Wochen hinhalten. Sobald der Gute merkt, dass der Fall zu teuer wird, wird sich der Anwalt der Staatsanwaltschaft auf einen Vergleich einlassen. Immerhin ist nächstes Jahr Wahljahr, und da wäre eine schlechte Publicity fatal. Und Geld hat die Stadt schließlich nicht zu verschenken.«

»Vergleich?«, fragte Mason. »Aber bedeutet das nicht, dass meine Unschuld nicht bewiesen wird.«

Van Straten bedachte ihn mit einem Hast-du-Idiot-das-auch-schon-kapiert-Blick. »Genau genommen werden Sie sich sogar schuldig bekennen müssen.«

Mason ballte die Fäuste. »Aber ich habe es nicht getan! Es waren nicht meine Drogen!«

»Also das spielt hier nun wirklich keine Rolle«, sagte der Anwalt. »Wenn dieser Fall vor eine Jury wandern sollte, wird man in Ihnen einen ehemaligen Sportler in der Krise sehen. Für die Staatsanwaltschaft ein gefundenes Fressen. Nein, nein. Wir fechten zuerst einen Papierkrieg aus und verzögern, wo es nur geht. Dann kommt die Voranhörung. Ich werde den Richter mit Anträgen zuschütten und am Ende einen Misstrauensantrag stellen. Zu diesem Zeitpunkt werden wir uns mit der Staatsanwaltschaft einigen.« Er sagte es, als sei es bereits beschlossene Sache. »Diese Straftat landet in Ihrer Akte, doch da Sie minderjährig sind, wird sie versiegelt. Sie leisten die Sozialstunden ab, und Ihr Vater«, dabei deutete er auf seinen Dad, »wird Sie in ein Internat stecken. Damit ist diese Sache sauber vom Tisch.«

»Sauber?«, fragte Mason heiser. Was hatte dieser Idiot gleich noch mal studiert? Jura sicher nicht!

»Mister van Straten hat Recht«, sagte sein Dad unerwartet. »Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.«

Für einen Moment war Mason felsenfest davon überzeugt, dass er in irgendeinem seltsamen Traum gefangen war, aus dem er jeden Moment erwachen musste. Gerade sein Dad wusste doch, dass er nichts mit den Drogen zu tun hatte.

Bevor er dem Lackaffen am Schreibtisch die Meinung sagen konnte, klingelte das Telefon. Van Straten nahm ab.