Handbuch Medizinrecht

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7. Kapitel Das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung › E. Anspruchsstruktur und Anspruchskonkretisierung im Einzelfall

E. Anspruchsstruktur und Anspruchskonkretisierung im Einzelfall

7. Kapitel Das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung › E. Anspruchsstruktur und Anspruchskonkretisierung im Einzelfall › I. Allgemeines

I. Allgemeines

162

Die Anspruchsnormen der §§ 20–68 SGB V sind entweder als Anspruch auf Leistungen, als Zielbeschreibung oder schlicht im Thema der Behandlung benannt. Sie sind ziel- oder programmbezogen, siehe hierzu die Ausführungen unter Rn. 96 ff. Dort ist die Konkretisierung der Ansprüche auf Teilhabe durch untergesetzliche Normen behandelt worden.

163

Da aber selbst bei Berücksichtigung der untergesetzlichen Normen, Normverträge, Richtlinien und Beschlüsse nur selten ein zwingender Weg der Subsumtion der Anspruchsgrundlagen möglich ist, erfolgt die Zusprache anstehender medizinischer Maßnahmen auf unterschiedlichem Wege.

164

Entweder erfolgt eine konkrete Leistungsbewilligung durch die Krankenkasse oder eine Konkretisierung des Behandlungsanspruchs des Versicherten durch die Leistungserbringer in der Leistungserbringung selbst.

165

Grundsätzlich sieht § 19 SGB IV vor, dass Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung auf Antrag erbracht werden, soweit nicht anderweitige gesetzliche Regelungen eine unmittelbare Inanspruchnahme vorsehen. § 15 SGB V stellt die Weiche in Richtung Bewilligungsleistungen oder Leistungen durch unmittelbare Inanspruchnahme.

7. Kapitel Das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung › E. Anspruchsstruktur und Anspruchskonkretisierung im Einzelfall › II. Bewilligungsentscheidungen durch die Krankenkasse

II. Bewilligungsentscheidungen durch die Krankenkasse

1. Antragsbedürftige Leistungen

166

Regelmäßig auf Antrag des Versicherten nach § 19 SGB IV entscheidet die Krankenkasse über die Bewilligung von Zahnersatz(-kronen)[1], Krankengeld, häuslicher Hilfe, über die Gewährung von Heil- und Hilfsmitteln oder über Rehabilitationsmaßnahmen.

167

Je nach Ausgestaltung der geltend gemachten Leistungen steht dem Versicherten ein unbedingter, ein antragsabhängiger Anspruch oder insbesondere ein Anspruch auf Ermessensentscheidung zur Leistungsbewilligung zu. Bei Rehabilitationsleistungen bspw. hat der Versicherte regelmäßig Anspruch auf Rehabilitation, während die Entscheidung über die Art, den Zeitpunkt und den Umfang der Leistung unter Berücksichtigung von Wünschen des Versicherten nach § 40 SGB V zu einer Ermessensentscheidung befugt. Ein Antrag ist auch erforderlich vor Behandlung mit neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden mit dem Ziel späterer Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3 SGB V (siehe Rn. 82) sowie beim Einsatz nicht zugelassener Arztmittel – „Off-Label-Use“, „compassionate use“ (siehe Rn. 122 ff. und Rn. 141 ff.), insbesondere nach § 2 Abs. 1a SGB V, wobei der Antrag auch durch den Leistungserbringer gestellt werden kann.

2. Förmliche Anspruchsberechtigung

168

Die Krankenkasse hat die persönlichen Voraussetzungen für den Leistungsanspruch des Versicherten für die Mitgliedschaft oder Familienmitgliedschaft nach den §§ 5–10 SGB V oder sonstige Voraussetzungen wie z.B. Altersgrenzen etc. zu prüfen. Ebenso ist die vorrangige Leistungspflicht z.B. der gesetzlichen Renten-, Unfall- oder Pflegeversicherung auszuschließen. So gewährt § 27a Abs. 1 Nr. 3 SGB V Leistungen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft (ICSI) nur verheirateten Personen.[2] Die Antragsbefugnis hat der Versicherte. In Fällen des § 2 Abs. 1a SGB V kann auch der behandelnde Arzt ohne Schriftformerfordernis Antrag auf Leistungsbewilligung stellen.

3. Vorliegen des Versicherungsfalls

169

Im Mittelpunkt der Prüfung steht der Versicherungsfall. Es müssen die subjektiven und die tatbestandlichen Voraussetzungen für die jeweils in Anspruch zu nehmenden Leistungen nach den materiellen Leistungskomplexen der §§ 20 ff. SGB V vorliegen. Medizinische Sachverhalte sind für die entscheidende Krankenkasse dabei gem. § 275 Abs. 2 SGB V durch den Medizinischen Dienst zu prüfen.

170

Die Leistung erfolgt bei einem zugelassenen Leistungserbringer bzw. Vertragspartner.[3] Bei der Entscheidung sind die Ortswahl und die religiösen Bedürfnisse des Versicherten bei der Auswahl von Leistungserbringern nach § 2 Abs. 3 SGB V zu berücksichtigen.

171

Das sozialverwaltungsrechtliche Verfahren endet mit einem Verwaltungsakt nach §§ 31 f. SGB X.

7. Kapitel Das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung › E. Anspruchsstruktur und Anspruchskonkretisierung im Einzelfall › III. Norm- und Anspruchskonkretisierung durch Inanspruchnahme

III. Norm- und Anspruchskonkretisierung durch Inanspruchnahme

172

Nach § 19 SGB IV und § 15 SGB V ist für die Leistungsbewilligung im Verhältnis des Krankenversicherten zur Krankenkasse grundsätzlich ein Antrag erforderlich. Das Problem aber ist, dass ambulante und stationäre Krankenbehandlung sowie die Anordnung und Verantwortung von Behandlungsleistungen sonstiger Leistungserbringer Massengeschäfte sind, die eine vorherige Bewilligung der Krankenbehandlung im Verhältnis des Krankenversicherten zur Krankenkasse ausschließen. Es handelt sich um Sach- und Dienstleistungen, deren Erbringung die Krankenversicherung dem Versicherungsnehmer gegenüber schuldet. Dies ist der Grund, warum § 15 Abs. 2–6 SGB V das Recht des Versicherten auf unmittelbare Inanspruchnahme der Leistung bei der Krankenbehandlung als Ausnahme von § 19 SGB IV regelt. So wird der Antrag des Versicherten konsequenterweise nicht mehr als eigenständige materiell-rechtliche Anspruchsvoraussetzung[4] angesehen. Ob überhaupt ein konkludenter Antrag vorliegt, kann bestritten werden.

173

Das Versorgungskrankenhaus und der Vertragsarzt sind bei Vorliegen der Voraussetzungen verpflichtet, den Behandlungsanspruch selbst oder durch Anordnung von Behandlungen zu erfüllen. § 15 Abs. 2–6 SGB V verlangt, dass sich der Krankenversicherte durch Chipkarte als Krankenversicherungsnachweis (eGK) gem. § 291 SGB V gegenüber dem Vertragsarzt ausweist. Dieser hat dann selbst zu behandeln oder Leistungen beispielsweise des Krankenhauses zu verordnen. Die Verordnung von Krankenhausleistungen bindet das Krankenhaus nicht unmittelbar. Die Behandlungspflicht folgt vielmehr allein aus der Feststellung der Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit durch den verantwortlichen Krankenhausarzt selbst.[5] Selbst eine entgegenstehende Entscheidung der Krankenkasse lässt die Leistungspflicht des Vertragsarztes oder des Krankenhauses[6] nicht entfallen.

1. Speziell: Der Versicherungsfall der Krankheit

174

Wegen der besonderen Bedeutung wird im Folgenden allein der Versicherungsfall der Krankheit[7] als Leistungsvoraussetzung knapp erörtert und der Leistungsanspruch auf Krankheitsbehandlung[8] gegen Ansprüche auf Vorsorge, Rehabilitation und auf Pflege abgegrenzt.

175

In der anwaltlichen Praxis dürfte die Vertretung von gesetzlich Krankenversicherten mit dem Ziel der Leistungsgewährung sich regelmäßig mit den Voraussetzungen des Versicherungsfalls der Krankheit beschäftigen. Diese können sich bei Krankenhausbehandlungen bspw. auf Fragen der Inanspruchnahme von Krankenhäusern bei chronischen Leiden[9] beziehen, auf Leistung der ästhetischen Medizin/plastischen Chirurgie[10] oder auf Abgrenzungsfragen der ambulanten und stationären Rehabilitation gegenüber Krankenhausbehandlung einerseits oder vertragsärztlichen Behandlungen andererseits.

176

Krankheit kann als regelwidriger körperlicher oder geistiger Zustand mit der Folge der Behandlungsbedürftigkeit und/oder Arbeitsunfähigkeit definiert werden.[11] Sie kann auch auf den Alterungsprozess zurückzuführen sein.[12] Keine Krankheit im Sinne des Gesetzes ist die Befindlichkeitsstörung, z.B. subjektives Unwohlsein ohne pathologische Befunde, wohl aber die nicht selbst überwindbare seelische Störung.[13] Behandlungen durch Lifestyle-Arzneimittel bspw. bei erektiler Dysfunktion werden von der gesetzlichen Krankenversicherung nicht erstattet.[14]

177

Die Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit umfasst im Vorfeld die Diagnosebedürftigkeit.[15] Das Begriffsmerkmal der Behandlungsbedürftigkeit setzt die Behandlungsfähigkeit voraus. Behandlungsfähigkeit bedeutet dabei die zielgerichtete (kausale) Beseitigung einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung, Linderung oder Besserung. Behandlungsbedürftigkeit und Behandlungsfähigkeit fehlen bei sonstigen medizinischen Behandlungen, selbst wenn sie zwingend von Ärzten auszuüben wären. Krankheiten im Sinne des sozialen Krankenversicherungsrechtes sind nur solche, deren Behandlung nicht vorrangig aus anderen Zielen (ästhetisch, kosmetisch, paramedizinisch) begründet wird.[16] Das Behandlungsziel wird ausdrücklich in § 27 Abs. 1 S. 1 SGB V gesetzlich benannt.

 

178

Auf Leistungen besteht dann kein Anspruch, wenn sie auf einem Arbeitsunfall beruhen oder einer Berufskrankheit im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung des SGB VII folgen.[17]

2. Kein Wahlrecht des Patienten

179

Der Patient hat bei der Entscheidung über die Auswahl der konkreten Leistungen kein eigenes Bestimmungsrecht,[18] wohl aber das grundsätzliche Recht der freien Arztwahl nach § 76 Abs. 1 SGB V und der freien Wahl des Krankenhauses.[19] Er ist bei der Bestimmung des Erbringers ver- oder angeordneter Leistungen ebenfalls grundsätzlich frei. Hausärztliche Steuerungsmodelle nach § 73b SGB V verpflichten weder zur Wahl eines Hausarztes noch eines bestimmten Facharztes.[20] § 73b SGB V bindet den Versicherten aber bei Wahl der hausarztzentrierten Versorgung über mindestens ein Jahr an den gewählten teilnehmenden Hausarzt.

3. Inanspruchnahme

180

Da die Inanspruchnahme von zur Verfügung zu stellenden Leistungen nach § 15 Abs. 2 ff. SGB V[21] grundsätzlich als Sachleistung erfolgt, obliegt den Leistungserbringern die u.U. entscheidende Beurteilung, Leistung oder Veranlassung.

181

Nur selten steht im hoch komplexen System aufgrund begrenzter Ressourcen, aber auch begrenzter (Zeit für) Diagnostik eindeutig fest, welche Behandlungsleistungen von wem wann und wie oft zu erbringen oder zu verordnen sind. Selbst bei der Notfallbehandlung steht nicht immer zwingend fest, welches Medikament zu welcher Zeit in welchem Umfang beispielsweise eingenommen werden muss.

182

So haben die Vertragsärzte und die verantwortlichen Krankenhausärzte nach den verfügbaren Erkenntnissen und Regeln der Kunst ein – freilich auf medizinische Fragen beschränktes – Recht, den Behandlungsanspruch des Versicherten zu konkretisieren.[22] In ihrer Entscheidung zugunsten einer bestimmten Therapie haben sie die Hierarchie vorrangiger gegenüber nachrangigen Behandlungsalternativen zu beachten. Eine Krankenhausbehandlung kann z.B. nur veranlasst werden, wenn sie nach den Kriterien der Wirtschaftlichkeit notwendig, zweckmäßig und ausreichend ist und nicht kostengünstiger teilstationär oder ambulant oder als Rehabilitationsleistung erbracht werden kann.

183

Die Normkonkretisierung bei Inanspruchnahme mit leistungsgewährender Entscheidung setzt dabei aber voraus, dass der Vertragsarzt oder Krankenhausarzt die leistungsbestimmenden gesetzlichen Voraussetzungen und untergesetzlichen Normen und Richtlinien bis hin zu den krankheitsbezogenen Leitlinien[23] in seiner Entscheidung berücksichtigt. Die Normkonkretisierung mit der Folge eines hierauf gerichteten Anspruchs des Versicherten setzt die Beachtung der Grundprinzipien der Wirtschaftlichkeit, Zweckmäßigkeit, Notwendigkeit, Wirksamkeit und Qualität voraus. Dies alles stellt einen in der Entscheidungssituation des Arztes hoch komplexen und ex post praktisch nicht mehr reproduzierbare Vorgang dar.[24] Deshalb ist auf eine besondere Sorgfalt bei der Dokumentation der diagnostischen Verfahren und Ergebnisse zu achten. Sie muss einer Überprüfung z.B. des Medizinischen Dienstes (ehemals Medizinischer Dienst der Krankenkassen, MDK) standhalten können.

184

Die Rechtsgrundlage für den Umfang der von der Kasse geschuldeten Krankenbehandlung regelt § 27 Abs. 1 SGB V.[25] In der Konkretisierungsentscheidung des Vertragsarztes oder Krankenhausarztes verwirklicht sich gleichzeitig dessen ärztliche Therapiefreiheit.[26] Die durch den Großen Senat des BSG[27] betonte volle objektive Überprüfbarkeit der Entscheidung des Arztes wird aber unter Bezug auf den subjektiv vorhandenen und geforderten Kenntnisstand des behandelnden Arztes wieder relativiert und in der Folgerechtsprechung dann konkretisiert.[28] Der behandelnde Vertragsarzt als Leistungserbringer bleibt eine zentrale Schlüsselfigur in der Normkonkretisierung auch wenn er nicht als Beauftragter der Krankenkassen zu verstehen ist.[29] Dies bedeutet aber nicht, dass die Leistungserbringer im Sinne öffentlich-rechtlicher Verwaltungsakte gegenüber den Versicherten entscheiden, sondern dass sie – als Leistungsverpflichtete gegenüber den Versicherten, d.h. als ein Element des Sicherstellungssystems – den Leistungsanspruch des Versicherten durch Behandlung oder Verordnung konkretisieren. Der Arzt entscheidet nicht über das „Ob“, d.h. das Bestehen eines Behandlungsanspruches, sondern stellt diesen lediglich fest und dokumentiert das Vorhandensein eines Leistungsanspruchs. Es bedarf keiner vorangehenden Entscheidung und keiner nachträglichen Genehmigung der Krankenkasse.[30] Die grundsätzlich der Krankenkasse obliegende Entscheidung über den Anspruch des Patienten kann nicht beigebracht werden. Ihre Entscheidungsmacht beschränkt sich dementsprechend auf die nachträgliche Überprüfung der Erforderlichkeit.[31] Das BVerfG[32] hatte demgegenüber ausdrücklich das Recht des Vertragsarztes betont, die Leistungsverpflichtung der Krankenkasse im Einzelfall gegenüber dem Patienten zu konkretisieren. Dem Arzt komme dabei nicht nur die Feststellung des Eintrittes des Versicherungsfalles der Krankheit zu, sondern auch und gerade die von ihm zu verantwortende Entscheidung und Überwachung, wie der Bundesgerichtshof im Zusammenhang mit der Anwendbarkeit des § 299 StGB auf Ärzte festgestellt hat.[33] Die bestimmende selbstständige Stellung des Arztes im Rahmen der Leistungskonkretisierung ist zu betonen.[34]

185

Steigende bürokratische Erfordernisse, Honorierungsrisiken und Regressforderungen lassen befürchten, dass die Therapiefreiheit zunehmend zu einem wirkungslosen Postulat verkommt. Die Spannung zwischen Leistungsbegrenzung einerseits und Haftungs- und Regressrisiken andererseits wächst.

186

Die gesetzlich krankenversicherten Patienten haben nur bei Feststellung der Behandlungs- oder Verordnungsbedürftigkeit einen Rechtsanspruch auf diese Dienst- und Sachleistungen. Dies ist die leistungsrechtliche Seite des als Dreiecksverhältnis ausgestalteten Sachleistungsanspruchs (siehe oben Rn. 74 ff.).

187

Der Vertragsarzt oder das Krankenhaus, welches dieser Verpflichtung zuwiderhandelt, steht unter Regress- und Schadensersatzandrohung der Krankenkassen bzw. ihrer Patienten. Vertragsarzt und verantwortlicher Krankenhausarzt (§ 39 SGB V sieht die Krankenhausbehandlung „nach Prüfung durch das Krankenhaus“ vor) haben die Leistungspflicht der Krankenkasse zu konkretisieren. Nur dann, wenn die Leistung bei ex-ante-Betrachtung sich objektiv als nicht erforderlich erweist, entfällt die Bindungswirkung der ärztlichen Entscheidung. Dies gilt auch bei einer durch Täuschung erschlichenen Leistung.[35]

188

Die Verpflichtung durch Inanspruchnahme bedeutet, dass die Leistungserbringer selbst keinen eigenen unmittelbaren Honorierungsanspruch gegenüber dem gesetzlich Krankenversicherten haben. Diese sind frei, solange sie die Leistung nicht rechtswidrig erschlichen hatten. Sie sind gegenüber der Krankenkasse bei rechtswidriger Erschleichung erstattungspflichtig, der Vertragsarzt oder das Krankenhaus ist leistungsberechtigt, solange bei ex-post-Betrachtung nach dem verfügbaren Erkenntnisstand objektiv davon ausgegangen werden konnte, dass ein Behandlungsfall vorlag und die erforderlichen Leistungen veranlasste.

189

Tipp

Als Berater von Vertragsärzten sollte darauf hingewirkt werden, die Leistungsentscheidung gegenüber dem Patienten und die zugrunde liegende Diagnostik peinlich genau zu dokumentieren und damit unangreifbar zu machen.[36]

4. Auswirkungen im Verhältnis zur Krankenkasse

190

Selbstverständlich kann die Krankenkasse die Leistungsberechtigung einzelfallbezogen substantiiert – speziell für die Zukunft – und mit Hilfe des MD in Frage stellen.

a) Anspruchsprüfung durch den MD

191

Da die Krankenkasse den Versicherungsfall, d.h. die medizinischen Voraussetzungen und die Geeignetheit von medizinischen Verfahren, häufig nicht beurteilen kann, hat sie sich bei Zweifeln insoweit des Medizinischen Dienstes zu bedienen. § 275 Abs. 1 und 2 SGB V normiert eine gesetzliche Pflicht. An die gutachterliche Stellungnahme ist die Krankenkasse gleichwohl nicht gebunden.[37]

192

Mit dem MDK-Reformgesetz v. 14.12.2019 hat der Gesetzgeber weitreichende materielle Änderungen vorgenommen.[38] Die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung wurden organisatorisch von den Krankenkassen getrennt,[39] was sich bereits im Namen sichtbar macht; sie stellen künftig keine Arbeitsgemeinschaften der Krankenkassen mehr dar, sondern werden als eigenständige Körperschaft des öffentlichen Rechts einheitlich unter der Bezeichnung „Medizinischer Dienst“ (MD) geführt.

193

Zentrale Änderung stellt die Durchführung und der gesetzliche Umfang von Prüfungen bei Krankenhausbehandlung durch den Medizinischen Dienst gemäß § 275c SGB V dar. Für das Jahr 2020 gilt eine pauschale Prüfquote bis zu 12,5 Prozent (vormals 10 Prozent). Um die Prüfverfahren von Klinikrechnungen zu verringern, gelten ab 2021 quartalsbezogene Prüfquoten je Krankenhaus. Dadurch wird nicht mehr jede möglicherweise falsche Krankenhausrechnung überprüft. Der Prüfumfang durch die von den Krankenkassen beauftragten Medizinischen Dienste korreliert mit der Qualität der Krankenhausabrechnungen. Je höher der Anteil korrekter Rechnungen ist, desto niedriger fällt die Prüfquote im Folgezeitraum aus und umgekehrt (§ 275c Abs. 2 SGB V).[40] Zudem wurde eine Strafzahlung für die Krankenhäuser eingeführt, wenn eine Abrechnung vom MD beanstandet wird (§ 275c Abs. 3 SGB V). Mit der MDKRefG wurde § 275 Abs. 1c SGB V gestrichen. Dieser hatte zum Gegenstand, dass die Prüfung der Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit spätestens sechs Wochen nach Eingang der Abrechnung bei der Krankenkasse zu beantragen und durch den MDK anzuzeigen war. Nunmehr wurde diese Frist auf vier Monate extendiert, um den Kostenträgern mehr Zeit zu gewähren eine gezielte Auswahl der durch den MD zu prüfenden Rechnungen treffen zu können. Unbeschadet der Reform obliegt dem MD im Innenverhältnis zur entscheidenden Krankenkasse alleine die medizinische fachliche Konkretisierung des Leistungsrechts der Versicherten. Ebenfalls neu hinzugekommen sind die sog. Strukturprüfungen nach § 275d SGB V. Bisher wurden strukturelle Voraussetzungen der Leistungserbringung, z.B. die Verfügbarkeit bestimmter Diagnose- oder Behandlungsmöglichkeiten regelhaft im Rahmen von Einzelfallprüfungen durch den MDK geprüft. Dies führte zu erheblichem Aufwand und teils auch zu fehlender Planbarkeit bei den Krankenhäusern wie den Krankenkassen bezüglich der Abrechnungsbefugnis für bestimmte Leistungen. Die Prüfung, ob ein Krankenhaus erforderliche strukturelle Voraussetzungen der Leistungserbringung erfüllt, wird vom MD daher künftig nicht mehr in jedem Einzelfall vorgenommen, sondern in Strukturprüfungen, die in regelmäßigen Abständen durchgeführt werden (§ 275c Abs. 6 Nr. 2 SGB V). Krankenhäuser, die nach einer Strukturprüfung die strukturellen Anforderungen nicht erfüllen, dürfen die Leistungen nicht vereinbaren und nicht abrechnen.

194

Die Krankenkassen haben lediglich Anspruch auf die in § 301 SGB V genannten Sozialdaten, keine weiter gehenden Informationsansprüche. Weder Vertragsärzte noch Krankenhäuser haben eine Berichtspflicht gegenüber der Krankenkasse. Diese eingeschränkten Informationsmöglichkeiten sind strafbewehrt nach § 203 StGB. Die fachlich-medizinische Überprüfung der Behandlungsbedürftigkeit ist dem MD überantwortet. Dieser kann nach § 276 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 SGB V die entsprechenden Sozialdaten anfordern, Auskünfte einholen, Untersuchungen vornehmen und hat der Krankenkasse dann nach § 277 Abs. 1 SGB V die Prüfungsergebnisse zu übermitteln. Auch § 100 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB X gibt kein weiter gehendes Recht. Die Krankenkassen haben kein Einsichtsrecht in die Krankenunterlagen.[41] Soweit Krankenkassen also eigene Bewilligungsentscheidungen durch Verwaltungsakte treffen,[42] haben sie den MD fachlich-medizinisch herbeizuziehen, wenn die ihnen vorliegenden Sozialdaten zur Beurteilung nicht ausreichen.

 

195

Ob der MD die Ergebnisse der Behandlungsfehlerbegutachtung[43] nach § 277 SGB V an die Leistungserbringer offenbaren muss[44], oder nicht[45], ist gegenwärtig umstritten. Für die Beschränkung der Mitteilungspflicht auf sozialmedizinische Begutachtung spricht die verwendete Terminologie in § 277 Abs. 1 SGB V bzgl. Begrifflichkeiten „Ergebnis“ und „Befund“. Beim Ersteren handelt es sich um das Ergebnis hinsichtlich der in Betracht kommenden Leistungen bzw. Leistungsentscheidungen[46], beim Befund um medizinische Angaben, die für die konkrete Leistungsgewährung erforderlich sind.[47] Bei der Beurteilung von Behandlungsfehlern sind aber weder ein „Ergebnis“ hinsichtlich der konkreten Leistung noch sind medizinische Angaben (Befund) die für eine Leistungsgewährung erforderlich sind von Relevanz, sodass die Tatbestandvoraussetzungen der Mitteilungspflicht bei der Begutachtung von Behandlungsfehlern nicht vorlägen. Ferner könne die Ratio der Norm gegen eine Mitteilungspflicht sprechen. In solchen Fällen, in denen der MD einen Behandlungsfehler verneint und hierüber den Leistungserbringer informiert, führe dies dazu, dass dieser als Verursacher eines Schadens über umfassende und weitergehende Informationen verfüge als der/die Geschädigte. In der Folge wäre davon auszugehen, dass die Haftpflichtversicherung eine außergerichtliche Einigung verweigert und den Versicherten der Rechtsweg der außergerichtlichen Klärung faktisch entzogen wird mit der Folge, dass einzig der Klageweg verbleibe. Aber auch im Klageverfahren wirke sich ein negatives Gutachten, welches durch die Haftpflichtversicherung in den Prozess eingeführt wird, für die Versicherten schlecht aus. Dies wiege um so schwerer, da ein solches Gutachten aufgrund einer ergänzenden Fragestellung im anschließenden Ergänzungsgutachten zu einem positiven Gutachten werden könne, dem Versicherten aber faktisch kaum gelingen wird, ein bereits existierendes negatives Gutachten zu entkräften. Gleiches gelte für ein positives Gutachten des MD, welches fachlich fehlerhaft ist und somit zu einem „falsch-positiven“ Gutachten wird. Hier könnten potenzielle Gerichtsverfahren vermieden werden. Im Ergebnis wären Versicherte, die sich an ihre Krankenkasse wenden schlechter gestellt als solche, die ihre Ansprüche eigenständig gegenüber der Versicherung geltend machen, was der Ratio des § 66 SGB V zuwiderliefe.

196

Tipp

Versicherte sollten über ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung und die damit verbunden Möglichkeit, der Übermittlung des Befundes an den Vertragsarzt oder andere Leistungserbringer gemäß § 277 Abs. 1 S. 3 SGB V zu widersprechen, hingewiesen werden.