Handbuch Medizinrecht

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7. Kapitel Das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung › D. System der Anspruchskonkretisierung durch untergesetzliches Recht

D. System der Anspruchskonkretisierung durch untergesetzliches Recht

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Das materielle Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung ist in den §§ 20–68 SGB V festgelegt.[1] Diese Normen bedürfen der Konkretisierung. Die offenen „Anspruchs“-Normen lassen als Rahmenbestimmungen keine unmittelbare Aussage zum konkreten Leistungsanspruch des Versicherten zu. Zum Teil erschöpfen sie sich in der Benennung eines Anspruchs auf eine Maßnahme, zum Teil nennen sie Ziele. Sie sind mit Begriffen wie „Krankenbehandlung“, „Krankenhausbehandlung“ etc. und mit Zielbeschreibungen „um zu“ oder „wenn nicht erreichbar, dann“ gekennzeichnet. Eine Subsumtion des Leistungsanspruchs ist auf dieser Grundlage von Konditional- und Zweckprogrammen nicht möglich.[2] Es bedarf einer Konkretisierung des materiellen Leistungsrechts durch untergesetzliche Normen und über das Verfahrensrecht hinausgehende Regelungen des Leistungserbringungsrechts der §§ 69–140h SGB V.

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Auf der normativen Konkretisierung der Leistungsansprüche beruht dann die konkrete Anspruchskonkretisierung durch Vertragsärzte und Krankenhausärzte gegenüber den Versicherten. Dies wird im Folgenden unter Rn. 162 ff. behandelt.

7. Kapitel Das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung › D. System der Anspruchskonkretisierung durch untergesetzliches Recht › I. Anspruchskonkretisierung durch sonstige Rechtsnormen außerhalb des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung

I. Anspruchskonkretisierung durch sonstige Rechtsnormen außerhalb des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung

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Die Beschränkung und normative Konkretisierung von Leistungsansprüchen ist nicht auf das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung beschränkt. Es finden sich zentrale Bestimmungen bspw. im Arzneimittelgesetz (AMG) oder im Medizinproduktegesetz (MPG) mit den jeweils hierzu im Zusammenhang stehenden Verordnungen. So sind grundsätzlich nur zugelassene Fertigarzneimittel verordnungsfähig. Gleiches gilt für Hilfsmittel oder Medizinprodukte die durch eine CE Kennzeichnung in Verkehr gebracht wurden. Dieser Bereich der Normkonkretisierung kann hier nicht weiter vertieft werden. Auf die Ausführungen in den speziellen Kapiteln des Handbuches wird verwiesen.

7. Kapitel Das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung › D. System der Anspruchskonkretisierung durch untergesetzliches Recht › II. Leistungsvoraussetzungen und -ausschlüsse durch Rechtsverordnungen

II. Leistungsvoraussetzungen und -ausschlüsse durch Rechtsverordnungen

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Zur normativen Konkretisierung von Leistungsansprüchen gehören insbesondere die Rechtsverordnungen des Gesundheitswesens im weiten Sinne. Diese sind – über das Krankenversicherungsrecht hinausgehend – im Wesentlichen in den Bereichen des Ausbildungs-, Weiterbildungs- und Zulassungsrechts,[3] und der Gefahrenabwehr[4] angesiedelt, sowie unmittelbar der Regelung des Umfangs von Krankenversorgungsansprüchen.

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Diese Rechtsverordnungen, deren Aufzählung vorliegend nur auszugsweise erfolgen kann, spielen bei der unmittelbaren Konkretisierung der Leistungsansprüche der Versicherten keine unmittelbare Rolle. Sie regeln die Voraussetzungen, welcher Leistungserbringer unter welchen fachlich-qualitativen Voraussetzungen an welchen Orten mit welchem Personal welche Leistungen erbringen darf. Sie regeln die Anforderungen an die Ausbildung, an die Ausstattung von Räumen, die Voraussetzungen der Medizintechnik und des Einsatzes von Stoffen, speziell Gefahrstoffen.

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Vornehmlich der Sicherheit dienen auch die Normen des Medizinprodukterechts,[5] des Arzneimittel- und Apothekenrechts oder des Betäubungsmittelrechts.[6]

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Auch das 3. Kapitel des SGB V ermächtigt in vielen Normen die Exekutive, Leistungsansprüche der Versicherten zu regeln, zu kanalisieren und insbesondere auch zu begrenzen. Der Tendenz nach zieht das Bundesgesundheitsministerium immer mehr Regelungskompetenzen an sich.

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Beispielhaft seien erwähnt:


§ 20i Abs. 3 SGB V Schutzimpfungen und andere Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe,
§ 31 Abs. 4 SGB V Arznei- und Verbandmittel,

7. Kapitel Das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung › D. System der Anspruchskonkretisierung durch untergesetzliches Recht › III. Untergesetzliche Normkonkretisierung

III. Untergesetzliche Normkonkretisierung

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Die eigentliche Konkretisierung des materiellen Leistungsrechts der §§ 20 f. SGB V erfolgt unterhalb der Ebene der Gesetze und Rechtsverordnungen durch Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) sowie durch Normverträge nach § 2 Abs. 2 S. 3 SGB V, die die Krankenkassenverbände mit den Verbänden der Leistungserbringer zu schließen haben. Richtlinien und Verträge bestimmen den Inhalt, den Umfang und den Zeitpunkt der Inanspruchnahme sowie die Art der Leistungen mit Wirkung auch für die Versicherten. Auf sie ist differenzierter einzugehen.

1. Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA)

a) Richtlinien- und Regelungskompetenz

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Nach § 91 Abs. 1 SGB V bilden die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und der Spitzenverband Bund der Krankenkassen (SpiBuKK) den Gemeinsamen Bundesausschuss. Das GKV-VStrG[10] hat die Besetzung und das Verfahren des G-BA wesentlich gestrafft. Der Einfluss des Gesundheitsministeriums und des Gesundheitsausschusses wurde gestärkt, gleichzeitig die Unabhängigkeit erhöht und die Beteiligung an den Verfahren erweitert. Der G-BA ist nach dem Gesetz rechtsfähig. Der G-BA ist weder Körperschaft des öffentlichen Rechts noch Anstalt des öffentlichen Rechts, sondern eine eigene körperschaftlich strukturierte rechtsfähige Einrichtung des öffentlichen Rechts.[11] § 91 SGB V, aufgabenbezogen aber auch § 92 SGB V, regeln die Zusammensetzung des G-BA je nach den speziellen Aufträgen im Vertragsarztrecht, im Krankenhausrecht, im Arzneimittelrecht. Dabei werden Beteiligungsrechte sowie der Kreis der beschließenden Gremien des G-BA jeweils unterschiedlich bestimmt. Nach § 91a SGB V[12] führt das Bundesministerium für Gesundheit die Aufsicht über den G-BA inklusive der Kontrolle über das Haushalts- und Rechnungswesen sowie des Vermögens.

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Das Aufgabenfeld des G-BA ist umfassend.


§ 92 Abs. 1 SGB V beauftragt den G-BA zur Sicherung der vertragsärztlichen Versorgung, Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten zu verabschieden. Die für die vertragsärztliche Versorgung wesentlichen Richtlinienfelder sind durch das GKV-WSG erweitert in § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 1–15 SGB V aufgeführt. Unter dem Aspekt der Regelung der vertragsärztlichen Versorgung werden hiermit im Zusammenhang stehende Leistungsbereiche in die Richtlinienkompetenz einbezogen, nämlich ärztliche Behandlung, zahnärztliche Behandlung einschließlich Zahnersatz und kieferorthopädische Behandlung, Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten, ärztliche Betreuung bei Schwangerschaft und Mutterschaft, Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, Verordnung von Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, Krankenhausbehandlung, häusliche Krankenpflege und Soziotherapie sowie zur Anwendung von Arzneimitteln für neuartige Therapien, Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit, Verordnung von im Einzelfall gebotenen medizinischen Leistungen und die Beratung über die medizinischen, berufsfördernden und ergänzenden Leistungen zur Rehabilitation, Bedarfsplanung, medizinische Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft, Maßnahmen nach § 24a und b SGB V sowie die Kryokonservierung nach § 27a Abs. 4 SGB V und schließlich Richtlinien über die Verordnung von Maßnahmen nach den §§ 24a (Empfängnisverhütung) und 24b (Schwangerschaftsabbruch und Sterilisation) SGB V, Krankentransporten, zur Qualitätssicherung, zur speziellen ambulanten Palliativversorgung und zu Schutzimpfungen.
Die Richtlinienziele werden jeweils in den Absätzen 1a bis 8 des § 92 SGB V unter Darstellung spezieller Beteiligungsverfahren konkretisiert. Der Gesetzgeber hat den Richtlinienauftrag des G-BA im Leistungsrecht selbst niedergelegt unter anderem in §§ 20i Abs. 1, 22 Abs. 5, 22a Abs. 2, 25 Abs. 4, 25a Abs. 2, 26 Abs. 2, 27a Abs. 5, 27b Abs. 2, 28 Abs. 3 S. 1, 29 Abs. 4, 32 Abs. 1a, 33 Abs. 1, 35a Abs. 3, 35b Abs. 3, 35c Abs. 2, 37 Abs. 6 und 7, 37a Abs. 2, 37b Abs. 3, 39 Abs. 1a, 56 Abs. 1, 60 Abs. 1, 62 Abs. 1, 63 Abs. 3c, SGB V. Die Befugnis umfasst auch die Einschränkung oder den Ausschluss von Leistungen sowie die ausnahmsweise Aufnahme grundsätzlich ausgeschlossener Leistungen (§§ 31 Abs. 1 S. 2, 33 Abs. 3 S. 2 SGB V).

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Tipp

Die aktuellen Veröffentlichungen des G-BA können im Anschluss an die Beschlussfassung, d.h. sogar noch vor der Genehmigung des Ministeriums, im Internet abgerufen werden unter www.g-ba.de.[13]

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Die allgemeine Richtlinienkompetenz des Gemeinsame Bundesausschusses wird durch spezielle gesetzliche Regelungskompetenzen ergänzt:


§ 101 SGB V: Der Gemeinsame Bundesausschuss hat die Aufgabe der Festlegung von Voraussetzungen und Verfahren der Bedarfsplanung.
§§ 135, 137 SGB V: Diese Normen erteilen dem G-BA Auftrag zur Qualitätssicherung von Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Nr. 5 SGB V zur Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden werden durch § 135 SGB V konkretisiert und auf bereits vorhandene, bislang aber nicht überprüfte Untersuchungs- und Behandlungsmethoden erstreckt. Über § 135 Abs. 1 S. 2 SGB V können vorhandene Leistungen der vertragsärztlichen Versorgung überprüft und ggf. aus der Versorgung ausgeschlossen werden.
Nach § 137c SGB V hat der G-BA die Kompetenz, auf Antrag Überprüfungen von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden des Krankenhauses vorzunehmen, unabhängig davon, ob sie bereits Gegenstand der Krankenhausversorgung sind oder neu eingeführt werden sollen.

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Die Richtlinien des G-BA werden nach § 92 Abs. 8 SGB V Teil des Bundesmantelvertrags. Dieser wiederum ist nach § 82 Abs. 1 S. 2 SGB V unmittelbar wirksamer Teil der Gesamtverträge. Die unmittelbare Wirksamkeit der Richtlinien in der vertragsärztlichen Versorgung ergibt sich auch aus § 72 Abs. 2 SGB V. Der Gesetzgeber hat in § 91 Abs. 6 SGB V die Richtlinien des G-BA gegenüber Versicherten, Krankenkassen, ambulanten und stationären Leistungserbringern grundsätzlich für verbindlich erklärt.[15]

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Die Grenzen der Richtlinien und Maßnahmenkompetenz im Leistungsrecht bestimmen die allgemeine Auftragsnorm des § 92 SGB V sowie die speziellen Auftragsnormen des Leistungsrechts und des Rechts der Qualitätssicherung im Leistungserbringungsrecht.[16] Der Richtlinienauftrag soll dem Gebot der Wirtschaftlichkeit Geltung verschaffen. Gemeinsam mit dem IQWiG werden dabei der medizinische Nutzen und die Kosten von Methoden und Mitteln festgelegt. Die Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses konkretisieren das Leistungsrecht. Grenzen hat die Rechtsprechung aber bei der Interpretation des Krankheitsbegriffs oder des Arzneimittelbegriffs gesetzt.[17] Der Leistungsanspruch des Versicherten wird durch die Maßnahmen und den Richtlinienrahmen eingegrenzt. Dabei darf der Anspruch des Versicherten auf notwendige und zweckmäßige Behandlung aber nicht eingeschränkt werden.[18]

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Dies ist in der allgemeinen und abstrakten Aussage sicherlich richtig. Problem ist aber, dass die umfassende Kompetenz zur Leistungskonkretisierung gerade auch die Zulassung und den Ausschluss von Leistungen bewirken kann. Die Entscheidungen des G-BA haben bezüglich des Anerkenntniserfordernisses neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden und der Eingrenzung vorhandener Methoden auch Rationierungswirkung.[19]

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Die Richtlinienkompetenz des G-BA ist in der Gesetzesentwicklung von Reform zu Reform bis hin zum GKV-Modernisierungsgesetz v. 14.11.2003[20] immer weiter gestärkt worden. Der Versuch, den gemeinsamen Bundesausschuss als Organ der Selbstverwaltung zu schwächen und die Kompetenz stärker der Exekutive zuzuordnen, ist im Gesetzgebungsverfahren des GKV-WSG gescheitert. Nach dem GKV-VStrG wurde die Unabhängigkeit des G-BA gestärkt, gleichzeitig aber der Einfluss der Exekutive, d.h. des Gesundheitsministeriums vergrößert. Dieser Einfluss sollte durch verschiedene weitere Gesetze wie HHVG, TSVG und EIRD zu Lasten des G-BA extendiert werden. Gleichwohl kann weiterhin von einer zentralen korporativen „Superorganisation“ gesprochen werden.[21] Das Mandat des G-BA ist so umfassend und seine konkrete Gestaltungsmacht so groß, dass grundsätzliche Kritik hinsichtlich deren rechtsstaatlicher Legitimation laut wurde.[22] Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hat im Dezember 2016 diese Kritik zum Anlass genommen, drei unabhängig voneinander zu erstellende Rechtsgutachten zur Frage der verfassungsrechtlichen Legitimation des G-BA zum Erlass von Richtlinien und anderen normativen Entscheidungen in Auftrag zu geben.[23] Selbst angesichts der gesetzlichen Verbindlichkeitsweisung für Richtlinien des G-BA in § 91 Abs. 6 SGB V ist diese Kritik nicht verhallt.

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Die Macht des G-BA zur Definition der Teilhaberrechte der gesetzlich Krankenversicherten und der Leistungsrechte und Pflichten der zugelassenen Leistungserbringer betreffen unmittelbar die Grundrechte nach Art. 1 und 2 GG sowie das Grundrecht der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG. Nach kritischen Auffassungen ist der G-BA weder demokratisch legitimiert noch auf einer ausreichenden Rechtsgrundlage bzw. Ermächtigung handelnd. Beschlüsse und Richtlinien greifen durch Leistungseinschränkungen gegenüber den Versicherten, durch erhöhte Anforderung an Qualität und Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung und durch Eingriffe in die Zulassungsfreiheit teilweise massiv in geschützte Grundrechtspositionen dieser Adressaten ein.[24] Die Entscheidungen bedürften der verfassungsrechtlichen Legitimation. Ob diese gegeben ist, mag zweifelhaft sein und steht im Zentrum rechtlicher Auseinandersetzung. Hintergrund waren die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom 10.11.2015 (1 BvR 2056/12)[25] und 6.10.2016 (1 BvR 292/16.)[26] enthaltenen Hinweise, die Anlass zu einer rechtswissenschaftlichen Analyse der verschiedenen gesetzlichen Grundlagen zu den Regelungsaufträgen des G-BA gegeben haben.[27] Das BVerfG war im Nikolaus-Beschluss[28] noch den Fragen ausgewichen.[29]

b) Verfassungsrechtliche Anforderungen

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Folgende verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber dem Normsetzungsinstrumentarium werden erhoben:



c) Verfassungsrechtliche Grenzen im Einzelfall

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Durch die Entscheidungen des G-BA werden unmittelbar Rechte der Versicherten, aber auch Berufsausübungsrechte der Leistungserbringer gestaltet. Rechte werden bspw. durch Aufnahme bestimmter Untersuchungs- und Behandlungsmethoden eröffnet oder (durch Ausschlüsse) versagt. Behandlungspflichten der Leistungserbringer werden normiert. Die Grundrechtsbetroffenheit der Versicherten und Leistungserbringer ist evident. Grundsätzlich haben Versicherte keinen unmittelbaren Anspruch auf Krankheitsbehandlung aus der Verfassungsnorm des Art. 2 Abs. 2 GG, dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.[37] Andererseits entfällt der Schutzanspruch des Versicherten nicht allein durch Einschränkungen des Leistungserbringungsrechts, nur weil er grundsätzlich vorrangig ist und den Anspruchsrahmen absteckt.

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Die Grenzen hat das BVerfG jüngst gegenüber den Leistungserbringern aus dem Schutzanspruch des Grundrechts der Berufsfreiheit, Art. 12 Abs. 1 GG, entwickelt.[38] Unmittelbar zum Leistungsausschluss gegenüber Versicherten hat das Gericht[39] Grenzen aus dem Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG und aus Art. 2 Abs. 2 GG, dem Schutzauftrag zum Schutz von Leben und Gesundheit, entwickelt. Das BVerfG prüft also die Grenzen statusbeeinflussender Normen und die Grenzen von Leistungsausschlüssen im Einzelfall. Empfiehlt bspw. der G-BA objektiv willkürlich eine neue Behandlungsmethode nicht für die vertragsärztliche Versorgung, lehnt die Krankenkasse deshalb eine Kostenübernahme hierfür ab und beschafft sich ein Versicherter aufgrund dessen die für ihn notwendige Leistung selbst, kann er wegen Systemversagens Kostenfreistellung verlangen.[40]

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Das BSG hatte in verschiedenen Urteilen vom 16.9.1997[41] mit Hinweis auf den Vorrang des Leistungserbringungsrechts die Übernahme von Kosten nicht oder noch nicht anerkannter Krankheitsbehandlungen abgelehnt. Das BVerfG hat im sog. Nikolaus-Beschluss vom 6.12.2005[42] demgegenüber festgestellt, dass unter bestimmten Voraussetzungen bei lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich endenden Erkrankungen und bei fehlender therapeutischer Alternative nicht anerkannte Untersuchungs- und Behandlungsmethoden als Leistung in Anspruch genommen werden könnten und von der gesetzlichen Krankenversicherung zu tragen seien.[43] Das BVerfG hat mit diesem Urteil die verfassungsrechtlichen Grenzen der Beschränkung des Leistungsanspruchs herausgearbeitet. Das Urteil wirkt über den Einzelfall hinaus und umfasst das gesamte Leistungsrecht.[44] Die Versicherten haben also einen unverbrüchlichen Kernbestand an Leistungsansprüchen, die sich aus ihrem Status als Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung unmittelbar verwirklichen können, wenn die Mechanismen der Leistungsbegrenzung zu restriktiv wirken. Das BVerfG leitet das Recht des Versicherten aus Art. 2 Abs. 1 GG – der allgemeinen Handlungsfreiheit als gesetzlich Krankenversicherter – und aus dem Schutzauftrag des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auf körperliche Unversehrtheit ab. Mit dieser Entscheidung ist die gestalterische Kompetenz des G-BA wieder in den verfassungsrechtlich legitimierten Rahmen zurückgeführt, als solcher aber gleichzeitig bestätigt worden.[45] Der Gesetzgeber hat mit der Schaffung des § 2 Abs. 1a SGB V nunmehr einen eindeutigen rechtlichen Rahmen für die Fälle ausnahmsweiser Überschreitung des regelmäßigen Leistungskatalogs geschaffen.

 

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Die Rechtsprechung ist seither in einer Fülle von Entscheidungen der Sozialgerichtsbarkeit aufgegriffen und konkretisiert worden.

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In Fällen sogenannten Systemversagens hat die Rechtsprechung eine vielfältige grundrechtsorientierte Anspruchskonkretisierung entwickelt. Wenn das normativ vorgegebene System von Leistungsansprüchen dem grundrechtlich verbürgten Recht auf Heilbehandlung nicht zu entsprechen vermag, wird dem Versicherten dennoch ein Anspruch auf Leistung (hilfsweise Kostenerstattung) gewährt.[46] Der Anspruch des Versicherten bezieht sich sowohl auf die ambulante und stationäre Behandlung als auch auf die Arzneimittelversorgung.

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Beispiele für Leistungsansprüche bei Systemversagen: