Handbuch Medizinrecht

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6. Kapitel Berufsrecht der Gesundheitsberufe unter Einschluss der Darstellung des Rechts der Selbstverwaltung › C. Selbstverwaltung

C. Selbstverwaltung

6. Kapitel Berufsrecht der Gesundheitsberufe unter Einschluss der Darstellung des Rechts der Selbstverwaltung › C. Selbstverwaltung › I. Begriff der Selbstverwaltung

I. Begriff der Selbstverwaltung

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Begriff und Geschichte der Selbstverwaltung sind in Deutschland eng verknüpft mit dem Namen des Karl Reichsfreiherrn vom und zum Stein (1757–1831) und der konstitutionellen Bewegung im Vormärz des 19. Jahrhunderts. Als liberale Idee einer Modernisierung des Ständestaates hat der Selbstverwaltungsgedanke in der Verfassungsgesetzgebung der deutschen Staaten zwischen 1815 und 1845 Platz gegriffen.[1] Dabei wurde der Begriff erst in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf die Mitwirkung der Bürger in der öffentlichen Verwaltung gebräuchlich.[2] Nach der 48er Revolution findet er Eingang in die Kommunalverfassung. Art. 184 Reichsverfassung billigte den Gemeinden die selbstständige Verwaltung ihrer örtlichen Angelegenheiten zu. Mit Einrichtung von Handelskammern (zunächst 1843 in Bayern) war der Grundstein für die Selbstverwaltung der Wirtschaft gelegt worden.

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In diesem Zusammenhang entstand die Forderung, weiteren „Interessengruppen“ den Zugang zum Parlament zu öffnen. Lehrerkollegien, Advokaten, Ärzte und Gelehrte sollten sich zu Körperschaften zusammenschließen und dort als Berufsgruppe vertreten sein.[3] Grundzug solcher Überlegungen war zum einen die Ablehnung des Parteiwesens, zum anderen die Auffassung, dass eine berufsständische Ordnung wesentliche Beiträge zum Gemeinwohl leisten könne. So beschreibt Otto von Bismarck in seinen Memoiren das Ideal einer monarchischen Gewalt, „welche durch eine unabhängige, nach meiner Meinung ständische oder berufsgenossenschaftlichen Landesvertretung“ kontrolliert wird.[4] Letztlich ging es bei der Debatte über eine stärkere Einbeziehung der Berufsstände „um mehr Freiheit und Selbstbestimmung der Bürgerlichen Gesellschaft“.[5] So wurde der Begriff zur „Kampfparole“.[6] Während vom Stein die Sicherung der territorialen Selbstverwaltung gelang, blieb die heute als „funktional“ bezeichnete Form der Selbstverwaltung – bis auf rudimentäre Ansätze – von verfassungsrechtlichen Garantien ausgespart.[7]

6. Kapitel Berufsrecht der Gesundheitsberufe unter Einschluss der Darstellung des Rechts der Selbstverwaltung › C. Selbstverwaltung › II. Idee der Selbstverwaltung

II. Idee der Selbstverwaltung

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Ideengeschichtlich wird der Selbstverwaltungsgedanke der Korporationslehre zugeordnet.[8] Friedrich Hegel (1770–1831) spricht von „Korporationen . . . der Gemeinden und sonstiger Gewerbe und Stände“[9] als Quelle der Loyalität, Identifikationsbereitschaft und Solidarität gegenüber dem staatlichen Gemeinwesen. Der Gedanke beratender Berufsvertretungen findet sich auch in der katholischen Sozialphilosophie (Franz von Baader, Peter Reichensperger, Simonde de Sismondi).[10]

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Andere sehen im germanisch-mittelalterlichen Gedanken der Herrschaft des Rechts die Grundlage ständischer Verfassungen[11] und in der aufklärerischen Theorie des Gesellschaftsvertrags (Jean Jacques Rousseau – „du contrat social ou principes du droit politique“, 1762) eine Fortsetzung der Linie des ständischen Rechtsstaates.[12] Lorenz von Stein (1815–1890) entwickelte diesen durch bisweilen „artifizielle Begriffs- und Systembildung“[13] geprägten Gedanken weiter und forderte die Teilhabe des Volkes auch an der (monarchischen) Verwaltung als vollziehende Gewalt.[14] Dabei bezog sich vom Stein nicht allein auf die staatliche Verwaltung; sein Begriff der „freien Verwaltung“ bezieht Selbstverwaltung und Vereinswesen mit ein, soweit darin allgemeine Belange und nicht Einzelinteressen verfolgt werden.[15] Diese Selbstverwaltung repräsentiert die Interessen der von ihr Vertretenen personell durch „Räthe“, aber auch durch Sachverständigen-Gutachten und Anhörung von Experten und Betroffenen.

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Rudolf von Gneist (1816–1895) dachte aufgrund unterschiedlicher Verteilung des Besitzes nicht an Selbstregulierung zur Überwindung von Interessengegensätzen in der Gesellschaft, wohl aber – stark geprägt vom Gedanken des selfgovernments – an eine den politischen Rechten folgende öffentliche Pflicht zum „Mitthun in der Ausführung der Gesetze“.[16] Die Übernahme dieser Dienstpflicht gegenüber dem Staat[17] sollte auch der Charakterbildung dienen.[18] Die Auffassung von Gneists fand Kritik, insoweit sie nur die „unteren Stufen des öffentlichen Lebens in Gemeinde, Kreis, Provinz“ betreffen sollte und damit zur „praktisch recht bescheidenen Ergänzung des Obrigkeitsstaates, zur politisch ziemlich harmlosen Abfindung des liberalen Freiheitsstrebens“ mutierte.[19]

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Otto von Gierke (1841–1921) diente der Genossenschaftsgedanke als organisatorisches Grundprinzip[20], die Teilnahme des Einzelnen bei der Erledigung öffentlicher Aufgaben in Gemeinden, Kirchen und freien, z.B. kaufmännischen Korporationen und Aktiengesellschaften einzufordern. Für ihn war Selbstverwaltung „thätige bürgerliche Freiheit“.[21] Die rechtsdogmatische Konstruktion der Selbstverwaltungslehre[22] übernahmen Paul Laband (1838–1918) und Heinrich Rosin (1855–1927); letzterer vollzog die Trennung zwischen der Selbstverwaltung im juristischen und der Selbstverwaltung im politischen Sinne, wobei das partizipatorische Element nur vom politischen Selbstverwaltungsbegriff erfasst wurde.[23]

6. Kapitel Berufsrecht der Gesundheitsberufe unter Einschluss der Darstellung des Rechts der Selbstverwaltung › C. Selbstverwaltung › III. Staatsrechtlicher Begriff der Selbstverwaltung

III. Staatsrechtlicher Begriff der Selbstverwaltung

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Hugo Preuß (1860–1925), Schöpfer der Weimarer Reichsverfassung, entwickelte das Bild des Volksstaates, in dem gesamtstaatlicher Parlamentarismus und eine autonome kommunale Selbstverwaltung zusammen gehören.[24] Seine demokratische Selbstverwaltungsidee verknüpfte Preuß eng mit der Reformpolitik des Freiherrn vom Stein. Während der Weimarer Republik verstand sich Selbstverwaltung als eigenverantwortliche Aufgabenwahrnehmung durch juristische Personen des öffentlichen Rechts, als weisungsfreies Agieren im Rahmen der Gesetze unter staatlicher Aufsicht.[25] Gegen die Auffassung, dass Selbstverwaltung mit dem Übergang zur Demokratie ihren Existenzsinn eingebüßt habe,[26] setzte Peters den Begriff des „Minderheitenschutzes“.[27] Rätewesen und Berufsstandsprinzip bildeten eine Art Gegenmodell zu Parteienstaat und Parlamentarismus. Allerdings erlangte Art. 165 Weimarer Reichsverfassung,[28] der „zur Erfüllung der gesamten wirtschaftlichen Aufgaben und zur Mitwirkung bei der Ausführung der Sozialisierungsgesetze“ die Einrichtung von Arbeiter- und Wirtschaftsräten vorsah und im letzten Absatz von deren Beziehung zu „anderen sozialen Selbstverwaltungskörpern“ spricht, keine Bedeutung.

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Im Nationalsozialismus denaturierte das Verständnis von Selbstverwaltung.[29] Nach 1945 ist der Begriff „bei bemerkenswerter institutionenrechtlicher Kontinuität“[30] sowohl (für die Gemeinden) in Art. 28 GG aufgenommen als auch die „Affinität von Selbstverwaltung und Demokratie allenthalben betont“ worden.[31]

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Wichtig

Selbstverwaltung ist ein in der Verfassung angelegtes Ordnungsprinzip, dessen Grundlagen und Grenzen aus den Strukturbestimmungen der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie zu ermitteln sind.[32]

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Während Ernst Forsthoff (1902–1974) in der Selbstverwaltung vor allem die „Wahrnehmung an sich staatlicher Aufgaben durch Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts“ sah und damit den Begriff der „mittelbaren Staatsverwaltung“ verband,[33] versteht Hans Julius Wolff (1898–1976) darunter die „selbstständige, fachweisungsfreie Wahrnehmung enumerativ oder global überlassener oder zugewiesener eigener öffentlicher Angelegenheiten durch unterstaatliche Träger oder Subjekte öffentlicher Verwaltung in eigenem Namen“.[34] Selbstverwaltung ist „die dezentralisierte Verwaltung eigener Angelegenheiten eines unterstaatlichen Trägers öffentlicher Verwaltung im eigenen Namen und auf eigene Kosten“.[35] Hendler hat in diesem Zusammenhang kritisch angemerkt, dass der Begriff der mittelbaren Staatsverwaltung nichts weiter darstellt „als eine aus einem bloßen Systematisierungsinteresse hervorgegangene juristische Sprachschöpfung“.[36]

 

6. Kapitel Berufsrecht der Gesundheitsberufe unter Einschluss der Darstellung des Rechts der Selbstverwaltung › C. Selbstverwaltung › IV. Funktionale Selbstverwaltung

IV. Funktionale Selbstverwaltung

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Das BVerfG spricht dagegen von „einem historisch gewachsenen und von der Verfassung grundsätzlich anerkannten Bereich nicht-kommunaler Selbstverwaltung, der im Übrigen sehr heterogene Erscheinungsformen aufweist und zusammenfassend als funktionale Selbstverwaltung bezeichnet wird“.[37] Deren Organisationsformen hat der Verfassungsgeber zur Kenntnis genommen und durch Erwähnung im Grundgesetz ihre grundsätzliche Vereinbarkeit mit der Verfassung anerkannt.[38]

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Wichtig

„Die funktionale Selbstverwaltung ergänzt und verstärkt insofern das demokratische Prinzip. Sie kann als Ausprägung dieses Prinzips verstanden werden, soweit sie der Verwirklichung des übergeordneten Ziels der freien Selbstbestimmung aller (vgl. BVerfGE 44, 125, 142; Emde 356 f.) dient. Demokratisches Prinzip und Selbstverwaltung stehen unter dem Grundgesetz nicht im Gegensatz zueinander. Sowohl das Demokratieprinzip in seiner traditionellen Ausprägung einer ununterbrochen auf das Volk zurückzuführenden Legitimationskette für alle Amtsträger als auch die funktionale Selbstverwaltung als organisierte Beteiligung der sachnahen Betroffenen an den sie berührenden Entscheidungen verwirklichen die sie verbindende Idee des sich selbst bestimmenden Menschen in einer freiheitlichen Ordnung.“[39]

38

Die Organisation der funktionalen Selbstverwaltung in Gestalt der Kammern stellt im Ergebnis ein Instrument der „Entstaatlichung“ ursprünglich staatlich gebundener Berufe,[40] ja der „Befreiung aus staatlicher Vormundschaft“ (Taupitz) dar.[41]

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Hendler konzentriert den Begriff der funktionalen Selbstverwaltung auf drei dominante Aspekte: Als Teil des Staates wird Selbstverwaltung durch öffentlich-rechtliche Merkmale gekennzeichnet. Sie verkörpert die Betroffenenmitwirkung (Partizipationsprinzip) und erfüllt ihre Aufgaben in Distanz zum Staat eigenverantwortlich.[42] Dabei geht es – in Fortführung des Minderheitenschutzgedankens – um „Betroffenenschutz durch Betroffenenteilnahme“.[43] „Insoweit unterstützt und ergänzt Selbstverwaltung die grundrechtlichen Freiheitsgarantien auf der Ebene der politischen Willensbildung und Entscheidung.“[44]

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Dem steht die Pflichtmitgliedschaft in den Selbstverwaltungs-Organisationen nicht entgegen; sie ermöglicht als freiheitskonstituierendes Element, dass Aufgaben durch die Betroffenen, nicht durch den Staat wahrgenommen werden.[45] Selbstverwaltung bedeutet darüber hinaus Dezentralisierung. In der „Pluralisierung hoheitlicher Entscheidungsträger“[46] liegt ein Moment vertikaler Gewaltenteilung. Allerdings müssen die Bildung der Organe, ihre Aufgaben und Handlungsbefugnisse in ihren Grundstrukturen in einem parlamentarischen Gesetz ausreichend bestimmt sein. Dies setzt voraus, dass eine angemessene Partizipation der Berufsangehörigen an der Willensbildung gewährleistet ist.[47] Dazu gehört, dass die Organe (Vorstand, Vollversammlung oder auch Vertreterversammlung) nach demokratischen Grundsätzen gebildet werden und institutionelle Vorkehrungen getroffen werden, dass die Beschlüsse nicht einzelne Interessen bevorzugen.[48] Demokratie kann zwar ohne Selbstverwaltung, Selbstverwaltung jedoch nicht ohne demokratische Verfasstheit gedacht werden.[49]

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Hinweis

Unter funktionaler Selbstverwaltung wird im Gegensatz zur kommunalen Selbstverwaltung eine an die Funktion, vor allem an eine Berufsausübung anknüpfende Begründung von Selbstverwaltungsrechten und Verwaltungsträgern verstanden.[50]

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Immer wieder wird auch im Bereich der funktionalen Selbstverwaltung das Kammersystem, u.a. unter dem Blickwinkel des europäischen Gemeinschaftsrechts, in Frage gestellt. Dabei hat der EuGH bereits 1983 entschieden, dass die Pflichtmitgliedschaft in einer berufsständischen Kammer mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist.[51] Es sei allein Aufgabe der Mitgliedstaaten, den Umfang der nationalen Selbstverwaltung zu kontrollieren, um nachteilige Folgen für die Verbraucher und die Verfolgung des Allgemeininteresses zu verhindern.[52] Ebenso hat der BGH festgestellt, dass die Ausgestaltung der Pflichtmitgliedschaft in den deutschen Kammern der wirtschaftlichen und berufsständischen Selbstverwaltung europarechts-konform ist. Dies gelte insbesondere für die Grundprinzipien, das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit gemäß Art. 12 der Grundrechte-Charta, Art. 11 EMRK, die Niederlassungsfreiheit, Art. 49 AEUV, sowie die in Art. 101 ff. AEUV enthaltenen Bestimmungen des europäischen Kartellrechts“.[53]

Auch die Bundesregierung hat wiederholt festgestellt, dass der Status der Kammern europarechtlich für sie nicht zur Disposition steht.[54]

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Allerdings unterliegt Selbstverwaltung den Anforderungen von Transparenz, Effizienz, Folgenabschätzung und Kontrolle. Das Europarecht gibt der verfassten Selbstverwaltung in Gestalt berufsständischer Kammern – beispielsweise bei der Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie – neue Impulse, die nicht nur auf den Aufgabenbestand wirken, sondern zur Modernisierung des Kammerwesens beitragen können.[55] Nicht verkannt werden darf, dass Reglementierungen, so u.a. die staatlichen Gebührenordnungen (auch vom EuGH) kritisch gesehen werden.[56] Regelungen „zur Sicherung einer ordnungsgemäßen Ausübung des Berufs“ verstoßen nach der Entscheidung des Gerichtshofes in der Rechtssache Wouters[57] nicht gegen das Wettbewerbsrecht in Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag.

6. Kapitel Berufsrecht der Gesundheitsberufe unter Einschluss der Darstellung des Rechts der Selbstverwaltung › C. Selbstverwaltung › V. Perspektiven der Selbstverwaltung

V. Perspektiven der Selbstverwaltung

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Kluth hebt bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung von Alternativmodellen zur Pflichtmitgliedschaft hervor, „dass die Abkehr von den organisationsrechtlichen Grundsätzen der funktionalen Selbstverwaltung vor allem zu einer Absenkung der demokratischen Legitimation und zu einer deutlichen Minderung der Rechte der Mitglieder bzw. der von den Aufgaben Betroffenen führt.“[58] Der Abbau von Selbstverwaltung habe damit – plakativ ausgedrückt – mehr Staat zur Folge. Dabei ist Selbstverwaltung mehr als nur Verwaltung.[59] Konstitutiv ist die Verbindung von Eigenständigkeit und politischer Teilhabe.[60]

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Wo für die eigenverantwortliche Wahrnehmung kein Raum bleibt, etwa bei gebundenen Verwaltungsaufgaben, kann es zu einer Gefährdung der Selbstverwaltungseinrichtung und auch zur Unterminierung der Pflichtmitgliedschaft kommen.[61] Gefahr droht der Selbstverwaltung aber auch von innen, wenn „verengtes Standesdenken“ die Aufgaben der Körperschaften alleine auf Interessenwahrnehmung reduziert.[62] Der Gesetzgeber hat im Hinblick auf die sich ändernden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ständig zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine öffentlich-rechtliche „Zwangskorporation“ noch vorliegen.[63] Dabei ist die Körperschaft des öffentlichen Rechts eine der Selbstverwaltungsidee besonders angemessene, nicht aber zwingende Organisationsform.[64] In Fortführung eines Gedankens von Schmidt-Aßmann, wonach das staatsrechtliche Prinzip der Selbstverwaltung keine „Maximierungsformel“ sei, lässt sich die Forderung aufstellen, dass die Kammern einer „Optimierungsformel“ in Bezug auf die eigenverantwortliche Wahrnehmung berufsständischer Aufgaben im Staat im Sinne des Gemeinwohls folgen müssen.

6. Kapitel Berufsrecht der Gesundheitsberufe unter Einschluss der Darstellung des Rechts der Selbstverwaltung › C. Selbstverwaltung › VI. Die Kammern der Heilberufe

VI. Die Kammern der Heilberufe

1. Geschichte der Heilberufe-Kammern

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Die Selbstverwaltung der Heilberufe[65] in Gestalt von Kammern wurde erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts eingeführt, indem die deutschen Einzelstaaten „Medicinal“-Gesetze[66] und -Verordnungen erließen, etwa in Preußen die „Verordnung betreffend die Einrichtung einer ärztlichen Standesvertretung“ vom 25.5.1887[67] sowie das „Gesetz betreffend die Ehrengerichte, das Umlagerecht und die Kassen der Ärztekammern“ vom 25.11.1899. Bayern hatte bereits durch Verordnung vom 10.8.1871 den Ärztekammern die Beratung über Fragen und Angelegenheiten, welche sich auf die Wahrung und Vertretung der Standesinteressen beziehen, aufgegeben.[68] Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Apotheker (1901), Tierärzte (1911) und schließlich auch Zahnärzte (1912) „verkammert“.

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In der NS-Zeit traten die Reichskammern als Körperschaften des öffentlichen Rechts an die Stelle der Selbstverwaltungseinrichtungen auf Landesebene.[69] Nach 1945 wurde die Rechtsstellung der Heilberufe-Kammern aufgrund der Kompetenzzuweisung des Grundgesetzes durch Landes-Gesetze neu geordnet. Sie wurden als Körperschaften des öffentlichen Rechts verfasst. 2001 schufen die Bundesländer durch Novellierung ihrer Heilberufe-Kammergesetze die Rechtsgrundlage auch für die Verkammerung der Psychologischen Psychotherapeuten und der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten.[70]

2. Kammerverfassung

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Wichtig

Als Körperschaften des öffentlichen Rechts nehmen die Kammern öffentliche Aufgaben in eigener Verantwortung wahr. Bei der Aufgabenerfüllung „unter Grundrechts- und Gemeinwohlbindung“ (Kluth) unterliegen sie der Rechtsaufsicht des jeweiligen Bundeslandes. Approbierte Berufsträger, unabhängig davon, ob selbstständig oder angestellt, sind Pflichtmitglieder, sie unterliegen der Berufsaufsicht, die durch die Organe der Selbstverwaltung ausgeübt wird.

a) Mitgliedschaft

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Die Verkammerung eines Berufsstandes führt zur Pflichtmitgliedschaft der Berufsträger. Bedenken, die aus dem Grundrecht der Vereinigungsfreiheit, Art. 9 Abs. 1, 2 GG, rühren, hat das BVerfG entgegen gehalten, dass die Pflichtmitgliedschaft die Teilhabe-Rechte der Kammermitglieder erweitert.[71] Die Pflichtmitgliedschaft verstößt auch nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.[72] Im Übrigen unterfallen Vereinigungen, die ihr Entstehen und ihren Bestand nicht grundrechtsinitiierter Freiwilligkeit verdanken, also auch die Kammern der Freien Berufe, „von vornherein nicht dem Vereinsbegriff“.[73]

50

Die Heilberufe-Gesetze der Länder knüpfen die Mitgliedschaft wahlweise an die Ausübung des Berufs im jeweiligen Bundesland aufgrund von Bestallung, Approbation, Erlaubnis oder Berechtigung zur Berufsausübung, z.T. mit der Einschränkung, dass Berufsunfähigkeit und Altersgründe von der Pflichtmitgliedschaft befreien, wenn der Beruf nicht mehr ausgeübt wird, oder an den Wohnsitz, falls der Beruf in einem anderen Bundesland ausgeübt wird oder das Mitglied den Beruf nicht ausübt.

51

Zum Teil erlauben die Heilberufe-Kammergesetze auch freiwillige Mitgliedschaften, z.B. für Kammermitglieder, die ihre Tätigkeit ins Ausland verlagern oder dort ihren Wohnsitz nehmen, ohne den Beruf auszuüben, sowie bei in Ausbildung befindlichen künftigen Berufsträgern.

52

Daneben gibt es in einigen Kammern Befreiungsmöglichkeiten für Pflichtmitglieder, was insbesondere bei Mehrfachmitgliedschaften relevant ist. Eine Sonderregelung enthält das bayerische Heilberufekammer-Gesetz, welches die Mitgliedschaft bei Ärzten, Zahnärzten und Tierärzten nicht bei der Kammer, sondern auf Kreis- bzw. Bezirksebene begründet; dort sind die Untergliederungen der Selbstverwaltungskörperschaften ebenso wie die Kammern als Körperschaften des öffentlichen Rechts verfasst. Es erscheint fraglich, ob die Rechtsprechung zur Pflichtmitgliedschaft eine solche Doppelmitgliedschaft innerhalb eines Kammerbezirkes trägt.

 

53

Keine Mitgliedschaft erlauben einzelne Heilberufe-Gesetze für Dienstkräfte der Aufsichtsbehörde bei der Ausübung von Aufsichtsfunktionen sowie für Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaates der EG bei nur vorübergehender Erbringung von Dienstleistungen. In Hamburg z.B. ruht die Mitgliedschaft von Berufsangehörigen, die bei der Aufsichtsbehörde mit der Aufsicht über die jeweilige Kammer betraut sind.[74]

54

Trotz ausdrücklicher Befreiung von der Mitgliedschaft (damit auch der „pro-forma“-Mitgliedschaft nach der EU-Berufsanerkennungs-Richtlinie) für Berufsträger aus anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union unterliegen diese doch der Berufsaufsicht und der Berufsordnung der jeweiligen Kammer.[75]

55

Soweit Freie Berufe in das Handelsregister eingetragen sind, besteht Pflichtmitgliedschaft auch in der Industrie- und Handelskammer, § 2 Abs. 1, 2 IHKG.[76] Dies betrifft z.B. Apotheker, § 3 Abs. 4 S. 2 IHKG.

56

Die Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesgesundheitsbehörden (AOLG) hat sich 2010 in Bremen dagegen ausgesprochen, in den Heilberufsgesetzen der Länder zu regeln, dass Ärztinnen oder Ärzte bei ärztlicher Tätigkeit im Zuständigkeitsbereich mehrerer Landesärztekammern Kammerangehörige nur einer Ärztekammer (Monomitgliedschaft) sind. Sie befürwortet vielmehr die Beibehaltung der Mehrfachmitgliedschaft.

57

Die Kammermitgliedschaft gewährt demokratische Partizipationsmöglichkeiten,[77] berufsständische Angelegenheiten selbst zu regeln. Darüber hinaus erbringen Heilberufekammern Dienstleistungen für ihre Mitglieder, so z.B. auf den Gebieten Fortbildung und Berufsberatung.

58

Den Finanzbehörden müssen die Kammern auf Anfrage Auskünfte über die für die Besteuerung erheblichen Sachverhalte eines Kammermitgliedes erteilen.[78] Die Auskunftspflicht im Besteuerungsverfahren wird durch die Pflicht des Kammervorstandes zur Verschwiegenheit im Allgemeinen nicht erfasst.