Handbuch Medizinrecht

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4. Kapitel Das Gesundheitswesen in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland › E. Freiheit von Wissenschaft, Lehre und Forschung, Art. 5 Abs. 3 GG

E. Freiheit von Wissenschaft, Lehre und Forschung, Art. 5 Abs. 3 GG

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Schutzsubjekt ist zunächst die Wissenschaftsfreiheit als Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe. Zweiter Regelungsbereich ist insbesondere mit Blick auf die Lehre die Hochschulmedizin. In diesem Bereich hat sich durch die Föderalismusreform einiges geändert. Anstelle der früheren Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes ist beim Bund nur noch das Recht der Hochschulzulassung und der Hochschulabschlüsse geblieben (Art. 74 Abs. 1 Nr. 33 GG). Das übrige Hochschulrecht fällt jetzt in die alleinige Gesetzgebungszuständigkeit der Länder (Art. 70 GG). Grundrechtsschutz genießen nicht nur die Universitäten[1] als Ganzes, sondern auch Fakultäten und Fachbereiche als Untergliederungen.

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Das Bundesverfassungsgericht zum sachlichen Gewährleistungsanspruch der Wissenschaftsfreiheit:[2]

Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG erklärt Wissenschaft, Forschung und Lehre für frei. Damit wird nicht nur eine objektive Grundsatznorm für den Bereich der Wissenschaft aufgestellt. Ebenso wenig erschöpft sich das Grundrecht in einer auf wissenschaftliche Institutionen und Berufe bezogenen Gewährleistung der Funktionsbedingungen professionell betriebener Wissenschaft. Als Abwehrrecht sichert es vielmehr jedem, der sich wissenschaftlich betätigt, Freiheit von staatlicher Beschränkung zu (vgl. BVerfGE 15, 256, 263). Gegenstand dieser Freiheit sind vor allem die auf wissenschaftlicher Eigengesetzlichkeit beruhenden Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen bei der Suche nach Erkenntnissen, ihrer Deutung und Weitergabe. Damit sich die Wissenschaft ungehindert an dem für sie kennzeichnenden Bemühen um Wahrheit ausrichten kann, ist sie zu einem von staatlicher Fremdbestimmung freien Bereich autonomer Verantwortung erklärt worden (vgl. BVerfGE 35, 79, 112 f.; 47, 327, 367 f.). Jeder, der wissenschaftlich tätig ist, genießt daher Schutz vor staatlichen Einwirkungen auf den Prozess der Gewinnung von Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG schützt aber nicht eine bestimmte Auffassung von Wissenschaft oder eine bestimmte Wissenschaftstheorie. Das wäre mit der prinzipiellen Unvollständigkeit und Unabgeschlossenheit unvereinbar, die der Wissenschaft trotz des für sie konstitutiven Wahrheitsbezugs eignet (vgl. BVerfGE 35, 79, 113; 47, 327, 367 f.). Der Schutz dieses Grundrechts hängt weder von der Richtigkeit der Methoden und Ergebnisse ab, noch der Stichhaltigkeit der Argumentation und der Beweisführung oder der Vollständigkeit der Gesichtspunkte und Belege, die einem wissenschaftlichen Werk zugrunde liegen. Über gute und schlechte Wissenschaft, Wahrheit und Unwahrheit von Ergebnissen kann nur wissenschaftlich geurteilt werden (vgl. BVerfGE 5, 85, 145). Auffassungen, die sich in der wissenschaftlichen Diskussion durchgesetzt haben, bleiben der Revision und dem Wandel unterworfen. Die Wissenschaftsfreiheit schützt daher auch Mindermeinungen sowie Forschungsansätze und -ergebnisse, die sich als irrig oder fehlerhaft erweisen. Ebenso genießt unorthodoxes oder intuitives Vorgehen den Schutz des Grundrechts. Voraussetzung ist nur, dass es sich dabei um Wissenschaft handelt; darunter fällt alles, was nach Inhalt und Form als ernsthafter Versuch zur Ermittlung von Wahrheit anzusehen ist (vgl. BVerfGE 35, 79, 113; 47, 327, 367). Aus der Offenheit und der Wandelbarkeit von Wissenschaft, von der der Wissenschaftsbegriff des Grundgesetzes ausgeht, folgt aber nicht, dass eine Veröffentlichung schon deshalb als wissenschaftlich zu gelten hat, weil ihr Autor sie als wissenschaftlich ansieht oder bezeichnet. Denn die Einordnung unter die Wissenschaftsfreiheit, die nicht dem Vorbehalt des Art. 5 Abs. 2 GG unterliegt (vgl. BVerfGE 35, 79, 112), kann nicht allein von der Beurteilung desjenigen abhängen, der das Grundrecht für sich in Anspruch nimmt. Soweit es auf die Zulässigkeit einer Beschränkung zum Zwecke des Jugendschutzes (vgl. BVerfGE 83, 130, 139) oder eines anderen verfassungsrechtlich geschützten Gutes (vgl. BVerfGE 81, 278, 292) ankommt, sind vielmehr auch Behörden und Gericht zu der Prüfung befugt, ob ein Werk das Merkmal des – weit zu verstehenden – Wissenschaftsbegriffs erfüllt.

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Forschung ist ein Unterfall des Wissenschaftsbegriffs.[3] Zu Recht weist Zuck[4] darauf hin, dass der früher streng universitär geprägte Forschungsbegriff angesichts der zunehmenden Verlagerung in außeruniversitäre Institutionen und Einrichtungen offener gestaltet werden muss und man daher von einem eigenständigen Grundrecht auf Forschungsfreiheit auszugehen hat. Der besondere Charakter als individuelles Freiheitsrecht kommt nicht nur dadurch zur Geltung, dass die Einschränkung in Art. 5 Abs. 2 GG für Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG nicht gilt, da Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG als lex specialis zu Art. 5 Abs. 1 GG anzusehen ist[5] und deshalb Art. 5 Abs. 2 GG mit seinem allgemeinen Gesetzesinhalt für Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG gerade nicht gilt. Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG kann daher Schranken im Wesentlichen nur durch kollidierendes Verfassungsrecht erfahren.[6] Dies können z.B. der Schutz des Persönlichkeitsrechts gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG im Hinblick auf persönliche Daten sein (Informationelle Selbstbestimmung), der Tierschutz gemäß Art. 20a GG oder auch die Freiheit der Berufsausübung gemäß Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG. Praktisches Beispiel für die Kollision zwischen Forschungsfreiheit einerseits und Garantie der Menschenwürde andererseits ist die Diskussion um die Forschung an embryonalen Stammzellen, die durch das Stammzellgesetz[7] keineswegs als abgeschlossen gilt.[8] Bei allem Verständnis für die Kontroverse und zum Teil erheblich weltanschaulich überlagerte Diskussion, ist die Formulierung von Middel[9] unter Verweis auf Art. 5 Abs. 3 GG treffend, wonach nicht die Forschung, auch nicht die humangenetische, der Legitimation bedarf, sondern ihre Beschränkung begründungsbedürftig ist. Dies wird angesichts des dynamischen Nutzens der Forschungsergebnisse überdeutlich, z.B. den sogenannten induzierten pluripotenten Stammzellen. Solche humanen indizierten pluripotenten Stammzellen (hiPS-Zellen) stehen dann im Rahmen einer sogenannten personalisierten Medizin für Studien zur Krankheitsentstehung, Medikamentenentwicklung und regenerativen Therapien zur Verfügung. HiPS-Zellen können ähnlich wie ehS-Zellen Zellen herstellen, ohne den als ethisch und rechtlich schwierig angesehenen Verbrauch von Embryonen zu begünstigen. Diesen Gesichtspunkt untersuchen Gerke und Taupitz[10] in ihrer Abhandlung zu rechtlichen Aspekten der Stammzellforschung in Deutschland, insbesondere den Grenzen der Forschung mit heS- und hiPS-Zellen. Zurecht sehen sie die Restriktionen durch das 2002 in Kraft getretene Stammzellgesetz (StZG) kritisch. Sie sehen die Forschung mit hiPS-Zellen grundsätzlich als Option, da sie aus körpereigenen Zellen gewonnen werden und damit das Risiko einer Immunabwehrreaktion in potentiellen zukünftigen autologen Therapien vermindert werden kann. Die Autoren kommen zum Ergebnis, das hiPS-Zellen nicht unter § 3 Nr. 2 StZG fallen, weshalb es keiner Genehmigung des RKI bedürfe, um an hiPS-Zellen zu forschen. Dementsprechend sei es auch nicht verboten, hiPS-Zellen zu diagnostischen, präventiven und therapeutischen Zwecken zu verwenden. Schwierig ist allerdings die Frage, inwieweit der Zugriff auf hiPS-Zellen die Genehmigungsfähigkeit der Einfuhr von heS-Zellen durch das RKI erschwert (Stichwort „Alternativlosigkeit“ § 5 StZG). Die Autoren vertreten die Auffassung, dass dies nicht der Fall sein dürfte.

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Verfassungsrechtliche Fragen stellen sich auch im Bereich der Xenotransplantation. In seiner Stellungnahme vom 27.9.2011 hat der Deutsche Ethikrat zwar enge Grenzen definiert, in einigen Varianten jedoch die Forschung für vertretbar, jedenfalls nicht schlechthin unzulässig bewertet. „Die Schaffung von Mäusen als „Modellorganismen“ zur Erforschung menschlicher Krankheiten durch Einfügung krankheitsspezifischer humaner Gene in das Mausgenom ist bereits seit den 1980er-Jahren breit etabliert. Mittlerweile arbeiten die Forscher daran, nicht nur Gene, sondern ganze Chromosomen zu übertragen. Darüber hinaus werden u.a. aus menschlichen Stammzellen gewonnene Nerven-Vorläuferzellen in das Gehirn von Versuchstieren, auch Primaten, übertragen, um Krankheiten wie Alzheimer-Demenz und Morbus Parkinson zu erforschen und später vielleicht behandeln zu können. Durch solche Experimente wird die biologische Artgrenze zwischen Mensch und Tier immer mehr infrage gestellt. Der Ethikrat sieht daher Klärungsbedarf, welche ethischen Herausforderungen mit der Herstellung von Mensch-Tier-Mischwesen verbunden und wo gegebenenfalls verbindliche Grenzen zu ziehen sind. Der Ethikrat hat dabei den Fokus auf die Übertragung menschlichen Materials auf Tiere gelegt und dies an drei Beispielen untersucht: an zytoplasmatischen Hybriden (Zybriden), wie sie bei der Einfügung des Kerns einer menschlichen Zelle in eine entkernte tierische Eizelle entstehen, an transgenen Tieren mit menschlichem Erbmaterial und am Beispiel der Übertragung menschlicher Zellen in das Gehirn fetaler oder adulter Tiere (Hirnchimären).“ Zu diesen Beispielen legt der Ethikrat Empfehlungen vor, von denen die wichtigsten in der Stellungnahme vorgestellt werden. Seit dieser Stellungnahme hat die diesbezügliche Forschung weltweit riesige Fortschritte gemacht, vor denen man in Deutschland nicht einfach die Augen verschließen kann.

Anmerkungen

[1]

 

Sachs/Bethge GG, 8. Aufl. 2018, Art. 5 Rn. 211.

[2]

BVerfGE 90, 1, 11 ff.

[3]

Quaas/Zuck 4. Aufl., § 2 Rn. 64 ff.

[4]

Quaas/Zuck 4. Aufl., § 2 Rn. 69 ff.

[5]

BVerfGE 3, 172, 191.

[6]

So auch Spickhoff/Müller-Terpitz Art. 5 GG Rn. 23.

[7]

Stammzellgesetz v. 28.6.2002, BGBl. I 2002, 2277.

[8]

Siehe Stellungnahmen des Deutschen Ethikrates von Dezember 2001 und Juli 2007, abzurufen über http://www.ethikrat.org; Stellungnahme des Deutschen Ethikrats zu Humanbiobanken für die Forschung v. 15.7.2010; Mensch-Tier-Mischwesen in der Forschung, veröffentlicht: 27.9.2011; Biosicherheit – Freiheit und Verantwortung in der Wissenschaft, veröffentlicht: 7.5.2014.

[9]

Middel 79.

[10]

Gerke/Taupitz Rechtliche Aspekte der Stammzellforschung in Deutschland, insbesondere den Grenzen der Forschung mit heS- und hiPS-Zellen, Zenke/Marx-Stölting/Schickl (Hrsg.), Stammzellforschung – aktuelle wissenschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen – Forschungsberichte der interdiszipliären Arbeitsgruppen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 39, 329, 2018.

5. Kapitel Infektionsschutzrecht

Dr. Rudolf Ratzel

5. Kapitel Infektionsschutzrecht

I.Gesetzliche Grundlagen1 – 20

II.Koordinierung und Früherkennung21

III.Überwachung und Meldewesen22

IV.Verhütung übertragbarer Krankheiten23 – 26

V.Bekämpfung übertragbarer Krankheiten27

VI.Entschädigung28 – 31

VII.Sanktionen32

Literatur:

Bals/Kuhn Das „Coronavirus“ unter rechtlichen Gesichtspunkten, GesR 2020, 213 ff.; Eibenstein Zur Entschädigung von durch Schließungsandrohungen betroffene Gewerbebetriebe, NVwZ 2020, 930 ff.; Gerhard Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 3. Auflage 2020; Kämmerer/Jischkowski Grundrechtsschutz in der Pandemie – Der „Corona-Lockdown“ im Visier der Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, GesR 2020, 341 ff.; Kluckert (Hrsg.) Das neue Infektionsschutzrecht, 2020; Liebold Impfschäden – aktuelle Entwicklungen, ZMGR 2018, 284 ff.; Makoski/Netzer-Nowrocki Die Impfpflicht nach dem Masernschutzgetz, GesR 2020, 427 ff.; Mers Infektionsschutz im liberalen Rechtsstaat, 2019; Ratzel Der Entwurf für ein Masernschutzgesetz, GesR 2019, 560 ff.; Reschke Entschädigungsansprüche für rechtmäßige infektionsschutzrechtliche Maßnahmen im Zuge der Covid-19-Pandemie, DÖV 2020, 423 ff.; Rixen Die Impfpflicht nach dem Masernschutzgesetz, NJW 2020, 647 ff.; ders. Gesundheitsschutz in der Coronavirus-Krise – Die (Neu-)Regelungen des Infektionsschutzgesetzes, NJW 2020, 1097 ff.; Schaks Die Pflicht zur Verwendung von Kombinationsimpfstoffen gegen Masern – Zur Verfassungsmäßigkeit von § 20 Abs. 8 S. 3 IfSG, MedR 2020, 201 ff.; Schaks/Krahnert Die Einführung einer Impfpflicht zur Bekämpfung der Masern – Eine zulässige staatliche Handlungsoption, MedR 2015, 860 ff.; Stöß/Putzer Entschädigung für Verdienstausfall während der Corona-Pandemie, NJW 2020, 1465 ff.; Welti Das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention – was bringt das Präventionsgesetz?, GuP 2015, 211 ff.; ders. Gibt es ein Recht auf bestmögliche Gesundheit?, GesR 2015, 1 ff.

5. Kapitel Infektionsschutzrecht › I. Gesetzliche Grundlagen

I. Gesetzliche Grundlagen

1

Das Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen – Infektionsschutzgesetz (IfSG) gilt im Wesentlichen seit dem 1.1.2001.[1] Es enthält die Nachfolgenormen des früheren Bundesseuchengesetzes. Historisch entstand der öffentliche Gesundheitsdienst in den Städten des Mittelalters und hatte zunächst nur gesundheitspolizeiliche Aufgaben. Im 17. und 18. Jahrhundert wandelte sich der öffentliche Gesundheitsdienst zu einer Struktur, die in Preußen sowohl Aufgaben der staatlichen Gesundheitsaufsicht als auch Funktionen der kommunalen Gesundheitsfürsorge wahrnahm. Durch das Kreisarztgesetz von 1899 und die zu diesem Gesetz erlassenen Dienstanweisungen wurden die Aufgaben des Kreisarztes in verschiedene Arbeitsschwerpunkte gegliedert. Diese Gliederung ist in den traditionellen Aufgaben des öffentlichen Gesundheitsdienstes auch heute noch und gerade in der aktuellen Krise noch erkennbar. Der Anspruch des IfSG geht aber darüber hinaus. Gemäß § 1 Abs. 1 IfSG ist Zweck des Gesetzes übertragbare Krankheiten bei Menschen vorzubeugen, Infektionen frühzeitig zu erkennen und ihre Weiterverbreitung zu verhindern. § 1 Abs. 2 IfSG bestimmt den Grundsatz weitgehender Kooperation sämtlicher Verwaltungsebenen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene, Angehörigen der Heilberufe, Krankenhäusern, wissenschaftlichen Einrichtungen, Gemeinschaftseinrichtungen und Unternehmen. Die aktuelle Corona-Pandemie zeigt, wie einschneidend die meist sehr weit und allgemein gefassten Befugnisse gehen und in der täglichen Praxis auch Anwendung finden. Die Eingriffsdichte und -tiefe staatlicher (Zwangs-)Maßnahmen stellt alles in den Schatten, was man landläufig im öffentlichen Gesundheitsverwaltungsrecht kennt („Allgemeinverfügung mit Sofortvollzug“[2]). Jüngste Kompetenz-Erweiterungen des Bundesgesundheitsministers zur Verordnungsermächtigung[3] zur Sicherstellung der Versorgung mit Arznei-, Heilmitteln, mit Medizinprodukten, Produkten der Desinfektion und Labordiagnostik ohne Mitwirkung des Bundestages stoßen unter verfassungsrechtlicher Sicht auf erste kritische Stimmen.[4] Diese Maßnahmen sind allerdings zunächst bis zum 31.3.2021 befristet. Die Ausführungsverantwortung lag bislang weitgehend bei den Ländern, die insbesondere in Zuständigkeitsfragen entsprechende Rechtsverordnungen erlassen haben. Die Kompetenzen des Bundes sind aktuell aber nochmals erweitert worden. Im Falle einer bundesweiten Epidemie kann der Bund nunmehr Anordnungen treffen, die den grenzüberschreitenden Personenverkehr einschränken oder Maßnahmen festlegen, um die Identität und den Gesundheitszustand der Einreisenden festzustellen.[5] Ob die Globalermächtigungen des Bundesgesundheitsministers im neu gefassten § 5 Abs. 2 der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern genügt (bislang waren die Länder für die Ausführung des IfSG zuständig) ist hoch umstritten.[6] Dies wird insbesondere hinsichtlich der Frage der seit dem 8.8.2020 eingeführten Verpflichtung zur Duldung von Zwangstests bei Rückkehrern aus Risikogebieten deutlich.[7] Offenbar hat man im BMG diese Problematik erkannt und eine andere Ermächtigungsnorm gewählt. Gem. § 1 der zur Verordnung Testpflicht von Einreisenden aus Risikogebieten vom 6.8.2020[8] gilt die Testpflicht für:

„(1) Personen, die auf dem Land-, See- oder Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland einreisen und sich zu einem beliebigen Zeitpunkt in den letzten 14 Tagen vor der Einreise in einem Gebiet aufgehalten haben, in dem ein erhöhtes Infektionsrisiko mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 besteht, haben nach ihrer Einreise auf Anforderung des zuständigen Gesundheitsamtes oder der sonstigen vom Land bestimmten Stelle ein ärztliches Zeugnis nach Maßgabe des Absatzes 2 darüber vorzulegen, dass bei ihnen keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 vorhanden sind. Die Anforderung nach Satz 1 kann bis zu 14 Tage nach Einreise erfolgen. Gebiete im Sinne des Satzes 1 sind die Gebiete, die das Robert Koch-Institut zum Zeitpunkt der Einreise auf seiner Internetseite unter https://www.rki.de/covid-19-risikogebiete veröffentlicht hat.

(2) Das ärztliche Zeugnis muss in deutscher oder in englischer Sprache verfasst sein und sich auf eine molekular- biologische Testung auf das Vorliegen einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 stützen, die in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem sonstigen Staat durchgeführt worden ist, der durch das Robert Koch-Institut auf seiner Internetseite unter https://www.rki.de/covid-19-tests veröffentlicht worden ist. Die molekularbiologische Testung darf, soweit sie vor Einreise in die Bundesrepublik Deutschland stattgefunden hat, höchstens 48 Stunden vor der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland vorgenommen worden sein.

(3) Die ärztliche Untersuchung auf das Vorliegen einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2, die Personen nach § 36 Absatz 7 Satz 2 des Infektionsschutzgesetzes verpflichtet sind zu dulden, weil sie nicht ihrer Pflicht nach Absatz 1 Satz 1 nachkommen, umfasst eine molekularbiologische Testung auf das Vorliegen einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 einschließlich einer Abstrichnahme zur Gewinnung des Probenmaterials.

(4) Die Verpflichtung nach Absatz 1 gilt nicht für Personen, die lediglich durch ein Risikogebiet durchgereist sind und dort keinen Zwischenaufenthalt hatten oder die aufgrund einer landesrechtlich vorgesehenen Ausnahme an ihrem Wohnsitz oder ihrem ersten sonstigen Aufenthaltsort keiner Verpflichtung zur häuslichen Absonderung nach der Einreise aus einem Risikogebiet unterliegen.

(5) Eine nach Landesrecht angeordnete Verpflichtung zur Absonderung nach der Einreise aus einem Risikogebiet bleibt unberührt. Weitergehende Regelungen und Einzelmaßnahmen der Länder nach dem Infektionsschutzgesetz bleiben unberührt.“

2

Offensichtlich wurde die Zustimmung des Bundesrats gem. § 36 Abs. 7 S. 5 für entbehrlich gehalten. Konsequenz ist, dass diese Verordnung ein Jahr nach ihrem Inkrafttreten außer Kraft tritt, es sei denn, ihre Geltungsdauer wird – diesmal mit Zustimmung des Bundesrats – verlängert (§ 36 Abs. 7 S. 6).

3

§ 5a IfSG räumt Pflegefachkräften und Notfallsanitätern nach Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite die Befugnis zur Ausübung arztgleicher heilkundlicher Tätigkeiten ein, soweit die jeweilige Fachkraft die erforderliche Kompetenz innehat und eine ärztliche Behandlung im konkreten Fall nicht zwingend erscheint. Bayern hat – wie NRW – unter dem Eindruck der Corona-Pandemie ein eigenständiges Infektionsschutzgesetz verabschiedet, das ergänzende Regelungen enthält.[9] Die Bay. Staatsregierung kann danach den Gesundheitsnotstand feststellen. Dies ermächtigt die zuständigen Behörden z.B., zur Sicherstellung der Versorgung benötigtes Material zu beschlagnahmen; Veräußerungsverbote können diese Maßnahmen flankieren. Betriebe können verpflichtet werden, entsprechende Materialien herzustellen. Meldepflichten zur Bestandserfassung des benötigten Materials werden eingeführt. Feuerwehren und freiwillige Hilfsorganisationen werden verpflichtet Namen, Alter und Kontaktdaten ihrer Mitglieder zu übermitteln, die über medizinische oder pflegerische Kenntnisse verfügen, die die Behörde zur Bewältigung des Gesundheitsnotstands benötigt. Gleiche Pflichten treffen die Bayerische Landesärztekammer und die Bayerische Landeszahnärztekammer, die auch Ruheständler melden müssen. Diese Personenkreise können zum Dienst zwangsverpflichtet werden, soweit sie dadurch nicht in ihrer Gesundheit oder körperlichen Unversehrtheit unverhältnismäßig gefährdet werden.[10]

 

4

Mit dem zweiten Pandemiegesetz vom 14.5.2020[11] hat der Gesetzgeber schon kurze Zeit nach der ersten Novelle vom 25.3.2020 erhebliche Neuregelungen beschlossen. Die Neuregelungen im Einzelnen:

5

Das BMG kann die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) per Verordnung verpflichten, Tests auf das Coronavirus oder Antikörpertests grundsätzlich zu bezahlen. Damit werden Tests in einem weiteren Umfang als bisher möglich – z.B. auch dann, wenn jemand keine Symptome zeigt. Gesundheitsämter sollen Tests ebenfalls über die GKV abrechnen können. Im Umfeld besonders gefährdeter Personen – etwa in Pflegeheimen – soll verstärkt auf Corona-Infektionen getestet werden. So können Infektionen früh erkannt und Infektionsketten effektiv unterbrochen werden. Die Labore müssen künftig auch negative Testergebnisse melden. Teil des Meldewesens ist künftig auch, wo sich jemand wahrscheinlich angesteckt hat. Die Daten werden anonymisiert an das RKI übermittelt. Das BMG kann Labore verpflichten, Daten von Proben pseudonymisiert an das RKI zu übermitteln. Ein Rückschluss aus den übermittelten Daten auf die Person ist auszuschließen.

6

Um die Kosten von Testungen auf eine SARS-CoV-2-Infektion von Patientinnen und Patienten zu decken, die in Krankenhäusern stationär behandelt werden, wird ein neues Entgelt eingeführt. Um besser einschätzen zu können, wie das COVID-19-Krankenhausentlastungsgesetz wirkt und wie es sich auf die wirtschaftliche Lage der Krankenhäuser auswirkt, werden zwei unterjährige Datenübermittlungen zum Leistungsgeschehen eingeführt. Die Ergebnisse werden dem BMG vorgelegt.

7

Alle Beschäftigten in der Altenpflege erhalten im Jahr 2020 einen gestaffelten Anspruch auf eine einmalige Sonderleistung (Corona-Prämie) in Höhe von bis zu 1.000 €. Die höchste Prämie erhalten Vollzeitbeschäftigte in der direkten Pflege und Betreuung. Auch Auszubildende, Freiwilligendienstleistende, Helfer im freiwilligen sozialen Jahr und Leiharbeiter sowie Mitarbeiter in Servicegesellschaften sollen eine Prämie erhalten.

8

Arbeitgebern in der Pflege werden die Prämien im Wege der Vorauszahlung zunächst von der sozialen Pflegeversicherung erstattet. In der zweiten Hälfte des Jahres 2020 werden das Bundesministerium für Gesundheit und das Bundesministerium der Finanzen miteinander festlegen, in welchem Umfang die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung Zuschüsse des Bundes zur Stabilisierung der jeweiligen Beitragssätze (auch zur Refinanzierung der Corona-Prämien) erhalten. Die Länder und die Arbeitgeber in der Pflege können die Corona-Prämie ergänzend bis zur Höhe der steuer- und sozialversicherungsabgabenfreien Summe von 1.500 € aufstocken.

9

Bislang erhalten Beschäftigte für bis zu 10 Tage Pflegeunterstützungsgeld als Lohnersatzleistung, wenn plötzlich ein Pflegefall in der Familie auftritt und sie die Pflege für einen Angehörigen zu Hause organisieren müssen. Bis zum 30.9.2020 wird Pflegeunterstützungsgeld auch gezahlt, wenn eine Versorgungslücke bei der Pflege zu Hause entsteht (weil z.B. eine Pflegekraft ausfällt oder ein ambulanter Pflegedienst schließt). Anders als heute wird das Pflegeunterstützungsgeld zeitlich befristet nicht mehr bis zu 10, sondern bis zu 20 Tage lang bezahlt. Das Recht, der Arbeit wegen einer akuten Pflegesituation in der eigenen Familie fernzubleiben, umfasst bis zum 30.9.2020 ebenfalls 20 statt wie bisher 10 Tage. Zudem werden weitere pandemiebedingte Flexibilisierungen im Pflegezeitgesetz und Familienpflegezeitgesetz vorgenommen.

10

Zur Überbrückung etwa von quarantänebedingten Versorgungsengpässen in der Pflege können stationäre Rehabilitations- und Vorsorgeeinrichtungen in Anspruch genommen werden. Der Leistungsanspruch für Kurzzeitpflege in stationären Rehabilitations- und Vorsorgeeinrichtungen wird zeitlich befristet angehoben. Pflegebedürftige im Pflegegrad 1 können den Entlastungsbetrag in Höhe von 125 € – abweichend von den derzeit geltenden Vorgaben nach Landesrecht – auch anderweitig verwenden. Dies gilt zeitlich befristet bis zum 30.9.2020 bspw. für haushaltsnahe Dienstleistungen.

11

Für alle Pflegebedürftigen gilt: Die bisherige Ansparmöglichkeit von nicht in Anspruch genommenen Entlastungsleistungen wird einmalig um drei Monate verlängert. Anbieter im Bereich der Alltagsunterstützung bekommen Mindereinnahmen und außerordentliche Aufwendungen von der Pflegeversicherung erstattet. Die Erstattung der Mindereinnahmen wird begrenzt auf bis zu 125 € monatlich je Pflegebedürftigen, der die Dienste des Angebotes nicht in Anspruch nimmt.

12

Der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) wird durch Maßnahmen des Bundes während der epidemischen Lage von nationaler Tragweite unterstützt – insbesondere, um die Digitalisierung voranzutreiben. Dafür werden etwa 50 Millionen € für die 375 Gesundheitsämter bereitgestellt. Im Robert Koch-Institut wird dauerhaft eine Kontaktstelle für den Öffentlichen Gesundheitsdienst eingerichtet. Weitere erhebliche finanzielle Fördermaßnahmen wurden Anfang September 2020 angekündigt.

13

Das Bundesministerium für Gesundheit kann vorübergehende Flexibilisierungen in den Ausbildungen zu den Gesundheitsberufen ermöglichen, z.B. bezüglich der Dauer der Ausbildung, der Nutzung von digitalen Unterrichtsformen oder der Durchführung von Prüfungen. Das Bundesministerium für Gesundheit erhält die Möglichkeit, die Ausbildungen nach den Approbationsordnungen für Zahnärzte und für Apotheker kurzfristig für die Zeit der epidemischen Lage flexibler zu gestalten. Bspw. kann geregelt werden, dass Lehrveranstaltungen durch digitale Lehrformate unterstützt oder ersetzt werden. Die neue Approbationsordnung für Zahnärzte und Zahnärztinnen tritt wie geplant am 1.10.2020 in Kraft. Allerdings gilt die alte Approbationsordnung für Studierende, die vor dem 1.10.2021 das Studium der Zahnheilkunde beginnen oder begonnen haben, zunächst weiter. So haben die Fakultäten ausreichend Zeit für die Umstellung auf die neue Approbationsordnung. Die neuen Regelungen zur Durchführung der Eignungs- und Kenntnisprüfung gelten wie geplant bereits zum 1.10.2020.

14

Kann jemand aufgrund z.B. einer Quarantäneanordnung nicht arbeiten, hat er unter bestimmten Umständen einen Anspruch auf Erstattung seines Verdienstausfalls. Die Antragsfrist dafür wird deutlich verlängert – von 3 auf 12 Monate. So werden die Betroffenen, aber auch die Verwaltung entlastet.

15

Wegen der gegenwärtigen Einschränkungen des öffentlichen Lebens können Präventionskurse und andere Gesundheitsförderungsmaßnahmen nur bedingt durchgeführt werden. Deshalb müssen die Ausgaben der Kranken- und Pflegekassen für diese Leistungen im Jahr 2020 ausnahmsweise nicht den gesetzlich vorgegebenen Beträgen entsprechen. Die Leistungsverpflichtung der Kranken- und Pflegekassen besteht aber weiter. Ärztinnen und Ärzte können mehr saisonalen Grippeimpfstoff vorab bestellen, ohne Regressforderungen der Krankenkassen wegen unwirtschaftlicher Verordnung befürchten zu müssen.

16

Privat Krankenversicherte, die vorübergehend hilfebedürftig werden und in den Basistarif wechseln, können einfacher – das heißt ohne erneute Gesundheitsprüfung – in ihren Ursprungstarif zurückwechseln.

17

Im Bereich digitaler Gesundheitsanwendungen werden Pilotprojekte zur Verwendung elektronischer Übermittlungsverfahren von Verordnungen sowie zur Durchführung der Abrechnung ermöglicht.

18

Das Inkrafttreten des neuen Medizinprodukterecht-Durchführungsgesetzes wird verschoben, so dass das Medizinproduktegesetz bis zum 26.5.2021 weiter gilt. So können sich die Hersteller auf die Produktion der für die Bewältigung der COVID-19-Pandemie dringend benötigten Medizinprodukte konzentrieren und die Versorgungssicherheit in Deutschland weiter gewährleisten. Dies geschieht auf der Grundlage der europäischen Vorgaben.

19

Als Zeichen der europäischen Solidarität übernimmt der Bund die Kosten für die intensivmedizinische Behandlung von Patientinnen und Patienten aus dem europäischen Ausland in deutschen Krankenhäusern, wenn die Patienten in ihrem Heimatland wegen fehlender Kapazitäten nicht behandelt werden konnten.

20

Das Gesetz tritt im Wesentlichen am Tag nach der Verkündung in Kraft.