Häuptling Schlappschritt

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Wie Ü90 an den Kasseler Bergen

Wie mich das kleine rothaarige Mädchen stehen ließ und meine weißen Laufschuhe ihre Unschuld verloren.

Elf Kilometer können verdammt lang sein. Vor allem, wenn man die Distanz zum ersten Mal an einem Stück läuft wie ich beim Schiffshebewerk-Volkslauf in Scharnebeck. Ungefähr fünf Minuten vor dem Start stellt sich die Sinnfrage verschärft. Der nächste Regenschauer geht nieder, der Südwestwind pfeift über den Sportplatz am Schulzentrum, der alles ist, nur nicht windgeschützt.

Ein paar dick eingemummte Kinder laufen zwei Sportplatzrunden. Einige werden von ihren Eltern angefeuert, einige gar begleitet – wie peinlich. Gut, dass meine Eltern knapp 200 Kilometer Luftlinie entfernt sind, wahrscheinlich gerade in aller Ruhe frühstücken und absolut nichts ahnen von meinen sportlichen Ambitionen.

In der Nacht zuvor habe ich kaum ein Auge zugetan. So nervös war ich zuletzt vor meiner Führerscheinprüfung. Und damals konnte ich wenigstens mit dem Auto fahren und musste mich nicht selbst bewegen. Zum Frühstück Kaffee wie üblich, um überhaupt wach zu werden. Wann bin ich das letzte Mal freiwillig sonntags vor acht Uhr aufgestanden? Aber darf ich Nervenwrack jetzt überhaupt Kaffee trinken, oder geht das schon zu sehr auf die Blase? Ob auch bei Volksläufen Dixi-Klos aufgestellt sind?

Ich habe bestimmt schon fünfmal meine Mütze auf- und wieder abgesetzt, meine Trainingsjacke an- und wieder ausgezogen. So viele Dehnübungen wie in der letzten halben Stunde schaffe ich sonst pro Monat. Anders formuliert: Ich bin nervös. Knapp 150 Frauen und Männer stellen sich auf. Jeder scheint genau zu wissen, wo er sich zu platzieren hat. Alle haben die landkreisinterne Hackordnung schon auf vielen Rennen ausgefochten. Ich aber bin das neue Hähnchen im Stall. Stelle ich mich zu weit vorn hin, werde ich wahrscheinlich auf den ersten zehn Metern gnadenlos niedergewalzt. Stelle ich mich brav hinten kurz vor den Walkern an, gebe ich mich ja schon kampflos mit Platz 120 bis 130 zufrieden. Nein, ich wähle ein Plätzchen mitten in der Mitte.

Ein Offizieller spricht. Ich höre nur „matschig“, „aufpassen“ und „vielen Dank auch an die Feuerwehr und das Rote Kreuz“. Fürs Einsammeln der Fußlahmen? Endlich der Startschuss. Innerhalb von zwei Sekunden bekomme ich drei Tritte in die Hacken, werde zweimal angerempelt – ich fühle mich wie ein holländischer Wohnwagenfahrer, der sich an den Kasseler Bergen auf die Überholspur verirrt hat. Und dabei haben wir den Sportplatz noch nicht einmal verlassen. Andere wollen gewinnen. Ich will durchkommen. Nicht Letzter werden. Mich von keinem Walker überholen lassen. Und wirklich niemals stehen bleiben.

Nach zwei Kilometern hat sich die Spreu vom Weizen getrennt. Ich bin eindeutig Spreu. Wenn ich nicht in der Altersklasse M40 laufen würde, sondern in der Gewichtsklasse Ü90, wären meine Chancen eindeutig besser. Ein Fall für die Anonymen Schweinshaxenfresser bin ich nicht gerade, aber rundherum machen nur Hungerhaken Dampf. Hätte ich mir die zwei Bananen vorm Start doch verkniffen.

Es geht auf kaum bis gar nicht befestigtem Weg quer durch die Feldmark. Der eiskalte Wind pfeift mir um die Ohren. Wie halten das einige Leute nur in kurzen Hosen oder Shirts aus? Das sind wohl die gleichen Zeitgenossen, die zu Neujahr ein Loch in einen See hacken und fröhlich lachend ins Wasser plumpsen. Allmählich spüre ich, warum ansonsten niemand eine Wollmütze trägt. Mir wird warm und wärmer im Oberstübchen. Die Ohren müssen mittlerweile so stark glühen, dass man mich auch als Leuchtturm an der Nordseeküste einsetzen kann.

„Das wird heute Hardcore“, hatte jemand vor dem Start geunkt. Kurz vor Nutzfelde weiß ich, was er gemeint hat. Schlamm, Modder, Pfützen. Zwei austrainiert wirkende Mädels passieren mich mit aufreizend lockerem Schritt. Die eine ist sehr bald außer Sicht, die andere bleibt ein paar Meter vor mir. Ich hefte mich wie Charlie Brown an die Fersen dieses kleinen rothaarigen Mädchens.

Kilometer fünfeinhalb, erste Verpflegungsstation. Im Laufen schnappe ich mir einen Becher Tee, zwei Drittel vom Getränk landen prompt auf meiner Jacke. Und das kleine rothaarige Mädchen setzt sich Meter um Meter ab, während einige ältere Herrschaften um mich herum schwächeln. Wie bin ich drauf? Die Beine machen halbwegs gut mit, der Atem hört sich schon etwas gequälter an. Jetzt bloß keine Seitenstiche.

Dann geht’s hoch zum Elbe-Seitenkanal. Ein paar Halbmarathon-Cracks, die schon die zweite Runde in Angriff nehmen, sind so unverschämt, sich fröhlich miteinander zu unterhalten, während sie an mir vorbeifliegen. Bei mir würde die Luft noch gerade für „Wasser!“ reichen. Das namensgebende Schiffshebewerk sehen wir nur aus großer Entfernung, denn schon geht’s wieder rein in das nächste Wäldchen.

Kilometer neun. Eine heimtückische Steigung voller Matsch – Typ Anstieg L’Alpe d’Huez bei Dauerregen – wartet. Meine ehemals weißen Schuhe sind eh mittlerweile dunkelbraun mit grünlichen Flecken, also renne ich hemmungslos mitten durch die Pampe. Ha! Der Kerl, der vor mir stehen bleibt und nach Luft japst, ist die beste Motivation, jetzt bloß nicht das gleiche zu tun.

Noch wenige hundert Meter. Jetzt geht es durch die Scharnebecker Außenbezirke zurück zum Sportplatz. Ausgerechnet hier steht unser Fotograf, der das Häuflein Elend, das ich zurzeit darstelle, für die morgige Ausgabe der Landeszeitung aufnehmen soll. Ich lege ein verzerrtes Grinsen auf. Den nach oben gereckten Daumen verkneife ich mir – allzu dreist möchte ich doch nicht lügen.

Eine letzte miese Steigung durch eine Wohnstraße. Das kleine rothaarige Mädchen ist so frech, das Tempo nochmals anzuziehen. Etwas warmen Applaus von einigen unentwegten Zuschauern kriege ich trotzdem noch ab. Danke fürs Mitleid. Ziel!

„Na, Sport machen ist doch anstrengender als über Sport schreiben“, begrüßt mich zirka 0,1 Sekunden nach meiner Ankunft Scharnebecks Vereinschef Ottfried Bitter mit spöttischem Grinsen. Wesentlich willkommener sind jetzt eine Decke und warmer Tee.

Ich habe es geschafft. Lächerliche 18:18 Minuten langsamer als der Gesamtsieger, aber immerhin 14:35 Minuten schneller als der schnellste Walker – so kann ich halbwegs erhobenen Hauptes in die Kantine des Schulzentrums humpeln. In der rechten Wade kneift’s. Doch ich habe keine Kraft, um auszulaufen. Amüsiert lausche ich viel lieber in der Aula, wie sich die Konkurrenz mit ihren Heldentaten brüstet. Angeber! Hoffentlich werde ich nie so zahlenversessen. 59 Minuten und 23 Sekunden können übrigens wirklich verdammt lang sein.

Am gleichen Wochenende, das lese ich später, hat der Kenianer Samuel Kamau Wanjiru für seinen Lauf in Den Haag 58:33 Minuten benötigt – Weltrekord im Halbmarathon. Meine Güte, der ist zehn Kilometer mehr als ich gelaufen und war trotzdem früher im Ziel. Aber in Den Haag gibt es bestimmt auch nicht so fiesen Schlamm auf der Strecke.

Immer gewinnen die anderen

Warum noch kein Lauf schwach genug besetzt für mich war und warum die wahren Konkurrenten in einer anderen Altersklasse zu finden sind.

Ein richtig familiärer Lauf ist einer, bei dem selbst ich die Chance auf einen Medaillenplatz habe. Der Adventslauf in Ebstorf ist so einer, zu dem sich in der Regel nur um die fünfzig Leutchen auf den Zehner trauen. Und weil der Adventslauf sinnigerweise in der Adventszeit stattfindet, lassen es die meisten eher gemütlich angehen.

In meinem allerersten Laufjahr bin ich mit einem guten Dutzend Lüneburgern nach Ebstorf gefahren. Und alle, wirklich alle, sind auf dem Treppchen gelandet. Nur ich hatte wieder die Altersklasse erwischt, in der doch drei Männer nichts besseres vorhatten, als mir am 1. Advent davonzulaufen.

Beim zweiten Versuch ist sogar mein Sohnemann – es war sein erster und bisher letzter Volkslauf – im Jugendlauf auf Platz zwei ins Ziel gekommen, ich in meiner verflucht überlaufenen Altersklasse als Vierter. Erst der dritte Start in Ebstorf bescherte mir wenigstens einen zweiten Platz – mit nur elf Minuten Rückstand auf den Sieger. Die Auswertung eines Zielfotos konnte man sich also sparen.

Eigentlich gibt es nur drei Sorten von Läufern. Die Sorte, die vor allem im Kampf Mann gegen Mann bestehen und gewinnen will. Die Zeitfixierten, die alles für eine neue persönliche Bestleistung tun, die ihre Seele an den Teufel verkaufen oder gar zehn Wochen nach einem Greif-Trainingsplan laufen. Und die Glücklichen, denen Platz und Zeit egal sind.

Sehr viele behaupten letzteres zumindest von sich – und dann sieht man sie doch wieder alle eine Viertelstunde nach dem Zieleinlauf nervös in der Sporthalle herumtrippeln, weil die Ergebnisse immer noch nicht aushängen.

Da ich meine Lauffähigkeiten nicht maßlos überschätze, begrüße ich in der Regel vor einem Volkslauf die durchtrainierten Sportkameraden A, B, C und D aus meiner Altersklasse freundlich und weiß im gleichen Moment, dass es doch wieder höchstens zu einem fünften Platz reichen wird. Dieses Limit nehme ich mittlerweile so gleichmütig hin wie das nasskalte Novemberwetter, das uns in aller Regel Heiligabend erfreut. Aber wenn D mal einen schlechten Tag hat, sich daher kilometerlang in meinem Windschatten ausruht, um dann auf den letzten 400 Metern doch wieder den Turbo anzuwerfen – wer sich da nicht doch ein kleines bisschen ärgert, der hat ganz bestimmt das Zeug, der nächste Dalai Lama zu werden.

Die Sportkameraden A, B, C und D sehe ich in der Regel aber nur bei Volksläufen. Den Alex oder den Jens zum Beispiel sehe ich dagegen ein- oder zweimal pro Woche, weil ich mit ihnen meine Trainingsrunden drehe. Und auch wenn Alex gut zehn Jahre jünger ist und Jens fünf Jahre älter als ich, wir uns also niemals in der gleichen Altersklasse um die billigen Plätze hinter den Cracks balgen werden, sehe ich sie doch insgeheim lieber hinter als vor mir, wenn es ernst wird. Klar freut man sich doch mit ihnen, wenn es beim Trainingspartner so gut läuft. Wäre aber noch schöner, wenn sie sich mit mir freuen würden, oder?

 

Dabei habe ich es noch niemals auch nur ansatzweise geschafft, mit Alex, Jens oder irgendeinem anderen Laufpartner ein Rennen zusammen zu laufen, auch wenn unsere Bestzeiten sehr nahe beieinander liegen. Auf unserer gewöhnlichen Sonntagsrunde reden wir ohne Punkt und Komma über Fußball, Politik und Unarten von anderen Läufern und finden fast immer schnell ein Tempo, mit dem wir alle leben können. Doch wenn wir eine Startnummer vorm Bauch kleben haben, wird jeder zum Individualisten, der für die Dauer des Wettkampfs ein Schweigegelübe abgelegt hat.

Nur mit Doktor Thomas hatte ich mal das Vergnügen, einen komplett verregneten 30-Kilometer-Vorbereitungswettkampf vom ersten bis zum letzten Schritt zusammenzulaufen – allein hätte jeder von uns beiden wohl spätestens nach der Hälfte aufgegeben. Drei Wochen später wollten wir gucken, wie lange wir uns beim Lübeck-Marathon gegenseitig ziehen können. Nach dem Start drängelten wir uns einmal ums Holstentor – schon hatte ich Thomas aus den Augen verloren und nie wieder gefunden.

Nur eine Geschichte, die muss noch geschrieben werden: die von meinem allerersten ersten Platz. An dem Tag, an dem A krank zu Hause geblieben ist, B lieber den Halbmarathon in Posemuckel lief, C als Helfer einspringen musste und D mich 400 Meter vorm Ziel doch noch nicht ganz erreicht hatte, weil er zwischendurch wegen einer schwachen Blase dreimal in die Büsche musste. Der Tag wird definitiv kommen! Und es wird mir total egal sein, natürlich. Wie egal, werde ich dann sicher mit schlappen 3000 Wörtern in meinem Blog schildern.

Die Letzten werden die Ersten sein (Campuslauf Lüneburg 2007)

Zur Uni geht man, um etwas zu lernen. Zum Beispiel, wie man sich einen Lauf tunlichst nicht einteilen sollte. 55 Minuten hatte ich mir als Ziel für die 10 Kilometer vorgenommen, macht bei acht Runden im Schnitt 6:52,5. All die gestählten Studierenden legten ein Höllentempo vor, als wollten sie sich gesammelt für die Sporthochschule Köln bewerben. Ich lasse mich mitziehen, gucke nach der ersten Runde kreuz und quer über den Campus erschrocken auf die Uhr: glatte sechs Minuten!

Runde sechs. Mittlerweile brauche ich mehr als sieben Minuten. Die Adendorfer Wilhelm und Wilhelm, beide um die 70, passieren mich. Dranheften. Wenigstens das klappt. Ich erreiche das Ziel im Windschatten der Adendorfer. Und zwölf Sekunden vor dem Mann mit dem weißen Käppi, der mich lange gescheucht hat. Kleine Triumphe …

Eine Stunde später im Studio 21. Die ersten Drei jeder Klasse erhalten Präsente – und dann werden die langsamste Frau und der langsamste Mann nach vorn gebeten, bekommen ihre Auszeichung und tosenden Applaus. Ich stehe als 23ster von 29 mit leeren Händen da. Und mit einer Taktik fürs kommende Jahr: ganz langsam beginnen und dann noch weiter abbauen.

Sparen, bis die Lunge rasselt

Wieso ich eigentlich mal wieder hemmungslosrauchen sollte – wenigstens für zwei Wochen.

Was das Rauchen kostet! Wer ein Schächtelchen pro Tag wegqualmt, also 365 im Jahr, verbrennt von Januar bis Dezember bei einem Preis von einem Fünfer pro Schachtel 1825 Euro. Für das Geld kann man mit seiner Liebsten schon einen schönen Urlaub finanzieren – in einem Schaltjahr gibt’s den Cappuccino auf dem Flughafen dazu. Und wem beim Abgewöhnen nicht die üblichen Argumente (Lungenkrebs, soziale Ächtung, ständig stinkende Kleidung, Rauchverbot in Kneipen) weiterhelfen, der kann ja mal an die finanzielle Seite denken.

Ich habe jedenfalls am 29. August 2006 meine letzte Zigarette geraucht (abgesehen von ein paar geschnorrten in schwachen Momenten) und im gleichen Zug ausgerechnet, was ich in Zukunft sparen werde. Zwei Euro pro Tag wollte ich nun zur Seite legen und mir von dem angesparten Geld als Belohnung immer mal wieder etwas richtig Schönes gönnen.

Zum Beispiel Ausrüstung für den Sport. Nach und nach wurden fällig: Laufschuhe (60 Euro, stark reduziert), neue Hallenschuhe (40 Euro, dito), eine kurze Hose (15), zwei Laufhosen vom Discounter (20), zwei NBA-Shirts (40 Euro – bei eBay inklusive Versand), zwei Wollmützen (20), diverser Sweat- und T-Shirt-Kleinkram (45), ein MP3-Player, ohne den ich diverse Qualen nicht ausgehalten hätte (60). Macht zusammen 300 Euro – mit fünf Monaten Nichtrauchen habe ich die Sportartikelindustrie quasi im Alleingang gerettet.

Einen neuen Sportrucksack und einen Trainingsanzug fand ich unter dem Weihnachtsbaum. Mehrkosten für Lebensmittel, die ich extra nach Fitness-Attacken futterte, sowie für schlaue Bücher und Zeitschriften zu Fitness-Themen will ich ja gar nicht erst ermitteln. Schließlich bin ich ja auch ein-, zweimal erschöpft auf dem Sofa eingeschlafen, als ich eigentlich zum Kneipenbummel aufbrechen wollte. Aber braucht man nicht irgendwann ein zweites oder drittes Paar Laufschuhe? Endlich einmal eine Laufjacke, atmungsaktiv und windschnittig? Neue Badehose und Schwimmbrille? Eine Pulsuhr? Ein 14-Tage-Seminar bei irgendeinem Fitness-Guru auf Korsika oder wenigstens in Mittelfranken?

Das kostet. Und lässt sich wohl nur mit drastischen Maßnahmen finanzieren. Sollte ich einfach mal wieder für ein paar Wochen rauchen, drei Schachteln pro Tag, bis die Lunge rasselt? Wenn ich dann wieder aufhöre – mindestens zehn Euro pro Tag kann ich dann für den guten Sport verplanen.

Doch dann hat mich eine Studie schwer schockiert. Demnach kostet ein dicker Raucher die Allgemeinheit zigtausend Euro weniger als der dünne Hering, der gesund lebt. Wenn der Genussmensch die Radieschen längst von unten anschaut, humpelt der Gesundheitsbewusste immer noch mit irgendwelchen Meniskusgeschichten zum Doc und will partout nicht einsehen, dass man nach seinem 90. Geburtstag lieber nicht mehr von seiner Ironman-Premiere auf Hawaii träumen sollte.

Ich persönlich mag diese Rechnung nicht unterschreiben. Denn seitdem ich die Nikotin- durch die Laufsucht ersetzt habe, spare ich ja nicht nur die Schachtel Kippen pro Tag. Sondern bin praktisch allein dafür verantwortlich, dass im Frühling der Konjunktur-Motor anspringt. Neue Klamotten sorgen für neue Motivation, neue Schuhe zunächst für neue Blasen, aber dann für Wunderzeiten. Nicht zu vergessen die Pulsuhr, quasi die Handtasche des ambitionierten Läufers. Kaufen, kaufen, kaufen!

Bei meinen ersten Runden mochten ja vielleicht ein olles Shirt und die alte Turnhose als Outfit ausgereicht haben. Verächtlich habe ich die Nase gerümpft angesichts der durch die Wälder rasenden ausgemergelten Gestalten mit quietschbunten Synthetik-Laufjacken, eng anliegenden Strumpfhosen und Tretern, die aussahen, als hätte sie ein Teletubby nach drei Gläsern zu viel Waldmeisterbowle entworfen. Mittlerweile weiß ich es besser: Das Shirt für 10 Euro kannst du nach einer halben Stunde auswringen, das Shirt für 20 hält wenigstens trocken, das für 30 trägt sich gut und das für 40 sieht sogar chic aus – und vor allem laufen mit diesem Luxusteil nicht noch zwei Dutzend Nasen pro Volkslauf herum.

Jeder braucht seine Droge (Tiergartenlauf Lüneburg 2007)

„Du hast das Rauchen immer noch nicht wieder angefangen?“, mein Schwesterchen ist entsetzt. „Nee, ich rauche nicht mehr, ich laufe“, entgegne ich. „Na ja, jeder braucht halt seine Droge“, kontert sie. Und jetzt gebe ich mir die extra starke Dosis: 19,1 Kilometer beim Tiergartenlauf des MTV Treubund. Mein erster Lauf weit jenseits eines Zehners.

Zur Motivation rechne ich aus: Kilometer mal Körpergewicht ist ungefähr die Kalorienanzahl, die man beim Laufen verbrennt. Der Trick wirkt. Gerade rechne ich 19,1 mal 92 in Tafeln Schokolade um, da taucht Lauftreff-Trainerin Susanne nach der Hälfte der Strecke vor mir auf: „Komm, du bist auch schon mal schneller gerannt. Ein paar Leute packst du doch noch.“

Ich klemme also mein virtuelles Messer zwischen die Zähne und gebe Vollgas. Ein Pärchen weit vor mir scheint locker austrudeln zu wollen. Die packst du noch! Millimeter für Millimeter arbeite ich mich heran. Wenige Meter vorm Ziel habe ich sie fast. Aber ich kann nicht mehr. Und jetzt rasen zwei Angeber auf der Zielgeraden an mir vorbei. Wer jetzt noch so sprinten kann, der hat sich vorher nicht richtig angestrengt, oder?

Eine lächerliche halbe Stunde schneller – und ich schaffe es nächstes Mal aufs Treppchen. Jetzt schaffe ich es gerade noch zum Getränkestand, zum Kuchenstand, zum Bratwurststand. Ein paar Läufer haben eine Fluppe zwischen den Lippen – die würde jetzt bestimmt richtig reinhauen … Nee, ich bleib’ tapfer.

„Drei Viertel der Läufer sind doch eh Junkies“, sagt nicht meine Schwester, sondern meine Liebste. Und sie hört sich dabei nicht so an, als wenn sie mich ins vierte Viertel einsortieren würde.

Richtig kompliziert wird es, wenn neue Schuhe fällig werden. Denn es ist eine Schande, dass Arbeitgeber Sonderurlaub für einen Umzug gewähren, aber nicht für einen Laufschuhkauf. Der regelmäßige Käufer von Luxustretern mit individueller Pronationsunterstützung für 120 Euro aufwärts leistet für die Volkswirtschaft garantiert mehr als die Sofakartoffel, die sich den täglichen Bedarf an Büchsenbier und Chips beim Discounter besorgt. Da darf man auch ohne schlechtes Gewissen ein paar Jahre länger leben.

Der Sklave meiner Uhr

Warum ich meine eigene Zone immer noch nicht wirklich entdeckt habe und warum vierstellige Zahlen magisch sein können.

Rennen Sie einfach so durch den Wald, ohne Wissen über ihren optimalen Herzfrequenzbereich? Halten Sie die OwnZone für eine englische Bezeichnung der ehemaligen Wochenend-Datscha von Erich Honecker? Hat Ihre Pulsuhr weniger als zwei Dutzend Knöpfe und hundert Funktionen? Sie tragen gar keine Pulsuhr? Sie Glücklicher – dann sind Sie noch nicht Sklave ihres Geräts, dann schaffen Sie noch drei Schritte ohne nervösen Blick aufs Handgelenk. Ich nicht mehr.

Alles fing so harmlos an. Mein altes Steinzeitmodell zeigte brav den Herzschlag und die Laufzeit an – und sonst nichts. Ein bisschen neidisch blickte ich schon auf die Besitzer all der Multifunktions-Chronometer. Präzisionsinstrumente, die bestimmt auch einen akzeptablen Latte macchiato zubereiten oder mit Börsentipps aufwarten können. Aber eines Tages war meine Uhr einfach weg. Ich sah es als Zeichen und bemühte mich um Ersatz.

„Eine Stoppuhr, mit der man auch den Puls messen kann“, begehrte ich kurz und knapp im Laden. Meine letzten Worte vor dem dreiviertelstündigen Vortrag des Verkäufers über diverse Wundergeräte, ihre vielen Vor- und wenigen Nachteile. Faszinierend fand ich das immer wieder lässig eingeworfene Wort „Herzfrequenz-Variabilität“. Erklärung für Doofe wie mich: Verharrt man im trägen Zustand, schlägt das Herz, wie es halt lustig ist, mal nach 0,92 Sekunden, mal nach 0,99 – doch bei einer ganz bestimmten Belastung fällt der Pulsschlag immer gleichmäßiger aus, die Herzfrequenz-Variabilität wird immer geringer. Und da hat man die OwnZone erreicht. Kapiert?

Egal, ich auch nicht. Ich sah die Ermittlung meiner ganz persönlichen OwnZone aber trotzdem als Ticket zum Läufer-Paradies an und hatte nach ein paar Minuten Aufwärmen die Werte: 115 bis 150. Ach. Puls 115 erreiche ich beim gemütlichen Trimmtrab, 150 beim Versuch, Usain Bolt in Sichtweite der Ziellinie zu überholen. Da kann was nicht stimmen.

Noch ein genauer Blick in die Gebrauchsanweisung. Ach so: Ich kann sogar einstellen, ob ich leicht, mittel oder hart trainieren will. (Eigentlich will ich immer leicht trainieren.) Jetzt endlich weiß ich fast immer auf den Pulsschlag genau, welches Tempo ich mir gerade zumuten kann – ansonsten beginnt das Gerät nervös an zu piepsen. Fehlt eigentlich nur noch, dass es unvermittelt einen Stachel herausfährt und in meine Haut rammt, um einen Laktat-Test auszuführen.

Fast schon habe ich mir gedacht: Was soll der Quark? Doch dann leuchtete am Ende des Trainings eine magische vierstellige Zahl auf, die Zahl der Kilokalorien, die ich gerade japsend verbraucht habe. Klasse. Was brauche ich sonst noch an Motivation? Eigentlich nur noch die Umrechnung der Kalorienzahl in Schokoriegel.

PS: Die Polar F11 trage ich acht Jahre später immer noch. Den Brustgurt habe ich längst entsorgt, ein paar Kratzer verzieren das Display. Die Uhr misst keinen Puls mehr, sie kann keine Satelliten finden, keine Durchschnittsgeschwindigkeit errechnen, ist nicht mit irgendeiner Laufcommunity verbunden, ist nicht einmal im Ansatz online. Aber ich nerve sie nicht mehr alle paar Minuten mit nervösen Blicken, sie mich nicht mit einer Datenflut, die ich ohnehin nicht bewältigen kann. Wir vertragen uns einfach gut.

 
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