Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962)

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

2.2. Die drei „Einbruchstellen“





Vor seiner Abreise nach Jugoslawien im April 1928 stattete Reiswitz zur Osterzeit (07./08.04.) Wendel einen zweiten persönlichen Besuch ab. Am 15.04. bedankte er sich bei Wendel für den „abendlichen Osterspaziergang u. den so freundlichen Empfang in Ihrem so liebenswürdigen Kreise“, zu welchem auch der Sozialdemokrat und später im Auftrag des englischen Geheimdienstes tätige Jakob Altmeier (1889–1963) gehörte.

260



Einen Monat später schrieb Reiswitz dann enthusiastisch an Wendel aus Belgrad, vierzehn Tage nach seiner dortigen Ankunft. Zunächst bedankte er sich für Wendels „Empfehlungen“, die ihm „vom ersten Tage an alle Türen geöffnet“ hätten. Weiterer Dank, so Reiswitz, gebührte dem jugoslawischen Gesandten Živojin Balugdžic. Binnen kürzester Zeit hatte Reiswitz begonnen, durch Wendels Mittlerrolle ein Netzwerk aufzubauen, welches er in den Folgejahren pflegen und erweitern sollte: „An der Spitze Slobodan Jovanović’s unglaublich geistvoller u. feiner Diplomaten-Gelehrtenkopf, dann Stanoje Stanojević, bei dem ich dann auch die erste Slawa mitmachte … von den Museen Petković u. seine Assistenten, die Direktoren des Staats-Archivs und des Archivs des Auswärtigen – das sind nun alles Bekannte geworden, u. es eröffnet sich ein Arbeitsfeld von solcher Weite, dass man sich nur immerfort selbst beruhigen muss, um zu einem richtigen und ruhigen Anfang zu kommen.“

261



Viele Details des zweiten Jugoslawienaufenthaltes von Reiswitz sind aus dem Nachlass nur indirekt zu erschließen. Dieses Mal reiste er nicht allein – seine Ehefrau begleitete ihn. Die Anreise erfolgte von Berlin aus über München und Laibach. Am 01.05.28 traf er in Belgrad ein. Nachdem er seine ersten Kontakte geknüpft hatte, reiste er am 14.05. in Richtung Mazedonien ab, um vor allem Ohrid einen Besuch abzustatten. Im Brief an Wendel vom 14./15.05.28 gab Reiswitz an, dass er für diese Fahrt mit einem Empfehlungsschreiben des „Veliki Župan“ ausgestattet worden sei. Der „Veliki Župan“ war von 1922 bis 1929 der höchste Regierungsvertreter in einem der 33 Bezirke Jugoslawiens. Reiswitz hat an dieser Stelle vermutlich den Župan Budimir Borisavljević (1883–1953) gemeint, in dessen Bereich Ohrid fiel. Reiswitz fügte hinzu, dass er denke, dass er „nicht lange in Makedonien bleiben werde, sondern bald wieder zurückkehren werde“. Am 12.08. ließ Reiswitz aber Wendel wissen, dass er fünf Wochen in Mazedonien war. Worin war diese Planänderung begründet?



Dass Ohrid überhaupt Ziel sein sollte, geht aus dem bereits mehrfach erwähnten Brief an Hoetzsch vom 10.01.34 hervor. Reiswitz spach hier von drei sogenannten „Einbruchsstellen“ .

262

 Die erste der beiden „Einbruchstellen“ ist für ihn die „Darstellung jener Jahre, in denen die deutsche und die südslawische Einigungsbewegung aneinander vorüberglitten und in denen sich alle Ansatzpunkte zu den späteren Ressentiments und Vorurteilen bildeten, welche schließlich den Ausbruch des Weltkrieges möglich machten“. Diese „Einbruchstelle“ würde er mit seiner Habilitationsschrift füllen. Die zweite „Einbruchstelle“ sei „auf dem Gebiet der mittelalterlichen Geschichte der Bogumilen“, ein Thema, zu dessen finaler Bearbeitung in gewisser Hinsicht die von Reiswitz begleitete Dissertation von Sabine Lauterbach beitragen würde.

263



Die dritte „Einbruchstelle“ schließlich „liegt in der Initiative, die jenseits des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts noch völlig dunkle Geschichte des nordwestlichen Balkans durch gründliche Erforschung des Ohrid-Gebietes mit dem Spaten anzugreifen. Nach Ohrid brachte mich die Einsicht meiner Berliner Winterarbeit 1927/28.“ Wendel hatte er im Vorfeld der Balkanreise 1928 über seine archäologischen Ambitionen im Allgemeinen und über Ohrid im Besonderen nichts mitgeteilt, zumindest nicht in der überlieferten Korrespondenz.



Worin genau könnten diese „Einsichten“ bestanden haben, die ihn an den Ohridsee führten und die dazu führten, dass er am 09.10.33 seinem Tagebuch anvertraute, dass er „jetzt ein Buch schreiben sollte: Ohrid, die Geschichte einer Passion“? Zum Zeitpunkt von Reiswitz’ zweiter Balkanreise gehörte Ohrid faktisch erst knapp zehn Jahre zum Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Archäologen gehen heute davon aus, dass die früheste Besiedlung für das Neolithikum nachweisbar ist (3.000–2.000 v. Chr.). Bei Strabo (64/63 v.Chr.–24 n.Chr.), der sich wiederum auf Polybios (200–118 v. Chr.) beruft, taucht die Ortsbezeichnung „Lychnidos“ für den Ort auf, der in späterer, slawischer Zeit als „Ohrid“ bekannt werden sollte: „From Apollonia to Macedonia is the Egnatian Way ; its direction is towards the east, and the distance is measured by pillars at every mile (…) The first part of it is called the road to Candavia, which is an Illyrian mountain. It passes through Lychnidus, a city, and Pylon, a place which separates Illyria from Macedonia. Thence its direction is beside Barnus through Heracleia, the Lyncestæ, and the Eordi, to Edessa and Pella, as far as Thessalonica. Polybius says, that this is a distance of 267 miles.“

264

 In diesem Auszug taucht der Reiswitz antreibende Begriff „Illyrer“ auf – welche Lauterbach als die ersten „bekannten Einwohner der westbalkanischen Zone“ identifizierte.

265



Wofür genau die „Illyrer“ stehen, ist ebenso vage und umstritten wie die Frage nach den Bogumilen: „There is nothing new in claiming that ancient Illyrians are a construct developed in Greco-Roman antiquity and perpetuated in different contexts from early modern times to the most recent history.“

266

 Aus Sicht des klassischen Griechenlands wurde Illyrien zum geographischen Begriff für die nicht-griechischen Völker im „illyrischen Dreieck“ zwischen den Alpen, der Adria und der Donau. Diese Vorstellung tauchte auch bei dem österreichischen Südslawienreisenden Felix Kanitz (1829–1904) auf, der vom „kleinen Serbenstaat im illyrischen Dreieck“

267

 sprach. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden die Illyrer wiederentdeckt: „Partially preserved knowledge from antiquity was ‘melted down’ and cast into new and cohesive narratives of the past“.

268

 Zum einen versuchte sich die südslawische Nationalbewegung als Erbe der Illyrer zu definieren. Reiswitz, der ja mit den Werken Wendels vertraut war, konnte so in dessen Monographie „Südosteuropäische Fragen“ Folgendes lesen: „Das Gefühl aber von Blutsverwandtschaft und Schicksalsgleichheit mit den Nachbarn drängte Gaj und die Seinen von der kroatischen Ausschließlichkeit zum südslawischen, zum illyrischen Gedanken. In seinem berühmten Aufsatz verglich er Illyrien, das Dreieck zwischen Villach, Skutari und Varna, einer Leier im Arm der Jungfrau Europa und mahnte, die verstimmten und disharmonischen Saiten des Spiels, Kärnten, Görz, Ragusa, Bosnien, Montenegro, Hercegovina, Serbien, Bulgarien … wieder zu starkem Zusammenklang zu stimmen.“

269

 Ludwig oder auch Ljudevit Gaj (1809–1872) war auch der Begründer der kroatischen Schriftsprache. Wendel sah in seinem 1918 erschienenen Buch ebenso die Serben als „illyrische Nation“

270

, obwohl die illyrische Bewegung durchweg vornehmlich kroatisch konnotiert war. Auf dem Markusplatz in Agram stehend sinnierte er drei Jahre später: „In jeder Richtung von hier aus stößt du auf die Spuren des Illyrismus; zwischen Juli- und Märzrevolution baute diese Poetenbewegung im Luftreich des Gedanken ein Illyrien, nennen wir es beim Namen: ein Südslawien auf.“

271

 Nach 1848 tauchte der Begriff „Illyrien“ in der Tat seltener auf im Zusammenhang mit den südslawischen Einigungsbemühungen.



Dafür übernahm die albanische Nationalbewegung das Illyrertum in ihr politisches Vokabular zur ihrerseitigen Konstruktion eines territorialen wie auch ethnischen und linguistischen Nexus. Einen nicht unwesentlichen Beitrag dazu leistete der englische Offizier und Archäologe William Martin Leake (1777–1860), der 1814 zu dem Schluss kam, dass die Albaner „remnant of this ancient stock“ seien, „a fact confirmed by the whole tenor of their history.“

272

 Zehn Jahre vorher hatte Leake fast einen Teil der „Elgin Marbles“ für immer verloren, als sein mit Lord Elgins (1766–1841) Schätzen beladenes Schiff, die HMS Mentor, südlich des Peloponnes sank.

273

 Leakes Landsmann Arthur J. Evans (1851–1941), der bekannt wurde durch die Ausgrabung des minoischen Palastes von Knossos, bereiste den Balkan in den 1870er Jahren und „acknowledges that the Albanians are true descendents of Illyrians“

274

. Gleichzeitig aber identifizierte er auch die Bevölkerung Süddalmatiens, der Herzegowina und Montenegros als direkte Nachfahren der Illyrer. Dubrovnik war für ihn „the fountain-head of Illyrian culture. … This is the sweet interpreter between the wisdom of the ancients and the rude Sclavonic mind“.

275



Doch die beiden von der Romantik beeinflussten Interpretationen der Illyrer als Ahnen der Südslawen bzw. der Albaner waren nicht die einzigen Reiswitz im Winter 1926/27 verfügbaren Sichtweisen. Im Jahre 1902 hatte der Archäologe und Begründer der „Siedlungsarchäologie“, Gustaf Kossinna (1858–1931), den Aufsatz „Die indogermanische Frage archäologisch beantwortet“ veröffentlicht. Im gleichen Jahr war für ihn eine außerordentliche Professur an der Universität Berlin für „Deutsche Archäologie“ eingerichtet worden.

276

 Damit wurde er belohnt für seine Theorie, dass „Kulturgebiete“ immer „Volksgebiete“ seien.

277

 Er stellte die seinerzeit vielfach beachtete und anerkannte Hypothese auf, dass sich „scharf umgrenzte Kulturprovinzen zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern oder Völkerstämmen decken“.

278

 Wenn ein geschulter Archäologe die materielle Überlieferung eines eindeutig definierten Raumes als ein zusammenhängendes Ganzes ansah, so folgte daraus, dass die dort siedelnden Menschen einer bestimmten Volksgemeinschaft oder Ethnie angehörten. Kossinna deutete die archäologische Befundlage der Vor- und Frühgeschichte Europas so, dass um 1.800 bis 1.700 v. Chr. aus Skandinavien einwandernde Germanen die einheimische indoeuropäische Bevölkerung vertrieben, welche dadurch wiederum zu einer umfänglichen Wanderungsbewegung Richtung Südosteuropa genötigt wurde. Zu diesen einheimischen Stämmen gehörten seiner Anschauung nach die Illyrer: „Wir können, glaube ich, vermuthen, dass die Aunjetitzer Gräber … auf die Anfänge der illyrisch-griechischen Stämme zurückgehen, die bald die Donau insgesammt überschritten und im ferneren Verlauf der Bronzezeit sich immer weiter südlich ausdehnten.“

279

 Diese These fiel naturgemäß bei all jenen auf fruchtbaren Boden, die die bis dahin vorherrschende Theorie, dass sich die vor- und frühgeschichtliche Kulturprogession in Europa von Osten nach Westen vollzogen habe –

ex oriente lux

 – nicht teilten und im Gegensatz dazu zu belegen versuchten, dass es Völker aus dem Norden Europas waren, die den Süden, insbesondere Griechenland, kulturell befruchteten –

ex septentrione lux

.

280

 In Kossinnas Worten: „Um 2000 verbreiteten sich von der Saale und Elbe her Stämme nach Böhmen, Mähren, Niederösterreich (Aunjetitzer Typus), aus denen unmittelbar die Illyrer und Griechen hervorgingen.“

281

 



Etwas anders akzentuierte der Archäologe Carl Schuchhardt (1859–1943) die Vorstellung, dass die Illyrer ihre Wurzeln in Mitteleuropa hätten. Schuchhardt wurde 1908 zum Direktor der Vorgeschichtlichen Abteilung des Museums für Völkerkunde in Berlin bestellt und bekleidete diesen Posten bis zu seiner Pensionierung 1925. Sein Nachfolger wurde Wilhelm Unverzagt (1892–1971), den Reiswitz einige Zeit später persönlich kennenlernen sollte und mit welchem er 1931 mit den Grabungen am Ohridsee beginnen würde, im selben Jahr, als das Völkerkundemuseum sich als Staatliches Museum für Vor- und Frühgeschichte neu konstituierte. Unverzagt hatte eine „besondere Nähe“

282

 zu Schuchhardt, welcher ihn beruflich gefördert hatte. Schuchhardt betrieb, anders als sein Kollege und Kontrahent Kossinna, keine politisch motivierte „völkische Vorgeschichtsforschung“

283

. Er vertrat – veröffentlicht allerdings erst 1937 – die Meinung, dass die Illyrer aus einer Vermischung von Germanen der Lausitz-Kultur hervorgegangen seien, welche sich auf ihrer Südwanderung mit neolithischen Völkern im Donauraum (den „Urillyrern“) vermischten, um dann ihren Weg gen Süden als Illyrer fortzusetzen.

284



Nach seiner Rückkehr von der zweiten (1928) und dann dritten Balkanreise (1929) begann Reiswitz mit seinem intensiven Studium des Schuchhardt’schen Opus, auf dessen Wichtigkeit für sein eigenes archäologisches Verständnis er im Mai 1933 in einem Brief an Unverzagt einging: „Die ungestörte Zeit hier benutze ich auch dazu, Schuchhardts sämtliche Werke eingehend durchzulesen und durchzuarbeiten. Nie hätte ich gedacht, dass man so viel davon als Historiker brauchen kann.“ Am 19.06.33 vermerkte er in seinem Tagebuch, dass er Schuchhardts 1928 in Erstauflage erschienene „Vorgeschichte von Deutschland“

285

 seit dem 24.04. „zwei Male sorgfältig durchgearbeitet“ habe. Ab dem 12.07.33 las er Schuchhardts „Alteuropa“, welches 1919 zum ersten Mal erschienen war.

286

 In dieser Ausgabe geht Schuchhardt bereits auf die Wanderungsproblematik der Indogermanen ein: „Mit unserer ganzen archäologischen Grundlage gewinnen wir ein etwas anderes und vor allem bestimmteres Bild von der Indogermansierung Europas als es bisher gezeichnet oder vermutet wurde. An eine Heimat der Indogermanen in Zentralasien kann ein und für allemal nicht mehr gedacht werden.“

287

 Reiswitz hatte bereits die zweite Auflage von 1926 zur Hand, welche sich, reich mit Anstreichungen versehen und mit präzisen Datierungen, aus denen hervorgeht, wann Resiwitz welche Kapitel gelesen hat, im Nachlass befindet.

288

 In dieser hatte Schuchhardt neueste Forschungsergebnisse eingearbeitet und diese „zu runderen Bildern“ zusammengeschlossen. In den Kapiteln 6 bis 9 widmete er sich der „nord- und mitteleuropäischen“ Stein- und Bronzezeit, sprach von der „indogermanischen“ Entwicklung und verfolgte diese „in ihrer Ausbreitung gegen Südosten, bis nach Asien hinein.“ In den Kapiteln 10 bis 12 schließlich stellte er dar, wie die „west- und südeuropäische Entwicklung, die vorindogermanische“, die er in den Kapiteln 1 bis 5 behandelt hatte, und die „indogermanische“ sich „auf dem Balkan treffen und das Griechentum erzeugen und wie aus dessen früheren und späteren Phasen ein Rückstrom der Kultur donauaufwärts sich entwickelt – jener Rückstrom, aus dem die Wissenschaft so lange den Glauben gesogen hat, als ob dieser Einfluß auch in den früheren dunkleren Perioden schon vorhanden gewesen wäre und das ‚ex oriente lux‘ überall zu gelten hätte.“

289

 Nach Schuchhardts Interpretation des archäologischen Befundes war der Kultureinfluss von Osten in Richtung Westen also lediglich eine Art Reflux eines früheren Kulturtransfers

ex septentrione

, aus dem indogermanischen Norden.



Am 13.07.33 vermerkte Reiswitz: „Um das illyrische Problem: Jetzt Schuchhardts Alteuropa in 12 Wochen nebenher bewältigen.“ Danach beabsichtigte er, sich Schuchhardts „Burgenbuch“ vornehmen.

290

 Am 01.08. hat er „Alteuropa“ ebenfalls zweimal gelesen und resümierte: „Was ich an Schuchhardt gelernt habe ist gar nicht zu sagen“. Am 02.08. kaufte er das „Burgenbuch“ und verbrachte bis zum 10.08. die meiste ihm zur Verfügung stehende Zeit – er wohnte im Sommer 1933 auf dem 1932 erworbenen Oedhof in Eisenärzt im Chiemgau – mit dessen Lektüre. Dass für Reiswitz eine Verbindung bestand zwischen der Beschäftigung mit den Illyrern und deren vermeintlicher Wanderung in Richtung Balkanhalbinsel und dem Gebiet um Ohrid geht – wenn auch nicht kristallklar – aus seinem Tagebucheintrag rückblickend auf die Zeit vom 14.07. bis 01.08.33 hervor: „Ich stehe seit etwa drei Wochen unter einem inneren Zwang, der dauernd und fortgesetzt an Ohrid denkt, der mich treibt meine Vorarbeiten für Ohrid zu beschleunigen und in mir eine unbestimmbare Gewissheit erzeugt, in Ohrid sei etwas los, man komme mir dort in die Quere. Wissenschaftlich sind diese 19 Tage eine einzige rasche Vorbereitung der Abwehr und der Abwehr durch Offensive auf dem illyrischen Kriegsschauplatz.“



Doch wer wollte ihm 1933 auf dem „illyrischen Kriegsschauplatz“ in Ohrid „in die Quere“ kommen? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns nochmals mit Reiswitz’ usprünglicher Motivation in Bezug auf Ohrid befassen, „die jenseits des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts noch völlig dunkle Geschichte des nordwestlichen Balkans durch gründliche Erforschung des Ohrid-Gebietes mit dem Spaten anzugreifen“.



Am 20.05.1918 stießen bulgarische Soldaten bei Straßenausbesserungsarbeiten auf ein Grab mit verschiedenen Beigaben, zu denen neben Gefäßen auch zwei Helme und eine goldene Maske gehörten. In den nächsten Tagen wurden in der unmittelbaren Umgebung noch vier weitere derartige Gräber ausgegraben, in denen jeweils ein Krieger beigesetzt war. Das Nationalmuseum in Sofia wurde benachrichtigt und sämtliche Funde dorthin verbracht. Im Jahre 1927 erst wurden die Funde von Bogdan Filow (1883–1945), Professor an der Universität Sofia und damaliger Direktor des Bulgarischen Archäologischen Instituts, zusammen mit Karl Schkorpil (1859–1944), Gymnasialprofessor und Direktor des Archäologischen Museums in Varna am Schwarzen Meer, der als erster Fachmann im Auftrag des Nationalmuseums die Funde sichtete und im Juli 1918 noch zwei weitere Gräber ausmachte, auf Vermittlung des Präsidenten des Deutschen Archäologischen Instituts, Gerhart Rodenwaldt (1886–1945), in deutscher Sprache publiziert.

291



Die Fundstelle liegt rund neun Kilometer nordwestlich von Ohrid, und ca. dreieinhalb Kilometer nördlich der am Seeufer verlaufenden, bereits von Strabo bzw. Polybios erwähnten Via Egnatia. Insgesamt handelt es sich um 258 Gegenstände, wobei die in Grab I und Grab V gefundenen goldenen Masken, 46,7 bzw. 15,9 Gramm schwer, sicherlich die bedeutendsten Fundstücke darstellen, da sie in Form und Größe an die von Heinrich Schliemann (1822–1890) im Mykene entdeckten Masken erinnerten, die allerdings fast 1.000 Jahre älter sind als die von Trebenište. Die Errichtung der Nekropolis am Ohridsee wurde von Filow auf das 7.–5. Jahrhundert v. Chr. datiert. Da die Siedlungsgeschichte des Gebietes um Ohrid, abgesehen von den Aussagen antiker Autoren, die es den Illyrern zuschrieben, unbekannt war, kam Filow aufgrund der griechischen Provenienz der Grabbeigaben zu folgendem Schluss: „Am wahrscheinlichsten scheint mir die Annahme, daß die Gräber von Trebenischte vornehmen griechischen Söldnern angehörten, die ihre Kriegskunst in den Dienst eines einheimischen Fürsten gestellt haben.“

292



Reiswitz erwähnt in einem nicht datierten längeren Brief an Unverzagt, der aber aus dem März 1932 stammen muss, dass er das 1927 erschienene Buch von Filow zum Zeitpunkt seiner Balkanreise 1928 noch nicht gelesen hatte.

293

 Fest steht aber, dass er am 25.07.29, kurz vor Antritt seiner dritten Balkanreise, anlässlich eines Empfangs des Deutsch-Bulgarischen Clubs in Berlin Filow persönlich kennenlernte, der „das große Buch über den Ohrid See“ schrieb, wie Reiswitz seiner Frau berichtete. In einer sechsseitigen Aufzeichnung, datiert vom April 1929, erwähnte Reiswitz sein „sorgfältiges Studium der Veröffentlichungen Filows“.



Ansonsten war er von den Bulgaren wenig begeistert: „Sie lachen nicht, sie sind alle unschön, unbeholfen in den Manieren, fanatisch, verschlossen – jedenfalls und sicherlich nicht ein Volk, das man liebet.“

294

 Mit dem „großen Buch“ kann nur der Trebenište-Band gemeint sein, da Filow vor 1927 keine Monographien über den Ohridsee veröffentlicht hatte.



Nach Veröffentlichung des Filow-Bandes begann 1930 einer der bekanntesten serbischen Archäologen, Nikola Vulić (1872–1945)

295

 mit seinen Grabungen am Ohridsee. Im Jahre 1930 entdeckte er ein weiteres Grab, 1932 und 1933 jeweils noch vier. Reiswitz teilte am 15.08.33 Unverzagt mit, dass Vulić „ein weiteres Grab“ in Trebenište entdeckt habe. Wegen eines neuen Fundes in der Steiermark ergebe sich nun, dass die „Bronzemasken und -handschuhe“ aus Trebenište Illyrergräber bezeugen.



In der Tat fanden sich wieder goldene Masken, zwei an der Zahl. Vulić datierte die Gräber auf das Ende des 6. Jahrhundert vor Christus. Anders als Filow stand für ihn aber außer Frage, dass es sich bei den Toten um einheimische Illyrer, nicht um griechische Söldner handelte: „Denn das Söldner oder auch Söldnerführer auf einem Kriegszug mit solchem Reichtum bestattet worden wären, ist nicht anzunehmen“.

296

. Diese These war Reiswitz vor seiner zweiten Balkareise 1928 natürlich noch nicht bekannt, aber in den Folgejahren sollte die Erkenntnis, dass es sich bei den insgesamt sechzehn Gräbern bei Trebenište um ansässige Illyrerfürsten handelte, elektrisierend wirken. Der Nachweis schien führbar zu sein, dass die Nord-Südwanderung, die Kossinna bereits 1902 postulierte und die später von dem von Reiswitz hochgeschätzten Schuchhardt in modifizierter Form aufgenommen wurde, archäologisch belegbar war.



Wenn die Gräber von Trebenište mit ihren kostbaren Beigaben also die einheimischer Illyrer waren, so stellte sich die Frage nach ihrem Wohnort. Es war zu vermuten, dass irgendwo in der Nähe der Nekropole, wahrscheinlich in Höhenlage, eine Burganlage bestanden haben musste. Es war die Suche nach einer solchen, die Reiswitz dann nach seiner zweiten Balkanreise 1929 den Kontakt zum Deutschen Archäologischen Institut und den zuständigen serbischen Instanzen aufnehmen ließ, um selbst

in situ

, „auf dem illyrischen Kriegsschauplatz“ mit dem Spaten auf die Suche zu gehen. In „die Quere kommen“ konnte ihm dabei lediglich Nikola Vulić, der dieselbe Intention hatte: „On se demande où se trouvait l`habitat de ces Illyriens, – disons de ses princes, car ils furent fort riches, pour avoir été enterrés avec tant d’objets précieux.“

297

 Doch keiner der beiden konnte den Wettstreit um die Auffindung der Illyrerburg zunächst für sich entscheiden.

298



Die Suche nach Belegen für die illyrische Wanderung hingegen schien sich einem erfolgreichen Ende zuzuneigen. Der österreichische Archäologe Fritz Schachermeyr (1895–1987), der 1943 und 1944 Reiswitz in Belgrad besuchen würde, schrieb 1939: „In der Wanderungszeit zwischen 1200 und 1000 werden dann weitere nichtgriechische Indogermanen nach Hellas gekommen sein, vor allem Illyrer …“

299

 



Und kaum vier