Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962)

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Am 24.08.27 ließ Reiswitz Wendel wissen, dass er die Roh-Übersetzung des zweiten Teiles der Péninsule nun beendet habe.189 Leider hatte der von ihm angesprochene Oldenbourg-Verlag wohl doch noch keinen Kontakt zu dem französischen Verleger aufgenommen. Reiswitz wollte nun einen anderen möglichen deutschen Verleger für Cvijićs Buch suchen, wusste aber nicht recht, an wen er sich wenden sollte. Am 17.10.27 entschuldigte sich Wendel dafür, dass erst an diesem Tag sein Brief an den jugoslawischen Gesandten in Berlin, Živojin Balugdžić (1868–1941), in die Post gegangen sei, in welchem er seine Unterstützung für das Reiswitz’sche Übersetzungsvorhaben zum Ausruck bringe. Kurz darauf, am 28.10.27, schrieb Resiwitz an Wendel, dass dessen „liebenswürdiges Schreiben an den Gesandten“, die „Carrière“ der Péninsule in deutscher Sprache gesichert habe und erwähnt einen Betrag von 100.000 Dinar. In Reiswitz’ undatiertem Briefentwurf an Balugdžić wurde ein Betrag von 6.000 Mark genannt, was in etwa den 100.000 Dinar entsprach. Hier gab Reiswitz auch einen Hinweis auf die Zielleserschaft in Deutschland: Studenten und „gebildete Laien“. Diese könnten das Buch aber nur zu einem moderaten Kaufpreis erwerben, den man nur durch den Druckkostenzuschuss, „bei Hintansetzung sämtlicher persönlicher Ansprüche meinerseits“, von 24 auf 15 Mark drücken könne. Schließlich meldete Reiswitz am 08.12.27, dass Balugdžić sein Gesuch um finanzielle Unterstützung befürwortend in das jugoslawische Außenministerium nach Belgrad weitergeleitet habe. Doch am 09.01.28 war Reiswitz enttäuscht: „Denken Sie, es ist noch immer keine Antwort aus Belgrad da, ob die Serben mir das Geld zur Péninsule-Herausgabe vorschießen!“ Zwei Monate später, am 06.03.28, war für Reiswitz das „Schicksal „seiner“ Péninsule noch immer ungewiß. Er habe zwar den Gesandten „schon oft“ getroffen, dieser habe auch neben dem offiziellen Gesuch noch zwei Privatbriefe an das Außenministerium in Belgrad geschickt, doch trage die „Dauer-Krise“ in Südslawien wohl zur Verzögerung bei.

Zu der erhofften finanziellen Hilfe ist es wohl nie gekommen, da Reiswitz’ Péninsule-Übertragung nie erschien – es haben sich lediglich im Nachlass Übersetzungsfragmente erhalten.190 In der weiteren im Nachlass erhaltenden Korrespondenz mit Wendel tauchte das Thema auch nicht wieder auf. Während des Zweiten Weltkriegs fragte Reiswitz seine Frau, ob sie daran gedacht habe „den Durchschlag von der Cvijić-Uebersetzung“ aus dem bombengefährdeten Berlin in Sicherheit zu bringen.191 Eine Übersetzung ins Deutsche hätte sicherlich ihren Markt gefunden, da Cvijićs Anthropogeographie der Balkanhalbinsel „für die deutsche Balkanforschung eine außerordentliche Wirkungsgeschichte nachzusagen ist“.192

Es steht außer Frage, dass es in den zwei Jahren nach Abschluss seiner Balkanreise – und womöglich auch schon vorher – die Werke von Cvijić und Wendel waren, die den größten Einfluss auf Reiswitz’ Vorstellung des Balkans und der Südslawen hatten. Beiden war sicherlich ihr vehementes Eintreten für die südslawische Einigungsbewegung gemein193 – Cvijićs Ansehen und Wirken war es 1919 zuzuschreiben, dass Jugoslawien in den Grenzen entstand, wie sie bis 1941 bestehen sollten194 und Wendel unterstützte später sogar, trotz seiner sozialdemokratischen Ausrichtung, die autoritären Bestrebungen König Alexanders, eine jugoslawische Identität weiterzuentwickeln.195 Für beide war Serbien das Piemont der südslawischen Einigung. Sehr unterschiedlich aber beurteilten beide den serbischen Nationalcharakter. Für Wendel stand das Demokratische im Vordergrund, für Cvijić und seinen Gefolgsmann Gesemann das Patriarchalisch-Heroische. Reiswitz sollte zukünftig aus beiden Quellen schöpfen.

1.3. Ein ganz persönlicher „Balkanismus“

Doch Reiswitz’ Jugoslawienbegeisterung wurde nicht nur von Wendel, Cvijić und Gesemann entfacht. In seinem ersten Brief an Wendel vom 04.02.27 gestand er offen: „Für mich ist Südslawien etwa das, was für das Deutschland zu Beginn des 19. Jahrh. einmal Italien war, kurz: ich liebe es!“ Diese romantische Zuneigung zieht sich wie ein roter Faden durch seine Korrespondenz. Sieben Jahre später, in einem Schreiben an einen namentlich nicht genannten Legationsrat im Auswärtigen Amt, welcher „kurze Daten“ über Reiswitz angefordert hatte, schrieb dieser, dass er 1924 Südslawien bereiste, „dessen Eindruck auf mich besonders stark war. Ein Vetter von mir, Graf Bethousy [sic], war damals deutscher Konsul in Sarajevo. Durch ihn und die ‚Planinari‘ lernte ich Bosnien und die Hercegovina kennen. Ein längerer Aufenthalt in Dubrovnik schloss sich daran. Damals entstand in mir der Wunsch, mich der Geschichte des Donauraumes und der Balkan-Halbinsel zuzuwenden. Es ist etwas undefinierbares, eine ‚Passion‘ zu haben. Was vor hundert Jahren für Deutsche oft Italien geworden ist, wurde für mich der Balkan und besonders Südslawien. Ich weiß nicht, ob eine nicht-deutsche Mentalität das versteht, dass man an einer fremden Landschaft, deren Bewohnern und deren Geschichte, den eigenen Beruf erst entdecken kann.“

Es ist hervorzuheben, dass Reiswitz seine Balkanbegeisterung durchaus als etwas typisch Deutsches sah. Zehn Jahre nach dieser Äußerung dem Auswärtigen Amt gegenüber wurde seine Gemütshaltung erneut in amtlichem Kontext bemerkt, ohne aber, wie von Reiswitz selbst so gesehen, ausschließlich positiv konnotiert gewesen zu sein. Am 06.05.44, in der letzten Phase der Tätigkeit Reiswitz’ als Kunstschützer in Serbien, verfasste der Reichsgeschäftsführer des SS-Ahnenerbes einen Aktenvermerk über ein Gespräch mit Herbert Scurla, Oberregierungsrat im Reichserziehungsministerium, welches beide am 26.04.44 geführt hatten, und bei welchem es auch um Reiswitz ging. Laut Sievers „bezeichnete Scurla Reiswitz als Romantiker, der 100 Jahre zu spät geboren sei, aber vielleicht könne er sich gerade deshalb so gut im Serbischen Raum bewegen.“196 Damit befände sich Reiswitz durchaus in eine deutsche Tradition eingebettet: „Romanticism bequeathed a fascination with folklore and language, very much at the center of German academic tradition dealing with the Balkans.“197

Reiswitz’ Romantik in Bezug auf Jugoslawien beruhte allerdings nicht allein auf seinen Gefühlen für Land und Leute im Allgemeinen, obwohl im Jahre 1924 die touristischen Reize insbesondere Dalmatiens genügten, um viele ausländische Besucher zu beeindrucken. So heißt es in einer in der Londoner „Times“ veröffentlichten Reisebeschreibung: „The charms of the Dalmatian Riviera are rapidly becoming known to tourists. Rich vegetation, oranges, fascinating old Roman monuments, excellent roads, and, above all, a rate of exchange which opens the up-to-date hotels for a few guineas weekly, combine to draw English, American, Czech and Scandinavian seeking a place in the sun.“198

Dieser „Platz an der Sonne“ barg für Reiswitz allerdings noch einen „Charme“ anderer Art. Nach seiner Ankunft in Dubrovnik am 05.10.1924 lernte er Vida Davidović kennen. Zwischen den beiden entwickelte sich eine Liebesaffäre, die mindestens bis in den April 1926 reichte, aber noch 1941 Nachwehen hatte.

Frl. Fresenius war sich ihrer Rivalin wohl nicht bewusst. Hatte Reiswitz ihr am 16.09. noch geschrieben, dass er „sehr viel“ an sie und die „schon etwas türkischen Nächte in Charlottenburg“ denke, „mit ihrer schon bis fast an die Spitze getriebenen feinen u. feinsten Sexualität und Erotik“ und den Wunsch geäußert, „daß du hier wärst, … mit all deinen Möglichkeiten u. Fertigkeiten, als Frau, Künstlerin und Maitresse in des Wortes bester Bedeutung.“, so ließ er seine bisherige „Maitresse“ über seinen neuen Schwarm vollkommen im Dunkeln. Am 22.10., das heißt zwölf Tage nach der Abreise Vidas aus Dubrovnik, schrieb Reiswitz an Frl. Fresenius: „Die zweite Woche hier in Ragusa war ein großes Erwachen. Jeden Tag machte ich große Spaziergänge; jeden Abend schrieb ich bis spät in die Nacht hinein.“ Was in der ersten Woche geschah verschwieg er. Er fügte dann aber enigmatisch hinzu: „Ich habe gewusst, daß diese Reise eine große Umwälzung, die sich seit Monaten, ja Jahren zuspitzt, zum Ausdruck bringen würde.“ Offen bleibt, was er genau mit dieser „Umwälzung“ meinte. Frl. Fresenius gegenüber bezog er den Wandel lediglich auf das Berufliche: „Im Brennpunkt dieser Umwälzung steht die Diplomatie.“

Doch die „Umwälzung“ berührte sicherlich auch in noch größerem Umfang sein persönliches Leben. Im Nachlass befinden sich 25 handgeschriebene Briefe von Vida an Reiswitz, den Zeitraum vom 15.10.24 bis zum 14.04.26 umfassend. Einigen der Briefe sind Fotos beigelegt, die wahrscheinlich Vida am Strand zusammen mit wechselnden anderen Feriengästen zeigen. Zugleich haben sich neben Tagebuchaufzeichnungen, auf drei Umschläge verteilt, mehrere in deutscher Schrift handgeschriebene Textfragmente von Reiswitz erhalten, welche wahrscheinlich als Briefvorlagen dienten, da sich Vida in einigen ihrer Briefe auf Passagen aus den Fragmenten bezog. Den Briefen ist zu entnehmen, dass ihre Familie ursprünglich aus der Herzegowina stammte, sie aber seit vier Monaten in Veliki Bečkerek, heute Zrenjanin, wohnte und auf einem Amt arbeitete. Das Ehepaar, welches das Hotel Odak betrieb, in dem auch zunächst Reiswitz in Dubrovnik wohnte, war ihr seit vier Jahren bekannt. Ihr Alter ist nicht klar ersichtlich, sie erwähnte aber, dass sie Waise sei und ältere Schwestern habe, die ihr nur wenige Freiheiten erlauben würden. Von den Fotos her zu urteilen war sie wahrscheinlich Anfang zwanzig Jahre alt.

Sehr aussagekräftig in Bezug auf das Liebesverhältnis von Vida und Reiswitz sind die losen Blätter, die sich im Nachlass in Umschlag 2 befinden. Es handelt sich zunächst um eine kurze Notiz, an Vida gerichtet: „Ich lege Dir diese Zeilen zu Füßen. Sie sagen das Letzte und Feinste, was ich Dir sagen konnte; mehr als viele Briefe. Wie wirst Du antworten? Wie Gott will! Ich weiß nicht [sic] !“ Neben der Notiz befinden sich fünf, mit Bleistift doppelseitig beschriebene Blätter im Umschlag, zwei davon nach seinen Angaben eine Abschrift aus Reiswitz’ Tagebuch vom 10.10.24, die drei übrigen ein Briefentwurf, vom 10.10. bzw. 11.10. datierend.

 

Aus diesen Seiten geht hervor, dass Reiswitz Vida unmittelbar nach seiner Ankunft in Dubrovnik am 05.10.24 getroffen haben muss, da er einer Stelle von den „drei Abenden“ sprach, die sie gemeinsam an einer bestimmten Stelle der „Chaussée“ standen. Vidas Abreise aus Dubrovnik erfolgte früh am Morgen. Reiswitz hatte seine Hotelzimmertüre am Abend zuvor nur angelehnt, doch bis vier Uhr morgens war sie nicht in sein Zimmer gekommen. Um 4 Uhr in der Frühe verschloss er dann die Türe. Er stellt sich dann Vidas Zugfahrt vor, Richtung Jablanica: „Es ist jetzt genau 9h. Weißt Du noch, dass wir uns auf diese Zeit in Gedanken verabredet haben?“ Er erinnerte sich dann daran, wie nach und nach Vidas „Eis-Panzer“ schmolz, „bis dass die Eisschicht Risse bekam u. endlich am letzten Tage zersprang.“ Der „letzte Tag“ war offensichtlich Donnerstag, 09.10.24. Beide, Reiswitz wie Vida, wiesen in den nächsten Monaten immer wieder auf „Donnerstag“ als den Dreh- und Angeltag ihrer Liaison hin. Reiswitz fuhr fort: „Das war der Augenblick, als Du mich hinter der Kirche von Giacomo [Crkva Svetog Jakova] mit dem befreiten ‚Ja‘ umschlangst. – Und so wurde dieser Tag, u. dieser Nachmittag, u. dieser Abend auf Lacrome möglich.“

Die gemeinsam verbrachte Zeit auf Lokrum hatte nicht nur für Reiswitz eine zentrale Bedeutung. In ihrem ersten Brief an Reiswitz, fünf Tage nach ihrer Abfahrt aus Dubrovnik, schrieb sie: „Grüße mir Lakroma – den schönen Sonnenuntergang – nein, ich will nicht davon sprechen, ich möchte häulen [sic], wenn ich an die Möglichkeit denke, daß alles vielleicht nur ein Traum war, der nimmer wiederkommt.“

Die Liebesbeziehung zu dem deutschen Adeligen muss in der Tat Vida wie ein Traum erschienen sein, umso mehr, wenn man bedenkt, wie wenig Zeit zum gegenseitigen Kennenlernen die beiden hatten. In einer Notiz in Umschlag 3 sprach Reiswitz von vier Tagen, die sie zusammen hatten. Sie wohnten wohl die ganze Zeit über in getrennten Zimmern im Hotel Odak, obwohl Reiswitz in einer Notiz aus Umschlag 3 vermerkte: „Ich ließ mir den Wirt kommen, gab ihm meine Karte u. frug, ob ich jeder Zeit bei vorheriger Anmeldung zwei Einzelzimmer mit gemeinsamen Balkon auf das Meer hinaus haben könnte. Er bejahte sofort!!!“199 Bezeichnend ist auch, dass Reiswitz im Briefentwurf vom 11.10. Vida darauf hinwies: „Sprich ‚Du‘ zu mir, wenigstens im Brief.“ Nicht nur die Frage der Anrede, sondern auch der Klassenunterschied an sich, war ein Hindernis: „Du stösst Dich noch sehr an dem ‚Baron‘. … Glaube mir, Liebes, Du brauchst Dich, weiss Gott, nicht daran zu stossen; Du hast soviel Rasse, wie 10 westeuropäische Aristokratinnen zusammen.“

Vida sagte über sich selbst in einem Brief an Reiswitz vom 18.01.25, dass sie „mit Herz und Seele Kommunist“ sei. Dennoch, von Reiswitz dazu aufgefordert, zog es Vida vor, sich nicht zu politischen Fragen zu äußern. In ihrem Brief vom 18.01.1925 gab sie allerdings an, nicht, wie von Reiswitz vermutet, mit dem Politiker Ljubomir Davidović (1863–1940) verwandt zu sein, welcher als führender Vertreter der liberalen und pro-jugoslawisch ausgerichteten Demokratischen Partei zu einer Zusammenarbeit mit der kroatischen Bauernpartei unter Stjepan Radić (1871–1928) bereit war. Aus ihren Ausführungen wird deutlich, dass sie sowohl Davidović als auch Radić ablehnend gegenüberstand. So überrascht es nicht, dass sie sich im Brief vom 24.02.25 als „tolle Serbin“ bezeichnete. Nur an einer Stelle ging Vida von sich aus auf politisches Geschehen ein – allerdings in Deutschland. Am 04.03.25 legte sie ihrem Brief separat eine kleine Notiz bei: „Sage mal Lieber, ist der Tod [Friedrich] Eberts für Deutschland tatsächlich ein so großer Verlust, wie das unsere Zeitungen betonen?“

Reiswitz Antwort darauf ist nicht überliefert, doch war er zur Zeit der Novemberrevolution in Berlin durchaus kein Gegner Eberts gewesen. Aber in seinem Briefentwurf an Vida vom 02.08.25200 präsentierte er sich kurioserweise als Anhänger von Nikola Pašić (1845–1926), des wohl international bekanntesten serbischen Politikers jener Zeit. Pašić war mehrere Male sowohl vor dem Ersten Weltkrieg serbischer als auch danach jugoslawischer Regierungschef gewesen und führte die nationalistische „Radikale Partei“. Zunächst schrieb Reiswitz, dass er „in letzter Zeit sehr viel mit den Serben zusammen war, die hier [in Berlin] studieren. Alex. Horovic, mein serbischer Lehrer u. Freund, ein Student der Chemie aus Belgrad, (Buchdruckerei) der jetzt hier in Berlin seinen chemischen Doktor macht, ist der Vertreter für alle hiesigen serbischen Studierenden vor den deutschen Behörden. So lerne ich durch ihn viele junge Serben kennen. Er ist Pašić-Anhänger, aber gerade darum wohl vertragen wir beide uns so gut, da ich ja auch Radikal bin!“

In diesem Auszug manifestiert sich nicht nur weiter Reiswitz’ nunmehr aufgenommenes Studium des Serbischen, sondern auch der Beginn einer gewissen Netzwerkbildung.201 Die Freundschaft zu und der Austausch mit Horovic, der bereits schon das Bindeglied zwischen Cvijić und Reiswitz dargestellt hatte, sollte sich bis in die späten dreißiger Jahre hinein fortsetzen. Dass er sich selbst als „Radikal“ bezeichnete, ist Indiz dafür, dass seine Jugoslawienzuneigung einen stark pro-serbischen Zug hatte.

Während Vida also wenig Interesse an Politik an den Tag legte, war sie andererseits durchaus daran interessiert, ihr Deutsch zu verbessern und dankbar für Literaturempfehlungen. So hat ihr Reiswitz offensichtlich George Bernard Shaws (1856–1950) „Heilige Johanna“ empfohlen, wie ihrem Brief vom 04.03.25 zu entnehmen ist. Sie bedauerte, dass „die jugoslawischen Bibliotheken“ leider „die besten deutschen Sachen“ nicht in ihrem Bestand führten.

Aus Vidas Briefen geht nicht hervor, wie sie selbst sich die deutsche Sprache aneignete. Sie schrieb durchweg verständlich, ihre Handschrift ist sehr leserlich, an heutigen Kriterien (Europäischer Referenzrahmen) gemessen bewegt sich sich in ihren Briefen sicherlich auf hohem B2-Niveau.

Reiswitz’ aufkeimendes Interesse an Serbien und Jugoslawien ist nicht nur daran erkennbar, dass er seine neue Freundin zu politischen Stellungnahmen bewegen wollte, welche ihr unangenehm waren. Vida erwähnte sowohl am 23.10.24, also bereits nur wenige Tage nachdem sie ihn in Dubrovnik kennengelernt hatte, und am 04.03.25 seinen ihr gegenüber geäußerten Wunsch, baldmöglichst einen Brief auf Serbisch an sie zu richten. Am 02.05.25 bezog sie sich sogar auf einen „kleinen Vers“ in serbischer Sprache, den er ihr geschickt habe.

Sie selbst war eine stolze Serbin, allerdings hatte sie keine hohe Meinung von den Bewohnern der Hauptstadt Belgrad. In ihrem Brief vom 30.01.25 legte sie dar, dass ihre Landsleute alle früher „Schweinehändler“ gewesen und jetzt die Belgrader Serben „eingebildete Hochstapler“ seien. Sie fügte hinzu, dass in Belgrad mit wenigen Ausnahmen fast jeder an „Größenwahn“ leide. Reiswitz teilte ihre Kritik an der vermeintlichen Mentalitätsverschiebung vieler ihrer Landsleute offenbar nicht, da sie am 18.01.25 schrieb: „Du bist ja gegen Jugoslawien ganz gut aufgelegt, es gefällt Dir hier recht gut.“

Aus Vidas Brief vom 18.01.25 geht auch hervor, dass Reiswitz in einem Brief an sie vom 01.01.25 erwähnte, dass er einen Posten in Belgrad anstrebte.202 Dies deutet darauf hin, dass sein im Brief an Fräulein Fresenius vom 06.09.24 geäußerter Wunsch nach einer diplomatischen Tätigkeit keine Eintagsfliege war. Er schien nun ganz konkret Belgrad ins Auge gefasst zu haben für eine diplomatische Aufgabe. Vida war davon nicht begeistert: „Ich glaube aber, du wärest mit dem Leben in Belgrad gar nicht zufrieden, man lebt hier doch ganz anders als bei euch – überhaupt in Belgrad! Sogar ich – als Serbin, fühle mich in Belgrad ganz schlecht. Ich finde das leben [sic] dort irgendwie unnatürlich – ungesund – fieberig -–unsympathisch.“ Offenbar hatte Reiswitz sogar konkrete Pläne, im Juni 1925 Belgrad einen Besuch abzustatten, worauf Vida am 18.01.25 kurz einging.

Auch am 26.03.25 thematisierte sie die mögliche Beschäftigung Reiswitz’ in Belgrad und sein Bemühen, nun Serbisch zu lernen. Nachdem sie auf seine Begründung für seine nur unregelmäßig bei ihr eintreffenden Briefe einging, eine Nachlässigkeit die er mit hohem Arbeitsaufwand entschuldigte, bezog sie sich erneut auf seine Bemühungen, eine Stellung in Belgrad zu bekommen und äußerte Verständnis, da „die viele Arbeit, die Du hast, von so großer Wichtigkeit ist, da Du vor einer Entscheidung stehst, von der vielleicht deine Existenz abhingt [sic].“

Den Briefen von Vida ist aber schon bald ihre wachsende Unzufriedenheit darüber zu entnehmen, dass Reiswitz ihr nicht so häufig schrieb wie sie ihm. Auf der anderen Seite nahm auch die Frequenz ihrer Briefe an ihn zur Jahresmitte 1925 hin ab. Sein angedeuteter Besuch in Belgrad im Juni 1925 kam nicht zustande, allerdings ergab sich im Laufe dieses Jahres dennoch ein Wiedersehen. Am 30.07.25 tauchte bei Vida die Möglichkeit eines gemeinsamen Treffens in Paris auf. Tatsächlich verbrachten die beiden einige Tage im Frühherbst jenes Jahres in der französischen Hauptstadt, eingebucht im Hotel de Familles, 14 rue Gay Lussac. In einer undatierten Aufzeichnung erwähnte Reiswitz „vier Tage: ein Donnerstag, Freitag, Sonnabend u. ein Sonntag. … Und sie schließen ab mit einem Sonntag-Nachmittag im Jardin de Luxembourg mit dir“.203 Reiswitz musste früher abreisen – die Ursache ist nicht klar ersichtlich. Es scheint jedoch so, als ob der Parisaufenthalt die Beziehung der beiden nicht festigen konnte. In derselben Aufzeichnung vermerkte Reiswitz kryptisch: „Das große Ganze unserer Pariser Tage rundet sich klarer u. klarer als Erlebnis ab. – Das erste Gefühl war Schmerz u. Schrei u. Liebe u. dies alles war namenlos.“

Vida meldete sich in folgenden sechs Monaten nur noch ein halbes Dutzend Mal bei Reiswitz. In ihrem letzten überlieferten Brief vom 14.04.26 ist zweifelsfrei erkennbar, wer das Interesse verloren hatte: „Muss ich mich wirklich mit dieser Tatsache versöhnen, dass Du mich vollständig vergessen hast?“ Doch gänzlich in Vergessenheit geriet Vida nicht. In einem von Reiswitz in Maschinenschrift verfassten und mit Bleistift auf den 18.08.1929 datierten Schriftstück mit der Überschrift „Testament“ heißt es, dass „das Tagebuch von den ersten Oktobertagen 1924 aus Ragusa und meine in einer Kiste zusammengepackten Briefe an Vida Davidović, Veliko [sic] Bečkerek, Cara Dušana 17, mit der kurzen Mitteilung von meinem Tode“ zu schicken seien. Die etwas missverständliche Formulierung „meine Briefe“ ist so zu verstehen, dass es sich um ihre Briefe an ihn handelte, da diese zusammen mit den Tagebuchfragmenten im Nachlass aufgefunden wurden. Im Testament ist zwar von Vidas Briefen und seinem Tagebuch die Rede, aber nicht von Vidas Abschiedsgeschenk an ihn, welches sie ihm zum Abschied in Dubrovnik überreichte: eine bernsteinerne Zigarettenspitze. Er wiederum schickte ihr kurz darauf sein Zigarettenetui nach Bečkerek, dessen Verbleib ebenso unbekannt ist wie das weitere Leben von Vida Davidović. Sie war nicht die Eigentümerin des Hauses in der Cara-Dušana-Straße, sodass sie nicht im Kataster verzeichnet ist. Reiswitz hat es – so zumindest den vorliegenden Quellen gemäß – auch nicht versucht, während seiner späteren Reisen nach Jugoslawien, also 1928, 1929, 1931, 1932 oder 1937 Kontakt zu ihr aufzunehmen. Es hat allerdings den Anschein, dass Reiswitz Vida während des Zweiten Weltkriegs mehrfach in Bečkerek und Wien traf, an in mehreren Notizen in diesem Zusammenhang von einer „Vida“ die Rede ist.

Nachdem Vida am 10.10.24 Dubrovnik verlassen hatte, blieb Reiswitz noch bis November in der Stadt, bevor er seine Rückreise nach Deutschland über Italien und die Schweiz antrat.

Am 13.10. lernte er den im selben Jahr neu berufenen deutschen Gesandten in Belgrad, Franz Olshausen, kennen, der mit Frau, Sohn und Tochter in Dubrovnik weilte, und den er auch an den beiden Folgetagen wieder aufsuchte. Vermutlich haben die Unterredungen mit Olshausen Reiswitz’ Wunsch weiter bestärkt, eine diplomatische Karriere zu beginnen. Am 19.10. machte er eine Aufstellung im Tagebuch beginnend mit dem Jahr 1922, welches er mit dem Eintrag „Dr. phil.“ markierte. Bei 1925 steht „Habilitations-Schrift. Attachée [sic]“, bei 1929 „Dr. jur. et rer. Pol. Vizekonsul“ und bei 1932 „Konsul“. An jenem Tag hatte er wieder eine Zusammenkunft mit Olshausen. Reiswitz stand noch ganz unter dem Eindruck seiner Begegnung mit Vida. Olshausen, sei ein „sehr angenehmer Mensch“, habe aber „wenig Sinn“ für die „Romantik“, die in den „kleinen Gäßchen und Gassen“ lag. Am 22.10. schließlich verabschiedete sich Reiswitz von Olshausen, der ihm mitteilte: „Lassen Sie es mich wissen, falls Sie Schwierigkeiten betreffs Ihrer Annahme haben sollten.“ 204 Der spezifische Charakter dieses Hilfsangebots lässt sich aus dem Kontext nicht eindeutig ablesen.

 

Aus einem Brief an Frl. Fresenius vom 01.11.24 geht hervor, dass er noch eine Autotour nach Boche di Cattaro [Kotor]205, Lovcen und Cetinje in Begleitung des „Schokoladen Hildebrandt206 mit Frau“ zusammen mit einem weiteren Ehepaar unternahm. Die Bucht von Kotor erschien Reiswitz wie „norwegische Fjorde in der Adria“. Auf dem Weg nach Cetinje standen „alle 1000 Meter Doppelposten der Montenegriner; so eine Banditen-Gefahr ist dort!“. Am 06.11. reiste er per Schiff an Lissa und Korčula vorbei über Split nach Triest, war dann vom 07.–10.11. in Venedig, um von dort über Padua und Bologna nach Florenz weiterzufahren. Vor seiner Ankunft in Berlin am Anfang Dezember 1924 hielt er sich in der angemieteten Familienvilla am Luganer See in der Schweiz auf.

Dass sein erster Aufenthalt in Jugoslawien eine Bruchstelle in seinem persönlichen und beruflich-wissenschaftlichen Leben markierte, deutete sich bereits in einer Tagebucheintragung vom 01.12.24 an: „Irgendwo war das zweite Leben abgerissen u. hatte ein drittes begonnen.“ Dies wird er auch Vida mitgeteilt haben, was aus einem kurzen Hinweis in ihrem Brief vom 03.12.24 hervorgeht: „Du sagst … ‚Diese große Reise steht an der Wende zu meinem dritten Leben.‘“

Die Wichtigkeit des Jahres 1924 für die Ausrichtung seines Lebens Richtung Südosten wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass er zwei Tage nach seiner Ankunft als Kunstschützer in Belgrad, am 05.07.41, an seine langjährige Freundin Elisabeth Maria Domenica Heckelmann (1905–1959)207 von der „endlich gegebenen Möglichkeit“ schrieb, „das durchzusetzen und zu tun, was ich seit … 17 [1924] Jahren will.“ Bereits am 08.12.24 sprach er im Auswärtigen Amt vor, ebenso am 11. und 15.12., als man ihm dort mitteilte, er solle im Februar „drei Lebensläufe“ einreichen.208

Es ist sicherlich nachvollziehbar, dass sich Reiswitz nach dem Abschluss seiner Promotion und seiner wissenschaftlichen Hinwendung weg von der Philosophie und hin zur Geschichte und Kultur in ein dauerhaftes Beschäftigungsverhältnis begeben wollte, welches ihm ein unabhängiges Einkommen sichern würde. Die Kontakte zu Richthofen, Erdmannsdorff und Olshausen vor und während der Jugoslawienreise konnten ihn sicherlich darin bestärken, dass das Auswärtige Amt der geeignete Arbeitgeber war. Die für eine diplomatische Karriere notwendigen Kenntisse des Englischen und Französischen begann er sich unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Berlin im Dezember 1924 anzueignen. Auch seine bereits in Sarajevo begonnenen Serbokroatisch-Studien setzte er fort, doch hatte seine Bewerbung beim Auswärtigen Amt nicht den erhoffen Erfolg. So arbeitete er von Januar bis Juni 1925 als „wissenschaftlicher Hilfsarbeiter“ bei der Berliner Industrie- und Handelskammer, „Monate, denen ich ganz besonders wichtige Eindrücke und Anregungen verdanke.“209 Seinem Zeugnis zufolge nahm er an diversen Sitzungen teil und wurde zu den Arbeiten der „volkswirtschaftlichen und juristischen Syndici“ herangezogen. Er ließ „Fleiß und Eifer“ erkennen. Insbesondere widmete er sich Fragen des Außenhandels und der Zollpolitik.210

Seinen Tagebuchaufzeichnungen und Briefen an Frl. Fresenius zufolge war Reiswitz zudem wohl auch von einer Spielart des Balkanismus gepackt. Anders als der Orientalismus „imaginierte der ‚Balkanismus‘ das Objekt seiner Fantasie nicht als absoluten Gegensatz zum europäischen Selbst, sondern aufgrund seiner überwiegend christlichen Prägung eher als eine Übergangszone von West nach Ost.“211 Diese „Übergangszone“ erschloss sich für Reiswitz sehr deutlich in Sarajevo, wo er Orient und Okzident beim täglichen Miteinander erlebte. Wenn er mittwochs über den türkischen Markt schlenderte, oder die mit einem Serben verheiratete kroatische Bildhauerin Iva Despić in ihrem Atelier vor den Toren der Stadt besuchte, oder den in Tracht gewandeten Dorfschulzen aus Taorina bestaunte. Der Karst wirkte auf ihn durchaus wie eine „heroische Landschaft“212 in seiner Unwirtlichkeit. Ähnlich wie der von ihm rezipierte Lermontov in seinem Gedicht „Dämon“ bezogen auf Georgien empfand auch Reiswitz bei seinen Wanderungen und Fahrradtouren die Natur Bosniens als hochromantisch: „Ein Ländchen paradiesisch schön / Ruinen auf den wald’gen Höh’n.“213 Er könnte sich selbst als der rastlose Dämon zu Beginn des Versepos gesehen haben: „Im wüsten Raum irrt lange Zeit / Er ohne Ziel und Zufluchtstätte“.214 Seine eigene Zuflucht war für Reiswitz die immer wieder als „rassig“ beschriebene Vida Davidović. In seiner Tagebucheintragung vom 07.10., am zweiten Tag ihrer Bekanntschaft, warf er, bezogen auf die große Anziehungskraft, die Vida auf ihn ausübte, die Frage auf: „Sollte dies der Ausdruck der Synthesis zweier Kulturexponenten sein. Dass rassigste letzte abendländische Kultur und rassigste letzte slawische Kultur, so starke Affinität zu einander zeigen, dass sie ineinander übergehen mit solcher Gewißheit?“215 Man könnte sich die Frage stellen, ob Reiswitz hier die Verschmelzung des Germanisch-Abendländischen mit dem Slawisch-Balkanischen anregte, um im Spenglerschen Sinne den Untergang des Abendlandes zu verhindern. Jedenfalls beflügelten ihn die Ereignisse der Jugoslawienreise und nachdem er in der Silvesternacht 1924/25 von einer Feier in Berlin zurückgekehrt war, schloss er sein Tagebuch für dieses Jahr mit den Worten: „Es war ein guter Abschluss eines guten Jahres.“216

Im Sommer 1925 reiste er nach Großbritannien, um seine Englischkenntnisse weiter zu verbessern. Im August und September wohnte er privat untergebracht in Oxford. Dort lernte er die gleichaltrige Lehrerin und Amateur-Schauspielerin217 Dorothy Jeannie Doe (1899–1967), vom ihm Jeanne genannt, kennen. Es entwickelte sich auch hier eine Liebesaffäre, die sich parallel entspann zu seinem Briefwechsel mit Vida Davidović. Belegt ist diese durch den im Nachlass überlieferten, in englischer Sprache verfassten Briefverkehr zwischen Jeanne und Reiswitz, welcher bis in den Dezember 1925 reicht. Am 11.11.25 schrieb Jeanne kokett: „Today is Armistice Day! Do I observe it? I smiled today in school when our sweet [ironisch gemeint] headmistress proceeded to explain to the children the significance of the day and enlarged upon the Germans as our enemy! I pictured her consternation has she realised my feelings for those people.“218 Während die Beziehung zu Vida offensichtlich auf Seitens Reiswitz’ erkaltete, bis dass er schließlich im ersten Quartal 1926 gar nicht mehr auf ihre Briefe reagierte, so war es in diesem Fall Jeanne, welche sich ihm nach und nach entfremdete. Sie erwähnte schließlich am 12.12.25, dass sie sich regelmäßig mit einem anderen Mann namens Harry treffe, tröstete Reiswitz aber: „I shall always remember you, your dear happy face and laughing eyes that I have kissed.“219 Für das letzte Quartal des Jahres 1926 ist tatsächlich die Eheschließung Jeannes mit einem Harry Collier belegt.