Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962)

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Damit ist der „Fewkes-Fall“ aber noch nicht ganz geklärt. Eine Aktennotiz Willvonseders vom 19.05.43 lässt nämlich erkennen, dass sich auch im Belgrader Prinz-Paul-Museum Fewkes-Unterlagen befunden haben, und zwar im Zusammenhang mit der Starčevo-Grabung.508

Der deutsche Umgang mit Fewkes und seinen Unternehmungen in Jugoslawien zeigt, dass die amerikanische Archäologie der deutschen gegenüber sicherlich im Vorteil war in Bezug auf Jugoslawien. Vor allem standen ihr deutlich mehr finanzielle Mittel zur Verfügung, um sogar regelmäßig mit mehr als einem Dutzend Studenten der „American School of Prehistoric Research“ durchs Land ziehen zu können. Dies musste auch bei den von ihrer Ausbildung her deutschfreundlichen jugoslawischen Archäologen wie Petković nicht ohne Folgen bleiben, da letztlich finanzielle Erwägungen eine Zusammenarbeit mit den Amerikanern trotz aller angestrebter „Europeanisation“ lukrativer machen mussten. Eine bewusst gesteuerte Politik oder ein ausformuliertes Konzept der jugoslawischen Institutionen in Bezug auf die archäologische Zusammenarbeit mit ausländischen Einrichtungen gab es allerdings dem bisherigen Erkenntnisstand nach nicht. Der zwischen dem DAI und dem Belgrader Nationalmuseum abgeschlossene Grabungsvertrag war zwar das erste Beispiel für eine institutionalisierte und langfristig angelegte wissenschafliche Zusammenarbeit Jugoslawiens mit einem anderen Staat.509 Doch die Tätigkeit von Fewkes zeigt, dass letztlich das Fehlen ausreichender finanzieller Mittel fatale Folgen haben konnte. Nur der Kriegsausbruch 1941 verhinderte es, dass die deutsche Archäologie in Jugoslawien nicht ins Hintertreffen gegenüber den Amerikanern geriet.

Fewkes selbst sollte die Jagd nach seinen Papieren durch die deutschen Besatzer nicht mehr miterleben. Er verstarb im Alter von nur 40 Jahren am 11.12.41 nach längerer Krankheit, zurückzuführen auf seinen barocken Lebenswandel: „His days of revelry took quite a toll on his liver and other vital organs“.510

So kam es zwar trotz vor allem finanzieller, aber auch personeller Nöte 1931 zur von Reiswitz seit seinem Ohridbesuch 1928 in die Wege geleiteten Probegrabung, in einem Jahr, in welchem das DAI die Mittel für Grabungen um 22% gekürzt hatte.511 Sowohl die deutsche als auch die jugoslawische Seite instrumentalisierte diese für ihre jeweils eigenen politischen Zwecke. Für das DAI war es wichtig, auf dem Balkan die wissenschaftliche Konkurrenz aus den USA in Schach zu halten. Belgrad hingegen nutzte die Gelegenheit, Makedonien in der Presse als integralen und gefestigten, auch von ausländischen Wissenschaftlern anerkannten Bestandteil Serbiens darzustellen. Reiswitz’ persönliches Hauptziel, Deutschland und Jugoslawien einander wissenschaftspolitisch näherzubringen, gelang nur zum Teil, obwohl er immerhin Unverzagt zu einem „Freund“ Südslawiens machen konnte.

3.4. Die Ohridgrabung 1932

Die Tatsache, dass Unverzagt zum „Freund“ Südslawiens geworden war, sollte einer auf die deutsch-jugoslawischen Kulturbeziehungen insgesamt förderlichen Longuedurée-Wirkung des zweiten Grabungsgangs in Ohrid den Weg ebnen können.

Nachdem im Jahre 1931 die geplante Septembergrabung in Ohrid, vermutlich aus finanziellen Gründen, nicht stattgefunden hatte512, fand der zweite Durchgang erst vom 17.04.–12.05.1932 statt.513 Während seines Aufenthaltes in Ohrid nahm sich Reiswitz einer privaten Angelegenheit des im Ohrider Krankenhaus tätigen Chirurgen Jovo Kašiković, welcher zugleich im Ohrider Stadtrat vertreten war, an. Dieser beabsichtigte, „zur Auffrischung seiner Kenntnisse“514 nach zu Deutschland kommen, um bei keinem geringeren als Prof. Ferdinand Sauerbruch (1875–1951) an der Berliner Charité zu assistieren. Reiswitz setzte nach seiner Rückkehr nach Berlin alle Hebel in Bewegung, um dem serbischen Chirurgen zu helfen. Er wandte sich an den jugoslawischen Gesandten Balugdžić, mit der Bitte, an Sauerbruch zu schreiben. Zudem nahm er direkt Kontakt mit der Schwester Sauerbruchs auf, die ihm mitteilte, dass ihr Bruder sehr gerne Kašiković ausbilden würde.515 Am 20.07.32 ließ Reiswitz Kašiković wissen, dass alles nun bereit sei für seine Ankunft. Er selbst und Böckschen würden ihm ein Zimmer besorgen und „alles tun, damit Sie einen recht guten Eindruck von Berlin bekommen“. Zudem bat er Kašiković, ihm doch bitte auf Serbisch zu schreiben, während Reiswitz selbst sich der deutschen Sprache bedienen würde: „Ich habe diese Art der Korrespondenz mit allen serbischen Freunden eingeführt, weil es so das praktischste ist.“516 Praktisch und natürlich auch seinem eigenen Spracherwerb förderlich. So antwortete dann auch der Ohrider Chirurg in serbischer Sprache – allerdings sich der lateinischen Schrift bedienend, um Reiswitz darüber zu informieren, dass er vom zuständigen Ministerium keine Reiseerlaubnis bekommen habe und somit der Schulungsaufenthalt bei Sauerbruch ins Wasser fiele. So war dieser Versuch der deutsch-jugoslawischen Vernetzung leider fehlgeschlagen.

Anders sah es aus bei den Grabungen auf Reiswitz’ Gradište. Am 18.08.1932 erschien dazu in der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ unter der vielsagenden Überschrift „Auf den Spuren der Illyrer“ ein längerer Artikel, namentlich gekennzeichnet mit „A.v.R.“.517 Dass es sich dabei um Reiswitz selbst handelte, geht klar hervor aus den im Nachlass befindlichen maschinenschriftlichen Vorentwürfen mit seinen handschriftlichen Korrekturen. Er begann damit, hervorzuheben, dass die Grabungen am Ohridsee in beiden Ländern ein „starkes Interesse“ gefunden hätten. Dann beschrieb er in einer längeren Passage die „geographische Lage“ Ohrids als notwendige Voraussetzung für „das beste Verständnis für die Aufgaben der Wissenschaft“ und offenbarte sich damit ganz als Schüler Jovan Cvijićs. Der Ohridsee sei als einer der letzten in Europa noch „ungestört und ungetrübt – ein See um seiner selbst willen.“ Hier ist ein romantisierender Zug in der Wortwahl unverkennbar. Er konzentriert den Blick dann auf Gradište, welches über eine der „wichtigsten Verkehrsstraßen der Alten Welt“ wache, „die Straße von Dyrrhacium-Durazzo nach Byzantium-Konstantinopel, die große Querstraße Adria-Aegeis-Bosporus, jahrhundertelang unter dem Namen Via Egnatia bekannt.“

Pathetisch fuhr er fort mit dem aus der mittigen Fadenkreuzlage Ohrids abgeleiteten „Lockendsten“ an der „Durchforschung“ der Ohridgebietes. Es müssten sich genau in dieser Mittellage, „von allen Wellen des historischen Geschehens auf der Balkan-Halbinsel überspült“, „von seltener Geschlossenheit … die Spuren der Jahrtausende erhalten haben.“

Im nächsten Abschnitt fasste er die bisherigen Grabungen der Bulgaren im Jahre 1918 und die von Vulić zusammen, bevor er auf das „seit 1928“, d.h. seit seinem ersten Ohridbesuch, in Arbeit befindliche Abkommen zwischen dem DAI und dem Nationalmuseum in Belgrad einging. Er erwähnte die vor kurzem abgeschlossene zweite Grabungskampagne und nannte Unverzagt und dessen Grabungsgehilfen Keller als auf deutscher Seite Beteiligte.518 Sich selbst erwähnte er nur ganz beiläufig, ohne jedwede erklärenden Hinweise. Als jugoslawischen Delegierten führte er Grbić an, aber besonders hervorgehoben wurde Petković, der in jenem Jahr auch dem Rektorat der Belgrader Universität vorstand, weil „dessen Hilfe das Unternehmen in ganz besonderem Maße sein Entstehen und Zustandekommen verdankt“.

Nun fasste er die wichtigsten Funde von Gradište zusammen, „die von dichtem Gebüsch überwucherten Reste uralter Mauern, zentnerschwere Blöcke, ohne Mörtel aufeinander getürmt, an drei Meter stark – die von Wind und Wetter vieler Jahrhunderte zugewehten Umrisse einer großen Wehranlage“.

Bei Unverzagt liest sich dieser Befund deutlich prosaischer. Er sprach in seinem erst nach dem Zweiten Weltkrieg 1954 erschienenen Aufsatz über Gradište von „auf einer isolierten Bergkuppe gelegenem polygonalen Kernwerk, das von einer ringsum laufenden 2 m dicken Trockenmauer aus Felsgestein gebildet wird“.519

Reiswitz ging als nächstes auf die „mächtigen, bastionsartig vorspringenden Türme“ dieses „Wehrbaues“ ein, „der sich auf dem strategisch wichtigsten Punkte des ganzen Ohrida-Gebietes befand“. Leider hätten die Grabungen nicht zu Ende gebracht werden können – hier spielten wieder die weltwirtschaftskrisenbedingten finanziellen Faktoren eine Rolle, aber es handele sich wohl „wahrscheinlich“ um die Hauptburg der in diesem Gebiet wohnhaften illyrischen „Dessareten, die zuletzt in den makedonischen Kriegen Roms eine große Rolle spielten“. Auch Unverzagt beschrieb die Mauern, ohne aber auf Illyrer einzugehen. Er war auch sehr vorsichtig, was eine Datierung der Anlage anbelangte, da die Sachüberlieferung dazu keine hinreichenden Befunde lieferte.

Reiswitz hingegen wusste sie nicht nur den Dessareten520 zuzuordnen, sondern stellte auch eine Beziehung her zum „Problem der Illyrer“ im Allgemeinen. Er sah in Gradište „einen, wenn nicht den südöstlichsten Punkt, bis zu welchem illyrische Stämme ihre Festen anlegten.“ Und woher stammten diese Illyrer? Auch dazu hatte er eine Antwort parat. Es sei der „gegenwärtige Stand der Forschung“ – womit er klar, aber unausgesprochen auf die Thesen Schuchhardts verwies, dass die „Illyrer vor ihrer Abwanderung nach dem Süden, die etwa um die Wende vom zweiten zum ersten vorchristlichen Jahrtausend erfolgt sein mag, im Osten und Südosten Deutschlands, in Pommern wie in der Lausitz siedelten“. Somit wäre die Verteidiger der Anlage sowohl Vorfahren der heutigen Deutschen als auch der Südslawen, ein Nexus, der Reiswitz sehr attraktiv erscheinen musste. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Reiswitz sich im Juli 1932, kurz vor der Veröffentlichung des Artikels in der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ am 05.07., mit Schuchhardt traf und sich für dieses Treffen einen Tag zuvor entsprechend präparierte. Im Tagebuch heißt es: „Vorbereitung auf Schuchhardt“.521

 

In einem Brief an seinen alten Ohrid-Bekannten, den Gymnasiallehrer Jovančić, vom 28.05.32, also unmittelbar nach Beendigung der Grabung, ist Reiswitz’ Enthusiasmus noch deutlicher erkennbar: „Immer deutlicher wird der Sieg meiner These, dass es sich bei unserem Gradište um die alte Hauptburg der Dessareten, eines berühmten illyrischen Stammes, handeln muss.“ Er fügte hinzu, dass diese These auch von Prof. Mihovil Abramić, dem Leiter (seit 1926) des Archäologischen Museums in Split unterstützt werde, „der als bester Kenner illyrischer Burgen“ gelte und den er in Split besucht habe.522

Die Betonung, die Reiswitz auf die Illyrer als Herren von Gradište setzte und in dieser Form von Unverzagt wohl nicht geteilt wurde, geht auch aus einem Brief an Böckschen hervor, den er am 12.06.32 zu Papier brachte. Zunächst schilderte er seine Teilnahme an einer Vorlesung Unverzagts tags zuvor an der Berliner Universität, während derer Unverzagt auf die Bronzezeit einging. Reiswitz war entsetzt: „Was er [Unverzagt] da gestern als Einleitung verzapfte ist finsterer historischer Dilettentantismus, weit schlimmer als ich es je gewagt hätte über Prähistorie zu dilettieren!“ Sicherlich nicht nur dieser Einzelfall ließ Reiswitz an Unverzagts Expertise zweifeln. In demselben Brief jedenfalls überlegte Reiswitz, sich deutlicher von Unverzagt, auch gegenüber dem DAI, abzusetzen: „Wie lange es noch ohne Bruch geht weiss der Himmel, soweit es an mir liegt, will ich es vermeiden, zu brechen und erst allerwenigstens meinen eigenen wissenschaftlichen Bericht über das Ohrid Problem machen und an den Mann Rodenwald [sic] bringen.“523 Dazu ist es dann wohl nicht gekommen, aber die Missstimmung zwischen Reiswitz und Unverzagt blieb bestehen.

Sehr deutlich zeigt sich dies zehn Jahre später. Anlass war diesmal ein Brief Unverzagts vom 25.07.42, in welchem Unverzagt dem Kustos Grbić Unfähigkeit vorwarf und verlangte, dass Grbić nicht weiter beschäftigt werden sollte. Grbić hatte zu diesem Zeitpunkt im Auftrag des Kunstschutzes vom Ahnenerbe finanzierte Aufräumarbeiten am Kalemegdan in Belgrad durchgeführt. Unverzagt war allerdings wenig beeindruckt: „Nach meiner Ansicht ist es von der deutschen Aufsichtsbehörde mehr als nachlässig, wenn sie einen Mann wie Grbić, der, wie sie [sic] ja auch in Ohrid gesehen haben, von moderner Ausgrabungstechnik nicht die geringsten Vorstellungen besitzt und sich auch niemals bemüht hat, Kenntnisse auf diesem Gebiete zu erwerben, auf ein so wichtiges Bodendenkmal loslässt. Tun Sie doch bitte alles, dass dieser Zerstörung, die jede spätere wissenschaftliche Nachprüfung unmöglich macht, ein Ende bereitet wird.“524 Reiswitz reagierte darauf geharschnischt, zunächst am 02.08. gegenüber Unverzagt selbst, dem er mitteilte, dass die Aufräumarbeiten keinen weiteren Aufschub duldeten, sodass er Grbić, der der einzige gelernte Prähistoriker Serbiens sei, einstellen musste, da ihn die „Heimat“, mit anderen Worten Unverzagt, „im Stich“ gelassen habe.525 Einen Tag später wandte sich Reiswitz an den Ahnenerbe-Geschäftsführer Sievers und wies Unverzagts Unterstellungen zu Grbić „mit aller Entschiedenheit“ als maßlos überzogen zurück.526 Vier Tage später ging Reiswitz zum Angriff über und teilte Sievers mit, dass „wenn das wissenschaftliche Geltungsbedürfnis auf dem Spiele steht, leider auch die scheinbar besten Freundschaften versagen“.

Reiswitz kramte dann in der Mottenkiste der Unstimmigkeiten mit Unverzagt: „Ich habe mit Unverzagt in den Jahren 1930/32 gelegentlich meiner Grabungskonzession am Ohridsee an das Archäologische Institut des Deutschen Reiches und der Beauftragung Unverzagts, die gebotenen Möglichkeiten nun auszuwerten, Erfahrungen gemacht, die enttäuschend und wahrhaft bitter waren. Jedenfalls ist damals allein durch Unverzagts umkameradschaftliches und, wie ich meine auch unwissenschaftliches Verhalten eine ganz große Gelegenheit für das Reich verdorben worden“. Doch Deutschland habe nicht nur wissenschaftlichen Schaden durch Unverzagt genommen. Er warf ihm auch gegenüber Sievers „Unkenntnis der südeuropäischen Psyche“ vor.527

Sievers wandte sich daraufhin schlichtend an die Kontrahenten. Reiswitz ließ er mitteilen, dass, da „die Zahl der Vorgeschichtsforscher nun einmal so dünn ist, man versuchen muss, miteinander auszukommen.“528 Unverzagt beruhigte er durch den Hinweis darauf, dass alles ein „Missverständnis“ sei und rügte die „unnötige Schärfe“ im Ton des Streits. Er erinnerte Unverzagt an die eigentliche Aufgabe in Zusammenhang mit den Kalemegdan-Grabungen: „Herr von Reiswitz hat, wie ich mich überzeugen konnte, in der Zeit seiner Tätigkeit in Serbien wirklich alles getan, was nur möglich war, um das grösste Unheil vom Kalemegdan abzuwenden und aus dem Verlauf der Aufräumungsarbeiten der Propaganda-Abteilung viel für die Forschung herauszuholen“. Zudem mahnte er Unverzagt – und schloss sich damit der Position Reiswitz’ an –, dass Unverzagt in der Tat schon „vor längerer Zeit“ vom Denkmalschutz aufgefordert wurde, die Arbeiten in Belgrad in die Hand zu nehmen.529

In ähnlicher Weise wie gegenüber Sievers hatte Reiswitz auch gegenüber seiner Frau seinem Zorn freien Lauf gelassen. Er habe auf Unverzagts Brief über die vemeintliche Inkompetenz von Grbić hin „geschäumt“ und wolle am liebsten die geplante Grabung mit ihm am Kalemegdan, in dessen Vorfeld die umstrittenen Aufräumarbeiten durch Grbić stattgefunden hatten, sofort „abblasen“. Er werde Unverzagt „auf Grund meiner Ohrider Erfahrungen“ so antworten, dass ihm „hören und sehen vergehen soll“. Seit Oktober 1941 habe er auf Unverzagts Kommen gedrängt, welcher „immer neue Ausflüchte“ finde. „Wie ein Ozean“ sei in ihm „die Erinnerung an Ohrid ausgebrochen und an all das, worüber ich habe dann Gras wachsen lassen“. Reiswitz fragte seine Frau, ob sie sich noch erinnere, „was für eine Unsumme an Selbstüberwindung es mich gekostet hat, damals zurückzuhalten und wie zuletzt nur der alte Wiegand530 helfen konnte, einen Pfundskrach zu vermeiden?“ Auch Böckschen gegenüber erwähnte er Unverzagts Mangel an interkultureller Empathie und sprach von „der ihm eigenen völligen Verständnislosigkeit für die Psyche anderer Völker“.531 Die obigen Ausführungen zeigen, dass es sicherlich falsch ist, die Beziehung von Reiswitz und Unverzagt pauschal als „langjährige Freundschaft“ zu bezeichnen.532

Mehr Verständnis in dieser Beziehung zeigte hingegen Reiswitz. In seinem Brief an Jovančić erwähnt Reiswitz, dass der Vertrag zwischen dem DAI und dem Nationalmuseum vorgesehen hatte, dass bei den Ohrid-Grabungen nur jugoslawische Arbeiter zu beschäftigen seien. Dieser Vorgabe kam Reiswitz nach: „Unsere Arbeiter – 15 Bauern aus Lakoceri, 2 Bauern aus Pestani, 3 Städter aus Ohrid – arbeiteten so gut und waren so begeistert bei der Sache, dass ich sie gar nicht genug loben kann.“533

Fünf Tage bevor Reiswitz an Jovančić schrieb, schickte ihm der später von Unverzagt so gescholtene Grbić, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Stobi befand, einen „Politika“-Artikel mit Datum vom 18.05.32 zu, welcher auch den Schlusspunkt der jugoslawischen Berichterstattung zu Gradište in diesem Jahre setzte.534 Darin schilderte der Verfasser zunächst, dass während des feierlichen Abschiedsmahls für die Delegation der Ohrider Gemeindevorsteher Avramović gerade auch den touristischen – und damit wirtschaftlichen – Nutzen der deutsch-jugoslawischen Grabung hervorhob. Dann kam Unverzagt zu Wort, der erläuterte, dass Gradište deshalb so bedeutsam sei, weil dort heftige Kämpfe während der römischen Eroberung Makedoniens stattgefunden hätten.

Er listete dann auf, dass „Teile von Pfeilen und Pfeilspitzen und andere eiserne Waffen“ gefunden worden seien. Unklar ist, warum diese Fundstücke in seinem Aufsatz von 1954 nicht vorkommen, sondern nur „Bruchstücke von Vorratsgefäßen“ aus dem Inneren der Anlage. Reiswitz hingegen notierte in einem Vorentwurf für seinen Artikel in der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ vom 18.08.32, dass „Massen von Brandschutt, eiserne Pfeilspitzen und eine grosse Steinkugel von einem Wurfgeschütz“ gefunden worden seien, die „auf erbitterte Kämpfe schließen“ ließen.

Unverzagt deutete dann an, dass man sich bei der Folgegrabung der Zisterne und dem Bergfried zuwenden werde. Er datierte die Anlage auf das dritte bis zweite Jahrhundert vor Christus. Diese Datierung, welche er 1954 nicht erneut erwähnte, stiftete Verwirrung. Wenn die ältesten Funde Gradište im dritten vorchristlichen Jahrhundert verorten lassen, wie kann es dann ein Beweis für die Illyrerthese sein, da die Illyrer nach Schuchhardt bzw. Reiswitz schon mindestens siebenhundert Jahre früher eine Festung auf Gradište errichteten? Und wer genau kämpfte hier gegen wen? In seinem Vorentwurf vom Mai 1932 schrieb Reiswitz: Gradište „scheint in den Kämpfen zwischen Römern und Makedoniern eine hervorragende Rolle gespielt zu haben, da sie der westlichste Eckpfeiler der makedonischen Verteidigungsstellung gegen Illyrer und Römer gewesen sein wird“. Dieser Passus liest sich nun so, als sei Gradište eine makedonische Festung gewesen, gegen Illyrer und Römer. Das Gebiet um Ohrid wurde vom makedonischen König Philipp II. im Jahre 358 v. Chr. erobert, die römische Eroberung Mazedoniens erstreckte sich von 214–148 v. Chr. Über Philipps Eroberungszug schrieb Polybios: „Philip then advancing with his army recovered the cities, took Creonium and Gerus in the Dassaratis, Enchelanae, Cerax, Sation and Boi in the region of Lake Lychnidos“.535 Hier tauchen Reiswitz’ Dessareten als „Dassaratis“ auf, womit Gradište eine illyrische Festung gewesen sein könnte, die von Makedonen erobert wurde, um später als Bollwerk gegen die Römer zu dienen. Diese Hypothese wurde auch in einem „Politika“-Artikel vom 05.05.32 aufgestellt, vermutlich unter Berufung auf einen oder mehrere der Grabungsexperten. Dort wurde auch eingeworfen, dass die Auffindung von „kleinen Keramikfragmenten“536 unterhalb des heute sichtbaren Mauerwerks darauf hindeute, „dass diese Anlage als natürliche Festung bereits zur Bronzezeit und in vorgeschichtlicher Zeit, zweitausend Jahre vor Christus, diente.“ Träfe dies zu, so könnte ein noch direkterer Bezug zu den Schuchhardt’schen Illyrern hergestellt werden.

Reiswitz kündigte zwar in seinem Brief an Jovančić vom 28.05.32 an, dass er selbst bald in „Politika“ alle Missverständnisse klären wolle, und um „endlich nach all dem Unfug und Unsinn, den die Journalisten schon in bestem Willen geschrieben haben, alles zusammenfassend zu sagen“, doch scheint es dazu nicht gekommen zu sein.

Eine weitere Frage noch ergibt sich aus den Datierungen der Trebenište-Nekropole. Wenn diese Gräber, wie heute noch angegeben wird, aus dem 7. bis 4. Jahrhundert vor Christus stammen, wie kann dann behauptet werden, dass Gradište die der Nekropole zugehörige Burganlage war, wenn diese tatsächlich erst mindestens rund zweihundert Jahre später entstand?

Im Reiswitz von Grbić zugeschickten „Politika“-Artikel wurde Unverzagt weiter zitiert. Er würde sich freuen, wenn bald in Ohrid ein Museum zur Unterbringung der örtlichen Funde errichtet werden könnte. Dies indes war ein Plan Reiswitz’ bereits aus dem Jahre 1928 gewesen, der nun scheinbar kurz vor der Vollendung stand. In seinem Brief an Jovančić vom 28.05.32 schrieb Reiswitz, dass „der allererste Anfang eines Ohrida-Museums, indem der Direktor des Gymnasiums uns für unsere Funde einen extra-Raum zur Verfügung stellte“ zu seinen Erfolgen gehörte.537

Zum Schluss wurde noch herausgestellt, dass Gradište auch die Aufmerksamkeit der das Land bereisenden amerikansichen Delegation bestehend aus den Vertretern des „Peabody Museums for Achaeology and Ethnology“, des „Fogg Museum of Art“ und der „American School of Prehistoric Research“ unter Leitung von Fewkes auf sich gezogen habe, wie es bereits im „Vreme“-Artikel vom 04.05.32 angekündigt war. Anfang Juli 1932 kam es dann zu einer weiteren Begegnung von Fewkes und Reiswitz, diesmal in Berlin. Am 02.07.32 schrieb Reiswitz darüber an Böckschen: „Die Amerikaner, die uns in Ohrid beunruhigten, sind seit gestern in Berlin und Unverzagt zeigt ihnen Museum und bei 50 Grad Hitze draussen die Römerschanze.“538 Reiswitz fuhr dann fort mit den folgenden spitzen Bemerkungen: „Da ihm [Unverzagt] selbst die Hitze nicht mehr sehr viel ausmacht, macht es seiner Schadenfreude einen diebischen Spass, den dicken Mister Fweks [sic, Fewkes] und seine Amerikanerinnen zu hetzen.“ Doch Reiswitz und Unverzagt hatten noch weitergehende Absichten: „Dabei wollen wir es so drehen, dass eine grosse Deutsch-Amerikanische Liebe herauskommt und wir bei den sehr interessanten Amerikanischen Grabungen in Starčevo im nächsten Jahr mitmachen können, wofür wir vielleicht Missis Goldmann das Gradište bei Trebenište, das uns nicht interessiert, zum Ausgraben überlassen werden.“539 Aus diesem erhofften Kuhhandel wurde allerdings nichts.

 

Unverzagt hatte aber schon bad wieder Gelegenheit, seine Englischkenntnisse anzuwenden. Vom 01.–06.08.32 nahm er als einer von mehr als 600 Delegierten am ersten „International Congress of Prehistoric and Protohistoric Sciences“ in London teil, wo er, laut „Times“, die die Vorreiterrolle der britischen Prähistorie betonte, zu den „visitors from the Continent“ gehörte, denen „a … widening of knowledge both in discussion and through personal inspection“ zuteil wurde.540

Vielleicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Besuch der Amerikaner schrieb Grbić dann in seinem Begleitbrief zu dem „Politika“-Artikel vom 18.05.32 beruhigend an Reiswitz: „Ich kann Ihnen wider [sic] ehrlich bestätigen, dass in Ohrida-Umgebung niemand etwas achaeologisch tun wird.“541 Während Grbić also Ohrid betreffend das Monopol der Deutschen bestätigte, legte Vasić auf dem „International Congress of Prehistoric and Protohistoric Sciences“ einen anderen Schwerpunkt. In seinem Beitrag „Die Organisation der prähistorischen Forschung im unteren Donautale“, den er am 02.08.32 in der „Sub-Section C – Central and Mediterranean Europe“ in deutscher Sprache und im Beisein von Unverzagt ablieferte, fasste er zunächst die Wichtigkeit der Vinča-Grabungen zusammen, die durch seinen „edlen Mäzen“, Sir Charles Hyde, ermöglicht worden waren. Daraus leitete er die Notwendigkeit der gründlichen und baldigen Erforschung des Gebietes an der unteren Donau ab. Jugoslawien könne dies logistisch, personell und vor allem finanziell aber nicht ohne Hilfe bewältigen. Also rief er zur „Ökonomie der Kräfte, der Mittel und der Zeit“ auf. Der Kongress möge einen Beschluss fassen, in welchem die „Regierungen und wissenschaftlichen Institutionen“ der Donauanrainerstaaten aufgefordert werden, sich dementsprechend zu engagieren. Sollte dies ohne Widerhall bleiben, solle der Kongressvorstand sich auch an andere – gemeint waren wohl vor allem die anglo-amerikanischen – wissenschaftlichen „Institute und Private“ wenden, „die für unsere Wissenschaft Interesse haben“. Die Archäologie des Donauraumes sollte also internationalisiert und gegebenenfalls sogar privatisiert werden. Dem Resolutionsentwurf von Vasić stimmte der Kongress am 06.08.32 zu. Ein Komitee wurde mit seiner Implementierung beauftragt, welchem unter anderem der Amerikaner Blegen angehörte, dem Reiswitz 1929 seine Pläne einer archäologischen Gesamtaufnahme der Balkanhalbinsel unterbreitet hatte. Großbritannien war durch Walter Heurtley, den stellvertretenden Leiter der „British School of Archaeology“ in Athen vertreten. Dieser hatte dem Kongress in seinem Vortrag vom 04.08. über „Prehistoric Western Macedonia“ sich als Schuchhardt-Anhänger zu erkennen gegeben, da er die bisherige Fundlage im Sinne einer möglichen bronzezeitlichen „Aryanization of Macedonia“ deutete. Er sprach sogar von einer „Lausitz invasion of the Vardár valley“. Somit also wäre die Ex-septentrione-lux-Theorie zutreffend. Heurtley zufolge waren die nach Süden wandernden Lausitz-Stämme entweder „Aryans“oder „Illyrians“.542

Ferner waren in dem Organisationskomitee zur Internationalsierung der prähistorischen Donauländerarchäologie Grbić, Unverzagt, Vasić selbst und – wohl kaum eine Überraschung – Vladimir Fewkes mit von der Partie. Ob der Resolutionsentwurf von Vasić im Vorfeld in Belgrad politisch autorisiert worden war, ist nicht klar. Seine Umsetzung jedenfalls hätte sicherlich bedeutet, dass der Einfluss der amerikanischen Archäologie in und auf Jugoslawien weiter zugenommen hätte, wohl zum Nachteil der finanziell wenig manövrierfähigen deutschen Prähistoriker.

Neben den Amerikanern543 besuchte auch noch ein Journalist für „Vreme“, „Lj. Živanović“, die Ohrid-Ausgrabung am 11. Arbeitstag, also am 28.04.32.544 Sein ausführlicher Bericht darüber erschien mit einem Foto der Bergkuppe von Gradište am 15.05.32.545 Da Fewkes erst am 04.05.32 angekündigt hatte, Ohrid zu besuchen, muss der „Vreme“-Journalist rund eine Woche vor der amerikanischen Gruppe auf Gradište gewesen sein. Er beschrieb den beschwerlichen Aufstieg und den freundlichen Empfang durch Reiswitz, den er schmeichelhaft als „Archäologen“ bezeichnete. Unverzagt erklärte dem Besucher dann unter anderem, dass der innere Teil der Festung deutlich älter sei als der äußere Ring und auch als Zufluchtstätte für die umliegende Bevölkerung gedient habe, worauf die Reste großer Vorratsgefäße schließen ließen, sogenannter pithoi. Diese Scherben wurden tatsächlich an demselben Tag erst gefunden, wie aus einem Brief von Reiswitz an Petković vom 29.04.32 hervorgeht. In demselben Schreiben gab Reiswitz an, dass es sich bei Gradište um „eine alte Makedonische Festung halten muss, die vor allem in den Kämpfen gegen Rom eine große Rolle gespielt haben muss.“ Von Illyrern ist an dieser Stelle keine Rede. Er erwähnte zudem, dass die deutsche Delegation im „Hotel Turist“ vor Ort wohne und fügte noch etwas hinzu, was bestimmt auch dem Epikureer Fewkes gefallen hätte: „Wir essen und trinken viel und gut.“546

Weiter gab Unverzagt an, dass die Festung die meisten Kriegshandlungen wohl zur Zeit der römisch-makedonischen Kriege erlebt habe. Er fügte hinzu, dass die Römer nach ihrem Sieg über Philipp II. dann wohl die ältere Festung geschleift hätten, um später den äußeren Mauerring ganz neu zu errichten. Über diese Schlussfolgerungen, die den Journalisten dazu brachten, eine Zeitlang das Kriegsgeschehen in seiner Phantasie sich vorzustellen, erfährt der Leser von Unverzagts Aufsatz aus dem Jahre 1954 nichts. Živanović beschrieb den Ausgrabungsort recht detailliert, erwähnte die zwei Zelte und die hölzernen Bänke und einen hölzernen Tisch und sogar drei getötete Schlangen, die während der Ausgrabungsarbeiten aufgestöbert wurden und deren Überreste Grbić in einem Tiegel aufbewahrte. Von Illyrern war in diesem Text keine Rede. Am Ende seiner Visite begleitete Reiswitz den Journalisten auf dem halben Weg hinunter ins Tal. Insgesamt bringt der Text dem Lesepublikum eher das Abenteuerliche einer Grabungskampagne näher, ohne politische Akzente zu setzen.

Etwas mehr Politik ins Spiel kam in einem Schreiben von Reiswitz an Balugdžić in Berlin vom 29.04.32, verfasst am Ende des zwölften Ausgrabungstages.547 Er lobte darin die Unterkunft in Ohrid und auch die „vorzüglich“ bei der Grabung arbeitenden Bauern. Dann allerdings erfolgte ein Seitenhieb auf Unverzagt, dessen „Interview“ wohl „unangenehme Folgen hatte“.

Mit diesem Interview können nur die wörtlich zitierten Aussagen Unverzagts in einem „Politika“-Artikel vom 01.04.32 gemeint sein, den der Deutschlandkorrespondent von „Politika“, Predrag Milojević, direkt einen Tag nach Erscheinen an Reiswitz geschickt hatte mit der euphemistischen Bemerkung, dass sich darin „eine Erklärung von Dr. Unverzagt“ befinde, die Reiswitz „interessieren“ werde. Was war aber nun das „Unangenehme“ an den Äußerungen Unverzagts? Unverzagt führte aus, dass trotz der schwierigen wirtschaftlichen Lage in Deutschland die Regierung die deutsch-jugoslawische Grabungskooperation finanziell unterstützt habe, dass Jugoslawiens Vorgeschichte von großem Interesse sei, da sich auf seinem Boden konfliktträchtige Einflüsse von allen Seiten zunächst „vom Norden aus …, dann vom Osten her“ manifestierten, dass es mit Ausnahme der Grabungen von Vasić und Vulić bislang nur wenige Ausgrabungen gebe, dass Ohrid besonders aufschlussreich für die deutsche Forschung sei wegen des Illyrerfaktors, da Illyrer auch in der Lausitz belegt seien, und dass die Ausgrabung in Gradište bis zum 25. Mai dauern werde, an welcher Keller und der am Deutschen Archäologischen Institut in Athen arbeitende Emil Kunze teilnehmen würden (1901–1994).548 „Unangenehm“ konnte für Reiswitz lediglich sein, dass Unverzagt Reiswitz mit keinem Wort erwähnte, oder das Unverzagt sich eventuell im Datum geirrt hatte, da die Grabungen nur bis zum 12.05. projektiert waren. Allerdings erwähnte Unverzagt an anderer Stelle, dass die Funde von Vulić in Trebenište der „Hauptgrund“ gewesen seien für die deutsche Entscheidung, in Ohrid zu graben. Dies muss Reiswitz natürlich einen Stich versetzt haben, da die von ihm persönlich initiierte Grabungskonzession auf seine Entdeckung von Gradište im Jahre 1928 zurückging, also lange bevor Vulić selbst in Trebenište/Gorenci tätig und fündig wurde. So unterschlug Unverzagt also nicht nur Reiswitz’ Namen, sondern auch dessen gesamte Rolle als spiritus rector der deutsch-jugoslawischen Grabungen am Ohridsee. Einem Briefentwurf an Böckschen zufolge übersetzte Reiswitz diesen Artikel für Rodenwaldt und brachte ihn ihm persönlich vorbei. Rodenwaldt, so Reiswitz, sei „100 %“ für ihn. Reiswitz fügte hinzu, dass sich herausgestellt habe, dass Unverzagt ihn „absichtlich isoliert“ habe.549