Neues vom Tatort Tegel

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HORST BOSETZKY
Das Theatermesser

Es war ein guter alter Brauch, mich für die Reinickendorfer Kriminacht ein kleines Theaterstück schreiben zu lassen – besser einen Krimi-Sketch von maximal 25 Minuten Länge – und es mit befreundeten Schauspielerinnen und Schauspielern einzuüben und auf die Bühne zu bringen. Dies vor allem, um der Ermüdung der bis zu 750 Gäste vorzubeugen, die zu befürchten war, wenn fünf Kolleginnen und Kollegen nacheinander, nur ab und an von einer Band und einem Moderator unterbrochen, ihre Texte vorlasen. »Horst, du machst dich dadurch nur zum Horst!«, hörte ich manche warnende Stimme, da ich auch immer selbst mitspielen wollte. Aber an die zwanzig Jahre habe ich die Sache durchgezogen. Bis dann … Aber der Reihe nach.

Alles redete immer von »Crime and Sex«, und da Letzterer bei der Reinickendorfer Kriminacht stets zu kurz gekommen war, hatte ich mir für dieses Jahr etwas ganz Besonderes ausgedacht. Mein Stück sollte mit einer Szene im Bett beginnen, wobei aber die weibliche Hauptfigur nicht von ihrem Gatten begattet wurde, sondern von ihrem Lover. Die Dame hatte, das muss hier angemerkt werden, damit keine Verwirrung entsteht, ihren Mädchennamen nach der Eheschließung behalten.

Ein Bett auf der schmalen Bühne der Humboldt-Bibliothek – war das machbar? Und woher bekamen wir ein Bett? Ich schickte eine E-Mail an den Mann, der seit Jahrzehnten alles immer so trefflich managt, und einen Tag später rief Helge Schätzel mich an: »Klar, als Sie zweimal einen Sarg gebraucht haben, ging das ja auch. Ebenso wie mit einer Schaufensterpuppe als Requisit. Die hat damals C&A spendiert, und vielleicht findet sich diesmal auch eine Firma, die uns hilft.« Wenig später war die Sache geklärt, und ich konnte mich ans Schreiben meines Stücks »Auf offener Bühne« machen.

Jannek Schloppe und Lexa Krojanke liegen auf dem Bett, beginnen mit dem Vorspiel und reißen sich bis auf die Unterwäsche alle Kleidung vom Leib. Lexa stöhnt filmreif.

Schloppe hält mit dem Entkleiden inne: »Woher, Lexa, soll ich wissen, dass das alles echt bei dir ist – und du mir nicht nur zeigen willst, was für eine tolle Schauspielerin du bist?«

Lexa: »Das Gleiche gilt für dich, lieber Jannek. Dazu kommt, dass du auch noch selber Drehbücher schreiben willst. Und woher soll ich wissen, dass du die ganze Show mit mir nicht nur abziehst, um eine schöne Szene zu haben?«

Schloppe (richtig theatralisch): »Deine Liebe ist mir wie der Morgen- und der Abendstern. Deine Gegenwart hat auf mein Herz eine wunderbare Wirkung, ich kann nicht sagen, wie mir ist!«

Lexa (lacht abwertend): »Das ist nicht einmal echt, das ist aus Goethes Briefen an die Frau von Stein!«

Schloppe (in Ekstase): »Ich will dir gleich mal zeigen, was an mir echt ist.« (Wirft sich auf sie)

In diesem Augenblick erscheint Fabio Sullenschin auf der Bühne. Sullenschin: »Jetzt habe ich euch Schweine endlich einmal in flagranti ertappt! Das sollt ihr mir beide büßen!« (Reißt ein dolchähnliches Messer aus der Tasche, ein »Theatermesser«)

Schloppe (springt auf): »Fabio, verschone sie – nimm mich!«

Während Lexa schrecklich schreit, sticht Sullenschin Schloppe nieder und will fliehen. Ich schnelle aber vom Autorentisch hoch, springe auf die Bühne und stelle mich Schloppe in den Weg.

Ich: »Halt! Sie laufen mir nicht feige davon, sondern bekennen sich zu Ihrer Tat und stellen sich der Polizei!«

Schloppe (packt mich und setzt mir sein Messer an die Kehle): »Mit Ihnen als Geisel muss ich überhaupt nichts.«

Das war der erste Teil meines Stücks, und nun kommt noch ein Psychologe ins Spiel, bis mich Lexa rettet. Nach rund zwanzig Minuten ist dann alles vorüber.

Wir zogen zweimal am frühen Abend ins Theaterhaus Mitte in der Wallstraße 32, um dort in einem preiswert zu mietenden Raum zu proben. Ich musste mich auch als Regisseur versuchen, was mir aber schwerfallen sollte, da ich zu gerne nach der Devise »Dann macht mal, Kinder!« verfahre. Schließlich aber waren wir alle der Ansicht, den Besuchern der Kriminacht etwas durchaus Vorzeigbares bieten zu können.

Um aber ganz auf der sicheren Seite zu sein, trafen wir uns noch drei Stunden vor Beginn der Veranstaltung, der üblicherweise auf 19.30 Uhr angesetzt war, in der Humboldt-Bibliothek, um auf der richtigen Bühne zu proben. Das musste sein, denn die war mit ihren knappen Abmessungen doch etwas ganz anderes als das leer geräumte ehemalige Klassenzimmer im Theaterhaus Mitte. Außerdem bekamen wir vom auch schon vorab nach Tegel geeilten Tonmeister unsere kabellosen Headset-Mikrofone angepasst. Alles verlief zu unserer vollsten Zufriedenheit, und wir konnten, bevor alles losging, noch hinüber in die Fußgängerzone Alt-Tegel gehen, um Kaffee zu trinken und uns mit einem Stück Käsekuchen zu stärken. Meine Schauspieler waren auch privat befreundet beziehungsweise gehörten denselben Netzwerken an, sodass die Stimmung glänzend war. So schien es mir jedenfalls.

Gegen 19 Uhr schlenderten wir zur Humboldt-Bibliothek zurück. Ich zeigte meinen Leuten die mittlerweile bebaute Insel im Tegeler Hafen. »Da hat die Reinickendorfer Kriminacht in den ersten Jahren immer stattgefunden, im Sommer natürlich. Das war herrlich, und da sind wir auch auf die Rekordzahl von 750 Besuchern gekommen. Als es dann aber einmal kräftig gewittert hat und wir in die Humboldt-Bibliothek umziehen mussten, hat das so viel Mehrkosten verursacht, dass man beschlossen hat, gleich ins Trockene zu gehen – das aber nicht im Sommer, sondern im November.«

Am Eingang hatte sich schon eine kleine Schlange gebildet, und brav stellten wir uns an, obwohl wir ja zu den Akteuren des Abends gehörten. Dann war ich an der Reihe, nannte meinen Namen und wurde mit meinem Ensemble zusammen durchgewunken. Kurz nachdem wir eingetreten waren, begrüßte uns Helge Schätzel und hieß uns willkommen. Ich hatte noch etliche Hände zu schütteln, so die meines verehrten Verlegers Dr. Norbert Jaron. Wir gingen nun an Büchertisch und Catering-Büfett vorbei durch die Halle in Richtung des langen Tisches, der links neben der Bühne stand und an dem die Kolleginnen und Kollegen Platz nehmen konnten, die an diesem Abend lesen sollten beziehungsweise den »Krimifuchs« in Empfang nehmen durften, den Preis für den besten Kriminalroman mit Berlin-Bezug, der im letzten Jahr erschienen war, für ein Drehbuch für einen TV-Krimi oder einen Auftritt als Kriminalkommissar oder -kommissarin. Da für meine Schauspieltruppe an diesem Tisch nicht genügend Platz war, zog man sich in den weiten, mit Buchregalen bestückten und jetzt abgedunkelten Raum hinter der Bühne zurück. Dies auch, um sich zu sammeln und den Text noch einmal durchzugehen.

Pünktlich um 19.30 Uhr, als auch der letzte der 350 Stühle besetzt war, begann das kleine Swing-Orchester zu spielen, und es kam Stimmung auf. Wir waren mit meinem Sketch als krönender Abschluss der ersten Halbzeit eingeplant, sollten also erst nach drei kurzen Lesungen auf die Bühne kommen. Nachdem sie zwei Stücke gespielt hatten, räumten die Musiker die Bühne, und der Moderator, Uwe Madel vom rbb, erschien auf ihr, ein Mikrofon in der Hand, um alle zu begrüßen. Er tat das so professionell, aber gleichzeitig so herzerfrischend, dass das der ganzen Veranstaltung viele Pluspunkte einbrachte. Dann stellte er den Kollegen A vor, und der las und las. Es folgte die Kollegin B, und die las und las. Beide hatten keine Kurzgeschichten mitgebracht, sondern trugen verschiedene Passagen aus ihren neuesten Romanen vor, was immer wieder langatmige Erklärungen notwendig machte. Dann kam der Kollege C, und auch der las und las. Ich hatte mich inzwischen zu meiner Schauspieltruppe gesellt, und wir konnten es alle vor Ungeduld kaum noch aushalten. Als C am Ende war, wurde noch einmal musiziert, dann endlich wurden wir auf die Bühne gerufen.

»Und nun der Running Gag jeder Reinickendorfer Kriminacht: der Sketch mit und von Horst Bosetzky, den Älteren bekannt als -ky. Er hat eine Schauspielerin und einen Schauspieler mitgebracht, die Sie von der Bühne und dem Bildschirm her kennen: Lexa Krojanke und Jannek Schloppe. Die beiden legen sich hinter uns ins Bett und beginnen mit ihrem Liebesspiel, während ich noch kurz mit Horst Bosetzky plaudere.«

So geschah es dann auch, und Uwe Madel befragte mich nach meinem körperlichen Zustand und meinen neuesten Romanen, bis Lexa Krojanke und Jannek Schloppe mit ihrem Dialog begannen.

Schloppe (hält mit dem Entkleiden inne): »Woher, Lexa, soll ich wissen, dass das alles echt bei dir ist – und du mir nicht nur zeigen willst, was für eine tolle Schauspielerin du bist?«

Lexa: »Das Gleiche gilt für dich, lieber Jannek. Dazu kommt, dass du auch noch selber Drehbücher schreiben willst. Und woher soll ich wissen, dass du die ganze Show mit mir nicht nur abziehst, um eine schöne Szene zu haben?«

Alles lief nun nach Plan, keiner hatte einen Hänger oder versprach sich, bis Fabio Sullenschin von hinten auf die Bühne gestürzt kam, wo ein schwarzer Vorhang eine Treppe zur Galerie verbarg.

Sofort schrie er entrüstet: »Jetzt habe ich euch Schweine endlich einmal in flagranti ertappt! Das sollt ihr mir beide büßen!«

Wie x-mal geprobt, riss er nun sein Messer hervor, um es Jannek Schloppe in die Brust zu jagen. Doch …

Ich kann minutenlang nicht weiterschreiben, weil der Anblick zu schrecklich war, der sich mir, der ich dicht daneben stand, nun darbot.

Eine echte Klinge war dem armen Schloppe direkt ins Herz gefahren, und das Blut schoss in einer Fontäne heraus. Lexa schrie fürchterlich, während Sullenschin und ich dastanden, als hätte ein Regisseur »Freeze!« gerufen.

 

Im Publikum klatschte man zuerst, weil man an eine schauspielerische Glanzleistung aller Akteure glaubte, dann merkten die in den ersten Reihen, dass hier wirklich ein Mensch erstochen worden war.

Ich schrie nun: »Einen Notarzt! Die Polizei!«, während andere schon ihr Handy herausgerissen hatten und 112 wählten.

Mehrere anwesende Journalisten riefen ihre Redaktionen an. Die Schlagzeile: Tegeler Kriminacht – echter Mord auf offener Bühne.

*

Den Mordfall Schloppe wurde einem Kommissar übertragen, der zwar noch jung an Jahren war, aber einer alteingesessenen Berliner Familie entstammte, die schon viele Kriminalbeamte hervorgebracht hatte: Peer Kappe. Seine Kollegin Mia Maximilian hatte dagegen in ihrem Stammbaum nur Arbeiter aus dem Lausitzer Braunkohletagebau und Verkäuferinnen von HO und Edeka aufzubieten.

Am Montagvormittag kam Peer Kappe bei der allgemeinen Lagebesprechung schnell zum Kern des Ganzen.

»Irgendwer hat, aus welchen Motiven auch immer, das Theatermesser der Truppe um Horst Bosetzky gegen ein echtes Messer ausgetauscht. Zu eurer Information: Ein Theatermesser hat einen massiven Holzgriff und eine stumpfe Klinge aus Metall, welche im Griff verschwindet und mittels einer Feder wieder aus dem Griff herausgedrückt wird. Es sieht einem Dolch sehr ähnlich – und gegen einen echten Dolch ist es auch ausgetauscht worden. Der Schauspieler Fabio Sullenschin, der den tödlichen Stich ausgeführt hat, Horst Bosetzky, der Stückeschreiber und Regisseur, und alle anderen geben an, nichts vom Austausch der Messer bemerkt zu haben. Im Halbdunkel des Raums hinter der Bühne kann vieles geschehen sein.«

»Jeder der über dreihundert Besucher der Kriminacht könnte es also gewesen sein?«, kam eine Frage aus den hinteren Reihen. »Habt ihr denn die Personalien aller Anwesenden feststellen können?«

»Nein, der Ruf ›Niemand verlässt den Saal!‹ kam erst, als viele die Humboldt-Bibliothek bereits in Panik verlassen hatten.«

»Na, wunderbar!«

»Dann müsst ihr, Kollegin Maximilian, Kollege Kappe, alles routinemäßig angehen, alle abklopfen, die Schloppe persönlich gekannt haben und ein Motiv gehabt haben könnten. Und hört euch um, ob unter den Besuchern oder den Schauspielern ein Psychopath gewesen sein könnte!«

Zurück in ihrem Büro, überlegten sich Peer Kappe, Mia Maximilian und die Kolleginnen und Kollegen ihrer Mordkommission ihre nächsten Schritte und notierten sie mit einem blauen Filzer an ihre Tafel:

1. Alle Geschäfte abklappern und im Internet nachforschen, wo es Messer gibt, die einem Theatermesser täuschend ähnlich sehen. Herausfinden, ob jemand eines gekauft hat, der bei der Kriminacht war.

2. Nach dem verschwundenen Theatermesser suchen.

3. Mit Bosetzky sprechen.

4. Mit Lexa Krojanke sprechen.

5. Mit Fabio Sullenschin sprechen.

6. Die Namensliste der Kartenvorbestellungen für die Kriminacht auf verdächtige Personen prüfen.

»Die drei Gespräche übernehmen Mia und ich«, entschied Peer Kappe und fixierte sein restliches Team. »Nach dem Käufer des Messers zu suchen und das Abchecken der Besucher ist euer Bier. Viel Spaß und Erfolg dabei!«

Zuerst fuhren sie zu Bosetzky, der in der Nähe des Bundesplatzes wohnte, was vom Dienstgebäude in der Keithstraße (Landeskriminalamt Berlin, LKA 1, Delikte am Menschen) nur einen Katzensprung entfernt war.

»Meine Oma kennt ihn von seinen Familienromanen her«, sagte Mia Maximilian. »Ich selbst aber habe von ihm noch nichts gelesen. Kein real existierender Kriminalbeamter ist ja so bekloppt, Kriminalromane zu lesen.«

Peer Kappe lachte. »Ich habe in der Reihe ›Es geschah in Berlin‹ alles von ihm gelesen, da setzt er nämlich zwei meiner Ahnen, Hermann und Otto Kappe, ein Denkmal.«

»Wenn das so ist, dann müsste man dich wegen Befangenheit von dem Gespräch mit ihm ausschließen, denn auch er könnte ja der Täter sein.«

»Bitte, Mia, da geht wohl deine Fantasie etwas mit dir durch!«

»Wieso denn das? Seine große Zeit ist vorbei. Keiner spricht mehr von ihm. Ich habe bei den Zwischenbuchhändlern, den sogenannten Barsortimenten, angerufen: Seine Auflagenhöhen befinden sich im steilen Sinkflug. Ich habe mich bei seiner Bank erkundigt: Er ist hoch verschuldet. Und nun? Wegen der Geschehnisse bei der Reinickendorfer Kriminacht schreiben alle Zeitungen etwas über ihn, ist er auf allen Sendern zu hören und sitzt in allen Talkshows. Seine PR-Werte schnellen in die Höhe, plötzlich ist er wieder wer, man kauft seine Bücher, er kann seine Schulden abzahlen.«

Peer Kappe musste zugeben, dass das alles sehr überzeugend klang, zumal er beim Betreten der Bosetzky’schen Wohnung im Stillen dachte, dass mancher Hartz-IV-Empfänger luxuriöser eingerichtet war.

Bosetzky grinste, als sie in seinem Arbeitszimmer Platz genommen hatten. »Ich weiß, was Sie denken, aber meine Wohnung ist im Stil von Heinrich Zille eingerichtet, sehr verkramt und wenig bourgeois. Ich bin nun mal ein alter Linker von der FU. Auch mein Motiv, das Theatermesser ausgetauscht zu haben, wird Ihnen einleuchten: Ich bin in den Medien, also bin ich. Der Mann, der sich am Schreibtisch mindestens fünfzig Morde ausgedacht hat, ist nun selbst ein Mörder geworden. Das ist schwer zu toppen.« Er sah Mia Maximilian und Peer Kappe nacheinander an. »Und was hat die Kriminalpolizei nun zu meiner Verteidigung hervorzubringen?«

Peer Kappe ging auf das Spielchen ein. »Erstens, dass es noch eine Reihe anderer Tatverdächtiger gibt, und zweitens, dass wir auf der Mordwaffe nur die Fingerabdrücke von Fabio Sullenschin gefunden haben.«

»Gott, der Arme!«, rief Bosetzky. »Ich bin seit Jahren mit ihm befreundet und fühle mich jetzt mitschuldig daran, dass sie ihn zur stationären Behandlung in die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik gebracht haben. Er hat unwissentlich seinen besten Freund erstochen, und das erträgt keiner.«

Mia Maximilian wollte das Gespräch etwas von seiner emotionalen Höhe herunterholen und bemühte sich ostentativ um Gelassenheit. »Herr Bosetzky, haben Sie mit Ihrer schriftstellerischen Fantasie eine Idee, wer die Messer vertauscht haben könnte?«

»Hm …« Bosetzky dachte nach. »Hätte ich mir diesen Fall ausgedacht, wäre der Täter ein Besucher der Kriminacht, der psychisch gestört ist, schon lange selber einen Mord begehen wollte, es aber aus vielerlei Gründen nicht geschafft hat. Nun aber ist ihm die Idee gekommen, den armen Sullenschin stellvertretend für ihn die Tat ausführen zu lassen.«

Peer Kappe schüttelte den Kopf. »Wie soll er das mit dem Theatermesser denn gewusst haben?«

»Ganz einfach, Herr Kommissar: Wir haben ab 16 Uhr auf der Bühne geprobt, da kann er alles gesehen haben, denn zu dieser Zeit hatte jeder ganz normale Benutzer der Bibliothek noch Zugang zur Ausleihe. Und dann hatte er über drei Stunden Zeit, sich ein echtes Messer zu beschaffen und es gegen das Theatermesser auszutauschen.«

Mia Maximilian nickte. »Zeit genug, durch ganz Berlin zu streifen und sogar mit der S-Bahn ins nahe Umland zu fahren, um sich ein Messer zu kaufen …«

Die beiden von der Mordkommission sahen sich an und waren sich einig, dass bei Bosetzky nun nichts mehr zu holen war und sie zu Lexa Krojanke fahren sollten, die in der Charlottenburger Mommsenstraße wohnte.

»Ist es für eine Schauspielerin von großem Vorteil, wenn sie einen Namen hat, der außergewöhnlich ist und den sich alle gleich einprägen?«, fragte Mia Maximilian auf dem Weg dorthin.

Peer Kappe lachte. »Klar. Du würdest mit deinem Namen eigentlich auch in die TV-Serie ›Gute Zeiten, schlechte Zeiten‹ gehören und nicht in eine Mordkommission.«

Als sie dann die Maisonette von Lexa Krojanke betraten, sah es dort genauso aus wie bei all den Möchtegern-Prominenten, die Mia Maximilian aus der Fernsehreihe »Das perfekte Promi Dinner« kannte: normierte Originalität pur. Sie kannte etliche Backwarenfachverkäuferinnen, die hübscher waren als Lexa Krojanke und einen wesentlich höheren IQ hatten.

Man setzte sich, als sich die beiden Kripoleute vorgestellt hatten, und die Schauspielerin war es, die die erste Frage stellte.

»Sie sind wegen dem Mord an Jannek hier?«

Peer Kappe zuckte unwillkürlich zusammen, zum einen, weil es natürlich »wegen des Mordes« heißen musste, und zum anderen, weil er diese Frage selten dämlich fand und am liebsten mit »Nein, wegen eines Autogramms von Ihnen« beantwortet hätte. Er konnte sich aber noch rechtzeitig bremsen. »Ja, wegen Herrn Jannek Schloppe. Es ist schrecklich für Sie, aber …«

Weiter kam er nicht, denn die Schauspielerin brach in Tränen aus. »Schrecklich, denn Jannek und ich …« Sie stockte.

Mia Maximilian hakte sofort nach. »Jannek und Sie, Sie waren einmal miteinander liiert?«

»Ja, wir wollten auch heiraten, bis er dann mit dieser Mistbiene aus München was angefangen hat.«

Sie nannte noch Namen und Adresse, aber da die Dame gerade zu Dreharbeiten in Mexiko weilte, spielte das im Augenblick keine Rolle. Lexa Krojanke aber stand plötzlich unter Mordverdacht: Aus Rache konnte sie die Messer vertauscht haben. Wie kaum ein anderer hatte sie die Gelegenheit dazu gehabt. Ob sie das echte Theatermesser mit nach Hause genommen hatte? Reichte dieser Verdacht aus, eine Hausdurchsuchung zu beantragen? Nein. Peer Kappe beschloss, das Gespräch erst einmal zu beenden, aber es konnte nicht schaden, sie noch ein wenig unter Druck zu setzen. Vielleicht verlor sie die Nerven und beging einen entscheidenden Fehler.

Mia Maximilian schien seine Gedanken erraten zu haben und kam ihm zuvor. »Wissen Sie, Frau Krojanke, für uns Kriminalisten ist ja das Motiv immer das A und O. Und wenn Sie Herrn Schloppe möglicherweise gehasst haben, weil er Sie verlassen hat, dann …«

»Dieser Verdacht ist ja eine ungeheuerliche Verleumdung!«, schrie die Schauspielerin. »Verlassen Sie auf der Stelle meine Wohnung! Ich werde meinen Anwalt einschalten.«

Als Peer Kappe und Mia Maximilian wieder unter auf der Mommsenstraße in ihrem Wagen saßen, fragten sie sich, ob dieser Ausbruch einem Geständnis gleichzusetzen sei oder nur dem Temperament der Diva geschuldet war, konnten sich aber nur auf ein dickes Fragezeichen verständigen.

Nun ging es nach Wittenau zur Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, zu Bonnies Ranch, wie die Berliner sagten. Dort konnten sie mit ihren Dienstausweisen nur wenig Eindruck schinden und wurden von Pontius zu Pilatus geschickt, bis sie endlich Dr. Christian Kühl gegenübersaßen.

»Tut mir leid, aber ich kann Ihnen leider nicht gestatten, mit Herrn Sullenschin zu sprechen«, erklärte der Arzt ihnen. »Der Mann ist schwer traumatisiert, schließlich hat er einen seiner besten Freunde getötet. Ein Gespräch mit Ihnen würde nur die frische Wunde wieder aufreißen. Jetzt hat er sich in einen ›besonnenen Dämmerzustand‹ geflüchtet, wie wir das nennen, das heißt, er verfolgt ein irreales, traumhaftes Ziel, das ihn ganz erfüllt, ohne nach außen groß aufzufallen – nämlich das Ziel, seinen Freund Jannek Schloppe wieder zum Leben zu erwecken. So unternimmt er mit ihm Ausflüge in die Mark Brandenburg, und sie treten zusammen in einer neuen TV-Serie auf: ›Mach dein Glück! Geh nach Berlin!‹ Alles ist bei ihm begleitet von heftigen Affektstörungen. Sehen Sie einmal!«

Der Psychiater führte sie zum Fenster und zeigte zum nahen Park hinunter, wo Sullenschin gerade mit schleppendem Gang auf eine Bank zuhielt. Sein Gesicht war verzerrt wie bei einer heftigen Schmerzattacke, seine Hände zitterten.

»Der Ärmste!«, stieß Mia Maximilian hervor.

»Hat er denn mit Ihnen über die Tötungsszene auf der Bühne gesprochen?«, wollte Peer Kappe wissen.

Dr. Christian Kühl verneinte. »Daran kann er sich nicht mehr erinnern, wir sprechen in diesem Falle von einer emotional begründeten Amnesie. Wir haben bei ihm auch Schlafstörungen, Magenbeschwerden mit einer Anacidität, eine Herzbeengung und eine Neigung zur Ohnmacht diagnostiziert.«

Kaum hatte er das ausgesprochen, kippte Sullenschin nach rechts weg, und Dr. Christian Kühl eilte nach unten, um ihn ins Leben zurückzuholen.

Schweigend fuhren Peer Kappe und Mia Maximilian zurück ins Landeskriminalamt. Dort kam einer ihrer Mitarbeiter auf sie zu.

»Hallo! Wir haben in der Zwischenzeit weder das verschwundene Theatermesser gefunden noch den Käufer des echten Messers entdeckt, sind aber dafür unter den Besuchern auf einen gewissen Timon Tütz gestoßen, der den Organisatoren im Bezirksamt Reinickendorf diese E-Mail hier geschickt hat: Schluss mit dieser Scheißkriminacht, Schluss mit dieser Unkultur! Krimis machen die Menschen nur zu Tätern, sie gehören verboten! Ich werde demnächst ein Zeichen setzen!« Nach einer kurzen Pause fügte der Mitarbeiter hinzu: »Das ist schon der Zweite, der reif ist für die KBoN.«

 

»Das sind wir doch alle, die wir schon länger in Berlin leben«, antwortete Peer Kappe lakonisch.

Timon Tütz wohnte am Medebacher Weg, nahe der Fußgängerzone Alt-Tegel. Bis zum Tatort Humboldt-Bibliothek waren das nur wenige Hundert Meter, vom Landeskriminalamt aber brauchten sie laut Google Maps für 12,6 Kilometer 28 Minuten, wenn sie über Wedding fuhren. Sie schafften es trotz der Hauptverkehrszeit in 29 Minuten und standen dann vor einem Mietshaus, dessen Fassade Mia Maximilian ausrufen ließ: »Und da heißt es immer, nur in der DDR habe es Plattenbauten gegeben!« Auf dem Klingelklavier gab es tatsächlich den Namen Tütz, doch als sie auf den entsprechenden Knopf drückten, blieb die Gegensprechanlage stumm.

Peer Kappe sah auf seine Armbanduhr. »17.32 Uhr. Selbst wenn Timon Tütz berufstätig sein sollte, müsste er langsam zurück sein.«

Doch der kam und kam nicht, und als sie eine Nachbarin nach ihm fragten, bekamen sie die Antwort, dass er am Morgen verreist sei, ohne ihr aber zu sagen, wohin.

»Das sieht ganz nach Flucht aus«, stellte Mia Maximilian fest.

*

Ein halbes Jahr mochte seit der in vielerlei Hinsicht unvergesslichen Reinickendorfer Kriminacht ins Land gegangen sein, da sollte ich Fabio Sullenschin wiedersehen, wenn auch nicht face to face, sondern auf dem Bildschirm: in der ersten Folge der neuen TV-Serie »Mach dein Glück! Geh nach Berlin!« Er hatte die Hauptrolle bekommen, und das Ganze war in den Medien mit einem wahnsinnigen Bohei bedacht worden. Überall hörte und sah man Sullenschin oder las etwas von ihm und über ihn. A star was born. Ab und an tauchte dabei auch mein Name auf, und wegen meiner narzisstischen Bedürftigkeit war mir das durchaus nicht unangenehm.

Dann kam der Anruf von Peer Kappe.

»Lieber Herr Bosetzky, wegen Ihrer alten Verbundenheit mit dem Hause Kappe, aber auch weil sie ja in den Mordfall Jannek Schloppe selbst so stark involviert sind, will ich Ihnen schon vorab mitteilen, was Sie morgen in der Zeitung lesen können: Wir haben den wahren Mörder Schloppes gefunden und auch schon sein Geständnis vorliegen. Nun raten Sie einmal, wer es war?«

»Dieser Timon Tütz?«

»Nein.«

Ich riet weiter. »Lexa Krojanke?«

»Nein.«

Ich gab auf. »Dann der große Unbekannte?«

»Wieder: nein.«

Ich wurde langsam ungeduldig. »Dann verraten Sie’s mir endlich!«

Er zögerte seine Antwort so lange hinaus, wie sie es im Fernsehen bei den Endausscheidungen ihrer Castingshows immer machten.

»Der Mörder ist … Fabio Sullenschin!«

»Nein!«, stieß ich hervor.

»Doch!«, kam es von Peer Kappe. »Er hat es getan, um die Hauptrolle in ›Mach dein Glück! Geh nach Berlin!‹ zu bekommen. Da ging es zuletzt nur noch darum: Jannek Schloppe oder Fabio Sullenschin.«

»Aber er war doch in der KBoN!«, wandte ich ein.

Peer Kappe lachte. »Ja klar, aber das arme Opfer hat er nur gespielt. Wozu ist er ein so blendender Schauspieler!«

»Und wie sind Sie auf ihn gekommen?«, wollte ich abschließend wissen.

»Ein Haushaltswarenhändler in Bochum hat ihn auf dem Bildschirm wiedererkannt. Bei dem hat er vor Jahren, als er bei den Ruhrfestspielen zu Gast war, die Tatwaffe gekauft.«

»Klar, alte Weisheit«, schloss ich. »Es ist nichts so fein gesponnen, es kommt doch ans Licht der Sonnen.«