Neues vom Tatort Tegel

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Sie drehte sich um und guckte über die Schulter, wahrscheinlich zu einem Spiegel, den ich nicht sehen konnte. Richtige Tanzschritte machte sie, ganz kleine, zierliche, auf der Stelle, vielleicht zu der Musik aus dem Radio, die ich nicht hören konnte. Nach einer Weile hörte sie auf zu tanzen. Sie nahm von irgendwo eine kleine Schere und schnitt das Preisschild ab, ohne den BH dafür auszuziehen. Aber ich war nicht enttäuscht. Ich war so fasziniert, dass ich kaum bemerkte, dass mir Papier und Tabakkrümel einfach aus der Hand gefallen waren. Scheiß auf die Zigarette!

Sie zog ihren dunklen Rock aus. Der Reißverschluss war links an der Seite, nicht hinten. Sie ging in eine Ecke und kam mit einer hellen Hose wieder an dieselbe Stelle, wo sie vorher gestanden und getanzt hatte. Wahrscheinlich ist das der beste Fleck im Zimmer, wo sie sich gut im Spiegel sehen kann. Sie trug einen weißen Tanga, so eine Art Nichts mit Spitze, ein winziges Dreieck vorne, um die Taille und hinten nur ein Faden wie Zahnseide. Im Freibad sind diese Dinger in diesem Jahr aus der Mode. Da waren die letzten Jahre besser.

Ihr Po beim Bücken, als sie in die Hose stieg! O Mann! Ich meine, im Freibad, die Mädchen wissen ja, dass alle zugucken, wenn sie sich zum Handtuch bücken, wenn sie aus dem Wasser oder von der Dusche kommen. Die wissen ganz genau, wie sie sich bewegen. Die wollen die Kerle anwichsen, ist doch klar. Aber wehe, man kommt ihnen dann wirklich zu nahe! Als ob man ein Triebtäter wäre oder so was. Einen anmachen und dann Ohrfeige, das macht den Weibern Spaß. Aber sie? Sie hatte doch keine Ahnung, dass ihr jemand zuschaut. Und trotzdem bewegte sie sich genau wie die Mädchen im Freibad. Sie ist einfach sexy, von Natur.

Sie probierte noch eine dunkle Hose, zog sie aber ganz schnell wieder aus und stieg wieder in die helle. Alles so, dass ich es ganz genau sehen konnte, nur von ein bisschen weit weg eben. Klar, das sind immerhin gut zwölf, vielleicht fünfzehn Meter von hier bis ins Zimmer. Jedesmal, wenn sie den Reißverschluss hochzog, stieg sie auf die Zehen und zog den Bauch ein. Dabei ist sie doch schlank. Ob sie Sport treibt? Ich glaube, ihr Bauch muss ganz weich sein. Nachgiebig und doch auch fest und glatt wie Seide.

Dann ging plötzlich alles sehr schnell. Sie streifte eine hellblaue Bluse über, knöpfte sie flink zu, zog dunkelgelbe Gardinen vor das breite Fenster und die Balkontür, und gleich darauf ging das Licht aus. Inzwischen war es ganz dunkel geworden, und der Regen setzte ganz leicht wieder ein. Alles blieb dunkel. Es war still im Wald. Das war schön, so allein im dunklen Wald. Der Niesel machte kaum Geräusch auf den Blättern. Ich war wie benommen, aber auch irgendwie glücklich. Ich nahm den letzten Bus in die Stadt.

Das war im vorigen Herbst, am 21. September, um genau zu sein. Das hätte ich mir nicht aufzuschreiben brauchen, das hätte ich mir auch so gemerkt. Aber ich habe alles aufgeschrieben. Ein Tagebuch, ihr Tagebuch könnte man sagen, auch wenn sie nichts davon weiß. Ich sag mal: unser Tagebuch. Aber davon wird sie nie erfahren. Ich meine, ich zerreiße alles, was ich da reinschreibe, nach ein paar Tagen, damit es niemand findet. Aber dann habe ich schon alles im Kopf und kann es von Anfang bis Ende abrufen. Das ist aufregend, jedesmal neu, obwohl ich alles in- und auswendig kenne. Das ist wie bei den Videos oder DVDs, die ich immer wieder gucken kann, obwohl ich genau weiß, was im nächsten Moment passiert. Da kann man sich dann schon vorher drauf freuen. Früher habe ich manchmal schnell vorgespult, um an die richtigen Stellen zu kommen, so wie man sich in Büchern die richtigen Stellen sucht. Aber dann kriegt man den Film oder die Geschichte gar nicht als Ganzes richtig mit, eben nur die Stellen. Vielleicht weil der Film oder das Buch als Ganzes uninteressant sind, nur eben die bestimmten Stellen nicht. Das Tagebuch wiederhole ich mir immer ganz genau, Wort für Wort, aber manchmal ändere ich auch etwas, das mir nicht mehr so gefällt. Dann wird es noch aufregender.

Ich habe mir nach dem nächsten Ersten ein Fernglas gekauft, so ein kleines, lichtstarkes für die Jackentasche. Das ist gut. Ich bin ihr dann einfach näher, fast als wäre ich im Zimmer, nur der Ton fehlt. Eine gute Videokamera müsste man sich leisten können, aber die ist nicht drin. Außerdem bin ich nicht sicher, ob das wirklich so toll wäre. Ich finde, so mit Aufschreiben und abends wieder lesen, auswendig lernen und dann davon träumen und alles noch ein bisschen ausschmücken, das ist besser.

Überhaupt bin ich richtig professionell geworden, um es mal so zu sagen. Ich habe mir dunkle Klamotten besorgt, die stehen mir sowieso gut. Ich gehe immer einen etwas anderen Weg zu meinem Posten am Hang, damit ich keinen Trampelpfad zwischen den Holunderbüschen austrete. Meistens sowieso von der Autobahnseite her, da sieht mich erst recht keiner. Ich verstecke die Glut meiner Zigarette in der hohlen Hand, selbst wenn ich irgendwo anders bin, so sehr ist mir das in Fleisch und Blut übergegangen. Ich weiß längst, wann die Kinder aus den Nachbarhäusern abends nach Hause müssen. Sie bekommen mich nicht zu sehen, aber ich weiß eine Menge über sie. Sie spielen gern in den Büschen, manchmal finde ich da Spielsachen von ihnen. Die lege ich dann auf meinem Heimweg unten an die Straße, damit sie sie finden und nicht in den Büschen danach suchen. Ich sammle meine Kippen immer sorgfältig ein, damit sie nichts spitzkriegen. Kinder sind schlauer, als man denkt. Außerdem würde das viele Nikotin den Büschen bestimmt schaden, wenn es durch den Regen ins Erdreich käme, könnte ich mir vorstellen.

So viel Glück wie am ersten Abend hatte ich bisher nicht wieder, aber irgendwas ist immer. Ich hab sie schon im Nachthemd gesehen oder wieder nur in Unterwäsche, alles so was, aber meistens sind das nur so Kleinigkeiten. Die würden niemand was bedeuten. Mir schon. Ich bin einfach froh, sie zu sehen, wie sie sich in ihrer kleinen Wohnung bewegt, sich ihr Abendbrot auf einem kleinen Tablett reinbringt, solche Sachen. Sie isst mit dem Tablett auf den Knien und sieht dabei die Tagesschau oder einen Vorabendkrimi. Wie Prinzessin Diana. Die hat auch mit dem Tablett auf den Knien ferngesehen, habe ich mal gelesen. Sie geht fast nie spät ins Bett, ich kriege immer noch den letzten Bus.

Sie heißt Kerstin Schmalstieg. Das steht am Klingelschild. Sie arbeitet in einer Rechtsanwalts- und Notariatskanzlei ganz in der Nähe vom Amtsgericht. Freitags geht sie manchmal mit ein, zwei Freundinnen oder Kolleginnen nach der Arbeit ins Café Döhring. Dann sind sie sehr albern und lachen fast die ganze Zeit. Ich sehe das von draußen, weil ich mich nicht an einen Nebentisch setzen will, um zu lauschen. Das macht man nicht. Außerdem will ich nicht, dass sie mich bemerkt. Ich meine, bis jetzt hat sie mich nicht bemerkt – aber wenn sie mich bemerkt, also wenn sie irgendwie Verdacht schöpft, dann ist doch alles aus, oder? Dann zieht sie die Vorhänge zu. Ist doch klar. Ich meine, ich will ihr nichts Böses, echt nicht, ich will sie doch nur sehen und von ihr träumen. Ihr einfach ein bisschen nah sein. Aber sie würde sicher die Vorhänge zuziehen, das ist klar.

Einen festen Freund hat sie nicht. Darüber bin ich einerseits froh, andererseits auch nicht. Mit ihren Freundinnen geht Kerstin samstags in Discos, meistens ins »Downstairs«. Da gehe ich nicht mit rein, weil die einen horrenden Eintritt verlangen. Ich würde sie gern tanzen sehen, so richtig wild und ausgelassen, dass die Haare fliegen und sie ihre Bluse durchschwitzt, nicht nur so ganz verhalten wie am 21. September vorm Spiegel, obwohl das auch ganz irre war, so anmutig, so in sich versunken. Also, sie mal richtig wild zu sehen, das wäre schon was, aber ich kann da nicht reingehen, nicht nur wegen dem Eintritt, sondern weil es mich verrückt machen würde, wenn sie da mit anderen Kerlen tanzt und die mit ihr flirten und so.

Weil manchmal bringt sie in ihrem grünen Fiesta einen Kerl aus dem »Downstairs« mit nach Hause. Ich habe dann längst Posten bezogen, obwohl man nie weiß, wie lange man warten muss. Meistens ist der letzte Bus dann schon weg, und ich muss mit dem ersten am Morgen fahren, aber ich warte trotzdem immer. Ich bin treu. Sie hat noch nie zweimal denselben mitgebracht. Sie ist keinem treu. Ich meine, das ist doch leichtsinnig. Sogar gefährlich. Aber für mich lässt das andererseits alles offen, oder? Denn wenn sie einen festen Freund hätte, so eine richtig gute Beziehung, das wäre auch schlecht. Ich meine, für mich. Dann könnte ich mir gar nichts mehr ausrechnen, oder?

Sie zieht die Vorhänge zu, wenn sie einen dabeihat. Das tut sie sonst nie. Ich bin dann sehr eifersüchtig. Richtig unglücklich. Und gleichzeitig macht mich der Gedanke ganz geil, dass die beiden da oben hinter den Vorhängen sind und was sie so machen miteinander. Das Licht macht sie in solchen Nächten sofort aus, so als wollte sie den Kerl gar nicht sehen, den sie dahat. Ich meine, klar, Kerstin ist von Natur aus sexy, sie braucht das ab und an, wer nicht? Und von mir weiß sie ja nichts. Da kann ich ihr echt keinen Vorwurf machen, aber verrückt macht es mich trotzdem, wo ich doch der Kerl sein könnte, wenn sie was von mir wüsste. Aber dann müsste das Licht an bleiben. Ich will sie immer sehen. Ich liebe sie. Das Gefühl verzehrt mich. Ich liebe sie sehr. Sie ist … entzückend. Sie ist … einfach Wahnsinn.

Das mit dem Klauen hat sich übrigens nicht wiederholt. Vielleicht war das im September Anfängerglück, jedenfalls keine Routine durch Gewohnheit. Kerstin sieht wenig fern. Sie liest viel, so richtig dicke Schinken wie Ken Follett und so oder Bücher über gesunde Ernährung und Fitness. Ihr Fiesta ist alt und oft zur Reparatur. Dann fahren wir zusammen im Bus. Einmal hätte ich sie beinahe angesprochen. Aber sie hat so an mir vorbeigeguckt. Als ob ich unsichtbar wäre. Es ging einfach nicht, selbst wenn sie geguckt hätte. Was hätte ich schon sagen sollen? Hallo, Kerstin, du kennst mich nicht, aber ich kenne dich besser als deine Mutter, denn ich beobachte dich seit einem Dreivierteljahr? Aber selbst wenn mir was eingefallen wäre: Sie hat mich einfach nicht gesehen.

 

Manchmal denke ich wirklich, mich sieht sowieso keiner. Also mache ich ihr auch keinen Vorwurf. Das ist schon seit meiner Kindheit so, im Kindergarten, in der Schule, auch zu Hause. Mutter vor allem, die konnte alles und jeden ignorieren, wenn sie wollte. Hat einfach auf stur geschaltet und Löcher in die Luft geguckt. Selbst wenn man ihr fast ins Gesicht gekrochen ist wegen einem Lutscher oder später, ob man abends noch länger weg darf. Und Vater hat sich ihr angepasst, der arme Kerl. Ihm war alles egal, was nicht mit Sport zu tun hatte. Später hat er sich totgesoffen. Schön ist das sicher nicht, wenn man immer übersehen wird, das muss ich schon sagen, aber man kann’s überleben, ohne Schaden zu nehmen. Das sieht man ja an mir. Andererseits kein schlechter Gedanke, unsichtbar sein zu können, wenn man’s braucht. Was man dann für Möglichkeiten hätte! Aber das ist natürlich nur so eine Fantasie.

Zum Rauchen geht Kerstin auf den Balkon. Sie raucht wenig. Zwei, vielleicht drei an einem Abend. Am Sonntagmorgen auch mal gleich nach dem Frühstück und noch vor dem Duschen. Das sind Glücksmomente für mich. Oft, so wie eben gerade, ist sie dann nur im Bademantel, so einem dünnen weißen aus Plüsch, der nur bis kurz übers Knie reicht. Ich denke immer, drunter hat sie nichts an. Das zu denken macht mich unheimlich an. Ich meine, vielleicht hat sie doch etwas an unterm Bademantel, aber das ist nicht so wichtig. Wichtig ist, dass ich denke, sie hat vielleicht nichts an. Das sind so meine Lieblingsstellen im Tagebuch.

Gerade ist sie wieder rein. Wie immer, wenn es einigermaßen warm ist, lässt sie die Tür einen Spalt offen. Jetzt kann ich rauchen. Die Zigarette in der hohlen Hand, dass man die Glut nicht sieht in der Dämmerung. Einundzwanzig Uhr dreißig. Es wird bald ganz dunkel sein. Sie haut sich jetzt mit ihrem Schmöker in den Sessel, trinkt vielleicht einen Schluck Weißwein dazu. Ich sehe dann stundenlang nur ihren Haarschopf und manchmal eine wippende Fußspitze. Ich denke, dann ist sie in einer ganz anderen Welt, ganz weit weg. So wie ich in meiner ganz eigenen Welt bin, wenn ich in meinen Gedanken unser Tagebuch durchgehe und umschreibe.

Aber das ist etwas für meine einsamen Stunden, das will ich jetzt nicht tun. Unten machen sie spätestens um zehn das Licht aus, die alten Mertens gehen immer früh zu Bett. Vielleicht schaffe ich es heute, auf Kerstins Balkon zu klettern. Das hatte ich schon ein paarmal vor, habe mich aber nie wirklich getraut. Aber heute will ich. Dann werde ich ihr doch viel näher sein. Und ich denke, sie will das auch. Alle wollen jemanden, der ihnen nahe ist, nicht nur mal für eine Nacht, sondern für lange. Für immer. Aber wenigstens ab und an. Deswegen geht sie doch in die Disco, oder? Diese Scheißkerle! Wenn da auch nur ein Guter drunter gewesen wäre, wäre Kerstin schließlich auch nicht mehr allein. Ich bin ihr treu. Nur weiß sie nix davon.

Ich denke, heute kann ich es schaffen raufzuklettern. Ich muss mich nur zusammenreißen. Einmal muss es ja doch sein. Das Regenrohr ist fest, das habe ich getestet. Ich meine, ich will sie nicht erschrecken, ich doch nicht. Ich liebe sie doch. Ich werde warten, bis sie im Bett ist und das Licht ausgemacht hat. Dann noch eine halbe Stunde, um sicher zu sein, dass sie schläft. Ich will doch nur erst einmal gucken. Ich will ihr nichts tun. Ich will sie nur sehen, wie sie da in ihrem Bett liegt. Vielleicht kann ich mal ihre Wäsche in die Hand nehmen, sie riechen und befühlen. Mehr will ich doch gar nicht.

Und wenn sie wach wird? Und wenn sie schreit? Weil sie sich erschreckt, obwohl ich sie doch liebe und nicht erschrecken will? O Scheiße! Warum ist das Leben so kompliziert? Ich will nichts Böses, aber die Leute würden bestimmt sonst was denken. Ich meine, was gehen mich die Leute an? Trotzdem, ich muss ganz vorsichtig sein, ihretwegen, aber auch meinetwegen.

O Kerstin! So lange habe ich schon gewartet. Ich kann nicht mehr warten. Sonst geht etwas kaputt in mir, das weiß ich. Also werde ich nicht mehr warten. Nur noch, bis du fertig bist mit Lesen. Und dann noch eine halbe Stunde.

MECHTILD BORRMANN
Brief an einen Sohn

Bielefeld am 22. August 2006

Christian,

schon die Anrede fällt mir schwer. Zwei Briefbögen habe ich bereits in den Papierkorb geworfen. Auf dem ersten hatte ich ganz selbstverständlich »Lieber Christian« geschrieben. Dann erschien mir dieses »Lieber« unangemessen. Auf dem zweiten Bogen stand »Geliebter Sohn«. Das fühlte sich besser an, denn es sagte nichts über dich aus, sondern nur über meine Liebe zu dir. Aber auch dieses Blatt habe ich zerrissen. Nicht, dass ich dich nicht mehr liebe, aber kaum dass ich es niedergeschrieben hatte, spürte ich deine Zurückweisung.

Du bist mir fremd geworden. Ich weiß, dass es dich schmerzt, wenn du diese Zeilen liest, aber mich trifft dieses Eingeständnis nicht weniger. Auch hier die Hürde der falsch gewählten Worte. Diese Vorsicht, mit der ich Begriffe austausche, an den Sätzen feile, um Missverständnisse zu umgehen. In Wahrheit weiß ich gar nicht, ob es dich schmerzt. Aber kann ich schreiben: Ich hoffe, dass es dich schmerzt? Ich wünsche mir, dass es dich schmerzt.

Ich sehe dich zustimmend nicken. Das würde deine Sicht unserer gemeinsamen Geschichte untermauern. Du würdest darin nicht meinen Wunsch sehen, dass ich dir gerne etwas bedeuten würde. Du würdest herauslesen, dass ich dir Schmerz wünsche. Unsere Gespräche sind, seit du fünfzehn warst, an den Formulierungen gescheitert. Damals hatte ich den Eindruck, du suchtest danach. Du suchtest die Sätze nach ihren Schwachstellen ab, um sie zu zerbrechen.

Dein Vater und ich sind immer der Meinung gewesen, dass elterliche Liebe, Bildung und ein intaktes soziales Umfeld einem Kind optimale Entwicklung garantieren. Heute bezweifle ich das!

Oh, ich höre dich sagen, dass ich es mir mit dieser Überlegung leicht mache. Dass ich versuche, mich meiner Verantwortung zu entziehen. Aber das stimmt nicht. In dem Wort Verantwortung steckt das Wort Antwort. Ich suche eine Antwort auf die Frage: Habe ich einen Mörder geboren, oder habe ich einen Mörder erzogen? Aber egal, wie die Antwort ausfällt, ich fühle mich schuldig. Meine Schuld, Christian, nicht deine. Deine ist, und das sei in aller Deutlichkeit gesagt: Du bist mit 22 Jahren ein erwachsener Mann bei geistiger Gesundheit und für deine Tat verantwortlich.

Trotzdem möchte ich es gerne verstehen.

Lass uns unsere Erinnerungen nebeneinanderlegen, aufdecken und vergleichen, wie bei einem Memory-Spiel. Erinnerst du dich an unsere Memory-Abende? Stundenlang konntest du dieses Spiel spielen. Du hast fast immer gewonnen. Manchmal hast du deinen Geschwistern geholfen, auf deinen Sieg verzichtet. »Schenk ich dir«, hast du dann zu deinem Bruder oder deiner Schwester gesagt. Ich war gerührt. Später, als deine Geschwister ohne deine Hilfe gewinnen konnten, wolltest du nicht mehr spielen.

Vielleicht finden wir auch jetzt, in unseren Erinnerungen, identische Bilder. Diese Pärchen können wir dann beiseitelegen. Diesmal geht es nicht um den größten Kartenstapel. Lass uns die Karten genauer ansehen, die sich unterscheiden. Die wir rückblickend, jeder auf seine Weise, verändert haben, um sie erträglich zu machen.

Du warst der Erstgeborene. Ein kräftiges, freundliches Kind und von einer fast stoischen Ruhe. »Was für ein liebes Kind«, hörte ich von allen Seiten. »So genügsam.«

Wenn ich dich zum Spielen in den Laufstall setzte, konntest du dich stundenlang alleine beschäftigen. Wenn ich dich abends in dein Bettchen legte, musste ich nicht bleiben, bis du eingeschlafen warst. Dein Plüschmond, in dem eine Spieluhr »Guten Abend, gut’ Nacht« spielte, reichte dir. Nur wenn du dir wehgetan hattest, warst du nicht wiederzuerkennen. Ein Anstoßen oder Hinfallen, und du hast dich über Stunden nicht beruhigt. Dein erstes blutiges Knie war eine Katastrophe. Du hast geschrien und fast bis zur Ohnmacht hyperventiliert.

Als Sebastian zur Welt kam – du warst drei Jahre alt –, ging deine Genügsamkeit verloren. Weinerlich hingst du ständig an meinem Rockzipfel. Ein halbes Jahr später kamst du in den Kindergarten, und die ersten Tage waren dramatisch. Du hast geschrien, geweint, geschlagen und dich zweimal fast ohnmächtig geatmet. Dann war es vorbei. Es ebbte nicht ab, wurde nicht nach und nach weniger, nein, es war eines Morgens einfach vorbei. Aus deiner Kindergartenzeit kann ich mich nur an einen Vorfall – kurz bevor du in die Schule kamst – erinnern. Du hattest ein dreijähriges Mädchen so verprügelt, dass es im Krankenhaus genäht werden musste, aber du zeigtest nicht das geringste Unrechtsbewusstsein. »Die hat mich geschubst«, hast du gesagt.

Du solltest dich bei dem Mädchen entschuldigen. Kein Wort kam über deine Lippen. Drei Tage musstest du am Frühstückstisch sitzen, während die anderen spielten. Dann gaben die Erzieherinnen auf. Aber du nahmst weiterhin am Frühstückstisch Platz. Als sie dich drängten, zu den anderen Kindern zu gehen, sagtest du: »Erst müsst ihr euch bei mir entschuldigen.« Diese Episode wurde noch Wochen später mit der Bemerkung »Kindermund« lachend erzählt.

Aber dir war es ernst, nicht wahr? Bitterer Ernst.

Wie sieht deine Karte zu diesem Ereignis aus? Sie zeigt dich, nicht wahr. Dich an diesem Frühstückstisch. Dein großes Leid.

War es damals schon so? Warst du damals schon ohne jede Empathie? Gab es damals schon diese Mitleidlosigkeit, die mir später unerträglich wurde?

Was hast du empfunden, als du ihr die Schlinge um den Hals gelegt hast? Hast du etwas empfunden?

Nein, nein! Ich will es gar nicht wissen.

Ich höre deinen Vorwurf, und du hast recht. Ich greife vor. Lass uns die nächste Karte aufnehmen. Vier Jahre später, in der dritten Klasse der Grundschule.

Du warst ein guter Schüler und durchaus beliebt. Aber lass uns von Jens sprechen. Erinnerst du dich an Jens? Wie sieht deine Erinnerungskarte zu Jens aus? Auf meiner Karte ist er ein Junge, der einfach zur falschen Zeit am falschen Ort war.

Es war ein Freitag. Selbst das weiß ich noch. Ihr hattet Schulschwimmen. Ihr seid um das Becken gerannt und zusammengestoßen.

Du hast ihn fast ersäuft, Christian, erinnerst du dich? Mit dem Notarzt musste er abtransportiert werden. Und wieder kein Wort von dir. Ein Schulterzucken und ein Blick, der zu fragen schien: Wieso regt ihr euch so auf?

Als man dich zur Strafe vom Schwimmunterricht ausschloss, hast du bittere Tränen vergossen.

Hier beginnt mein Wegsehen. Ich redete mir ein, es seien Tränen der Reue. Aber ich wusste es besser. Du weintest um dich. Du weintest, weil man dir unrecht getan hatte.

Dein Vater fand Erklärungen für den Vorfall. Er sprach von »über die Stränge geschlagen«. Dass du die Gefahr falsch eingeschätzt habest. Dass du noch lernen müsstest, mit deinem Zorn und deiner Kraft umzugehen. Ich glaubte ihm. Nichts wollte ich lieber als ihm glauben.

Zeig mir deine Karte zu diesem Ereignis. Sie zeigt wieder dich, nicht wahr? Einen weinenden neunjährigen Christian.

Ich finde im Verlauf von fünf Jahren ein Mädchen mit einem ausgeschlagenen Zahn, einen Jungen mit einer Platzwunde und einer Gehirnerschütterung, einen mit einem gebrochenen Schlüsselbein und das zerkratzte Auto eines Lehrers. Das hört sich so an, als würde ich mich nur an die schwierigen Augenblicke mit dir erinnern. Aber das stimmt nicht. Ich schreibe sehr bewusst »im Verlauf von fünf Jahren«, denn zwischen diesen unkontrollierten Wutausbrüchen lagen Monate mit dir, die ich niemals missen möchte.

Erst jetzt fällt mir auf, wie zurückgezogen du damals warst. Stundenlang hast du auf dem Sofa gelegen und gelesen, während ich den Haushalt erledigte. Weder mit Sebastian noch mit Svenja habe ich derart nahe und zugleich stille Stunden erlebt.

Und dann waren da die Mittwochnachmittage. Svenja hatte Klavierstunden und Sebastian Fußballtraining. Ich stellte mein Bügelbrett im Wohnzimmer auf, und wir sahen uns gemeinsam Videofilme an. Heute sind mir diese Nachmittage ein Gräuel. In den letzten Tagen habe ich häufig darüber nachgedacht, warum deine Anwesenheit damals so beruhigend für mich war. Ich komme nicht umhin zu vermuten: weil ich dich in dieser Zeit unter Kontrolle hatte.

 

Tage und Wochen gingen friedlich dahin. Ich schloss die Augen und baute darauf, dass mit zunehmendem Alter und wachsender Vernunft deine blinden Wutausbrüche verschwinden würden.

Lass uns zur nächsten Karte kommen. Die Karte, die dein Anwalt, indem er nur das Ende der Geschichte erzählte – und das auch noch geschönt –, zu deiner Verteidigung anführte.

Meine Karte heißt Sebastian.

Deine, da bin ich mir sicher, wird einen anderen Titel tragen.

Es war Oktober. Dein Vater und ich waren zusammen mit Svenja auf Omas Geburtstag. Du und dein Bruder, ihr wart vierzehn und elf, wolltet nicht mit. Als wir abends nach Hause kamen, hast du auf dem Sofa gesessen und ferngesehen. Du hattest eine Beule. Ich fragte nach deinem Bruder. Du hast mit den Schultern gezuckt und irgendetwas von »Ich bin doch nicht sein Babysitter« gesagt. Wir suchten ihn. Nach drei Stunden war ich außer mir vor Sorge und telefonierte seine Freunde ab. Inzwischen suchtest du mit. Wir schalteten die Polizei ein. Sie fanden ihn in den frühen Morgenstunden an einen Baum gebunden, Klebeband auf Augen und Mund, völlig unterkühlt und ohne Bewusstsein.

Ihr hattet herumgebalgt. Dabei bist du mit dem Kopf auf die Tischkante gefallen. Erst eine Stunde später hast du ihm die Geschichte von dem Versteck im Wald erzählt und gefragt, ob er es mal sehen wolle. Diese eine Stunde dazwischen war es, die alles veränderte. Diese Stunde und deine unschuldige Beteiligung an der Suche. Diese Stunde und dein Satz »Der hat meinen Kopf auf die Tischkante geknallt«.

Oh, ich weiß, was auf deiner Karte zu sehen ist. Ich!

Ja, ich habe dich geschlagen und angeschrien. Ich habe dich geschüttelt und gesagt, dass ich dich nie mehr sehen will. In jenen Tagen ist mir klar geworden, dass ich dich, trotz unserer wunderbaren Nachmittage, nicht kannte. Das war kein spontaner Jähzorn gewesen, Christian. Du hast dir eine Stunde Zeit gelassen. Hast einen Rucksack mit Stricken und Paketband gepackt. Was du getan hast, hatte eine neue Dimension. Es war durchdacht und grausam!

Ja, ich habe in jenen Tagen mit dir gebrochen.

Ich war dir nicht gewachsen, Christian. Du hast behauptet, wir hätten dich ein halbes Jahr später in ein Internat »abgeschoben«. Warum hast du das gesagt? Du bist von der Schule verwiesen worden, weil du einen Mitschüler mit einem Messer verletzt hattest. Du warst intelligent, und wir wollten doch nur, dass du deinen Schulabschluss bekommst. Vielleicht hatten wir auch die Hoffnung, dass eine andere Umgebung etwas ändern würde.

Seit dem Vorfall mit Sebastian hatte sich dieses schleichende Gift ängstlicher Vorsicht in unserem Haus ausgebreitet. Gespräche mit dir waren unendlich anstrengend, endeten immer im Streit. Ich konnte nichts sagen oder tun, was dir genügt hätte.

Erinnerst du dich an den Abend, an dem ich dir sagte: »Aber ich liebe dich doch.« Du hast geantwortet: »Jaja. Nicht mal das kannst du ohne ein Aber sagen.«

Obwohl du jedes Wochenende zu Hause warst, vertiefte sich der Graben zwischen uns. Jedes Bemühen meinerseits, dir wieder näherzukommen, quittiertest du mit Schweigen und einem Blick, der zu sagen schien: Das reicht nicht!

Ich überwarf mich mit Sebastian, der sich – in meinem Bemühen um dich – verraten fühlte.

Ich höre, wie ich damals argumentierte: Aber er weiß, dass er zu weit gegangen ist. Er hat daraus gelernt. Er bereut es doch.

Dabei wusste ich es besser. Wenn ich jene Zeit an mir vorüberziehen lasse, spüre ich meine Zweifel in jedem meiner Sätze. Aber ich wollte es glauben. Du warst doch mein Sohn. Ich hatte dich doch, genau wie deinen Geschwistern, Mitgefühl gelehrt. Diese überlegte Boshaftigkeit konnte nicht Teil deiner Persönlichkeit sein.

Im Internat kamst du offensichtlich gut zurecht, und deine Besuche zu Hause wurden seltener.

Ich schäme mich, das zu schreiben, aber ich war froh. Dein Schweigen zermürbte mich. Unter deinen abfälligen Blicken wurde ich ungeschickt. Ich legte meine Sätze Wort für Wort zurecht, klopfte sie auf Missverständliches ab, bevor ich sie aussprach. Wenn du sonntags ins Internat zurückkehrtest, war ich erschöpft.

Nach deinem achtzehnten Geburtstag hatten wir nur noch Kontakt, wenn du Unterschriften oder Papiere für deine BAföG-Anträge brauchtest.

Erst im Gerichtssaal habe ich erfahren, wie sehr man dich im Internat gefürchtet hat. Auch dass du während deines Studiums zweimal wegen schwerer Körperverletzung verurteilt wurdest, erfuhr ich erst dort.

Oh, ich weiß, was du jetzt sagen wirst. Wenn ich mich für dich interessiert hätte, hätte ich davon gewusst. Ich gebe dir recht. Ich habe keine Fragen mehr gestellt. Ich wollte die Antworten nicht!

Lass uns unsere letzte Karte vergleichen.

Tanja.

Ich habe sie nie kennengelernt. Zwei Jahre wart ihr ein Paar. Deine Kommilitonen beschrieben dich als extrem eifersüchtig. Die Aussage einer Flurnachbarin hat mir den Atem verschlagen. Du hast Videofilme ausgeliehen – Kinderfilme! Und dann hast du von Tanja verlangt, sie solle bügeln und mit dir die Filme ansehen.

Du hast zu mir, während die junge Frau sprach, hinübergesehen. Ganz ruhig. Ganz freundlich. So als wären die Worte der Frau ein Geschenk an mich.

Mir war übel, Christian.

Du hast Tanja, sechs Monate nachdem sie dich verlassen hatte, mit einer Angelschnur erdrosselt. Kein Affekt, Christian. Nicht der plötzlich aufwallende Zorn deiner Kindertage. Du hast sie offensichtlich tagelang, die Angelschnur in der Manteltasche bereit, verfolgt. Dann, an einem Abend, an dem sie sich alleine von der Disco auf den Heimweg machte, erkanntest du deine Gelegenheit.

Nichts hatte sich verändert. Wie nach deinem Angriff auf Sebastian hast du auch im Gerichtssaal geschwiegen. Wie damals schien dein Blick zu sagen: Sie hat mir wehgetan. Es war ihre Schuld!

Ich weine, Christian. Du wirst die nächsten acht Jahre im Gefängnis sitzen, und ich weine vor Erleichterung.

Die Welt wird in dieser Zeit sicher sein vor dir.

Du bist mein Sohn, und ich liebe dich. Ohne Aber.

Ich wünsche mir, sie würden dich bis an dein Lebensende einsperren. Und auch das ohne Aber.