Handbuch des Strafrechts

Tekst
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

3. Reformbestrebungen

113

Zum Tatbestand der Nötigung werden immer wieder Änderungsvorschläge unterbreitet. Diese Bemühungen sind zum einen dem nicht unerheblichen Grundmaß an Unbestimmtheit geschuldet, die mit einer Norm wohl zwingend einhergeht, die Freiheitsbereiche voneinander abzugrenzen und gegeneinander abzuwägen versucht. So wurden nicht zuletzt anlässlich der unklaren Reichweite des Gewaltbegriffs im Zusammenhang mit Sitzblockaden Reformüberlegungen laut, nachdem das BVerfG in seiner Sitzblockaden-Entscheidung zuvor den Gewaltbegriff eingeschränkt hatte (Rn. 12 und 37). Sitzdemonstrationen sollten demnach dadurch eindeutig als Nötigung erfasst werden können, indem in § 11 Abs. 1 StGB eine Legaldefinition der „Gewalt“, bestimmt als „die körperlich oder psychisch vermittelte, mit einem gegenwärtigen empfindlichen Übel verbundene Zwangseinwirkung“, hätte aufgenommen werden sollen.[369] Diese Gedankenspiele wurden aber nicht weiter verfolgt und dürften sich spätestens mit der Zweite-Reihe-Rechtsprechung des BGH erledigt haben, die jedenfalls im Ergebnis Sitzblockaden unabhängig von der Beurteilung der Einwirkung auf die Kraftfahrzeugführer der ersten Reihe wegen der dadurch errichteten physischen Blockade häufig als Gewalt einstufen kann (Rn. 93).

114

Zum anderen geben spezielle Konstellationen und einzelne Sachverhalte in regelmäßigen Abständen Anlass, über eine punktuelle Erweiterung der Nötigung oder über eine Erhöhung des Strafrahmens nachzudenken. Gegenstand von Diskussionen ist nicht zuletzt die Einführung einer gesonderten Regelung der Nötigung im Straßenverkehr. Insoweit löste der sog. „Karlsruher Raser“-Fall, in dem der Täter durch immer dichteres Auffahren bei hoher Geschwindigkeit auf der linken Spur einer Autobahn die vor ihm befindliche Fahrerin zu einem unkontrollierten Fahrmanöver bewegte, das in einem Unfall endete und den Tod der Fahrerin sowie deren zweijähriger Tochter zur Folge hatte,[370] eine Debatte über Strafschärfungen aus. Mitunter wurde daher vorgeschlagen, den § 240 Abs. 4 S. 2 StGB um ein Regelbeispiel zu erweitern, wenn der Täter „eine der genannten Nötigungshandlungen im Straßenverkehr begeht“[371] bzw. „die Nötigung im Straßenverkehr begeht und dadurch Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet“.[372] Schon 1988 wurde auf dem 26. Verkehrsgerichtstag in Goslar erwogen, einen speziellen verkehrsstrafrechtlichen Nötigungstatbestand zu schaffen.[373] Solchen Vorschlägen bleibt indessen entgegenzuhalten, dass Nötigungen nur aufgrund ihrer Vornahme im Straßenverkehr jedenfalls nicht generell ein erhöhter Unrechtsgehalt im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut der Willensbildungs- und Willensäußerungsfreiheit zuteilwird. Angesichts der Vielgestaltigkeit und der unterschiedlichen Intensität der möglichen nötigenden Verhaltensweisen im Straßenverkehr dürfte vielmehr fraglich sein, ob insoweit auch nur im Durchschnitt von einem erhöhten Unrechtsgehalt auszugehen bleibt, zumal die Nötigungserfolge sich häufig in Ausweichmanövern, Bremsvorgängen und sonstigen vereinzelten Fahraktionen erschöpfen. Mit diesen Thesen sollen freilich nicht die Augen vor der möglichen Gefährlichkeit von nötigenden Verhaltensweisen im Straßenverkehr verschlossen werden. Diese Gefährlichkeit betrifft indessen nicht die Willensbildungs- und Willensäußerungsfreiheit, sondern andere Rechtsgüter wie Leib oder Leben oder auch das Eigentum. In dieser Gefährlichkeit dürfte dann auch der wahre Hintergrund für Rufe nach einer schärferen Sanktionierung von Nötigungen im Straßenverkehr liegen.[374] Solchen Anliegen kann aber nicht mit Änderungen des § 240 StGB, sondern nur mit der Erweiterung entsprechender Gefährdungsdelikte wie z.B. des § 315c StGB Rechnung getragen werden. Ansonsten drohte wiederum die Nötigung zum Straßenverkehrsdelikt kleiner Münze zweckentfremdet zu werden (siehe schon Rn. 89). Sofern mit einer Nötigung im Straßenverkehr im Einzelfall wirklich auch ein intensiverer Eingriff in die Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit einhergehen sollte, kann dies hingegen innerhalb des bestehenden Strafrahmens der Nötigung ausreichend berücksichtigt werden.

115

Generell erscheint es angesichts der Vielgestaltigkeit möglicher Nötigungen schwierig, einzelne Fallkonstellationen herauszugreifen, bei denen generell ein höherer Strafrahmen angebracht sein soll. Deshalb ist auch die Ausweitung der Regelbeispiele und Auslagerung in § 240 Abs. 4 StGB durch das 6. Strafrechtsreformgesetz vom 26. Januar 1998[375] nicht ohne Kritik geblieben. Das zuvor einzige Regelbeispiel in § 240 Abs. 1 S. 2 StGB a.F. der Nötigung einer Schwangeren zum Schwangerschaftsabbruch war seinerseits erst durch das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz vom 21. August 1995[376] eingeführt worden. Nicht zu Unrecht wird kritisch hinterfragt, ob die Auswahl der einzelnen Regelbeispiele in § 240 Abs. 4 S. 2 StGB nicht willkürlich ist.[377] Bei dem Regelbeispiel des S. 2 Nr. 1 a.F., der Nötigung einer anderen Person zu einer sexuellen Handlung, kam hinzu, dass die dadurch geschützte sexuelle Selbstbestimmung als Unterfall der persönlichen Freiheit in erster Linie in den Strafvorschriften der §§ 174 ff. StGB aufgegriffen wird und die Regelung daher in § 240 Abs. 4 S. 2 StGB eher fehl am Platz war. Deshalb wurde dieses Regelbeispiel durch das Fünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs vom 4. November 2016[378] auch folgerichtig aufgehoben und soll dessen Regelungsgehalt nunmehr vollständig in § 177 Abs. 2 Nr. 5 StGB aufgehen.[379] Zu beachten ist zudem, dass gerade bei der Nötigung infolge der Vielgestaltigkeit der hiervon erfassten Sachverhalte der sachgerechte Rückgriff auf Regelbeispiele eine nicht zu unterschätzende Orientierungswirkung haben könnte.[380] Diese Funktion kann aber nur sinnvoll ausgeübt werden, wenn mehrere und nicht nur wie derzeit zwei Regelbeispiele breitgefächert verschiedene Lebenssituationen in den Blick nehmen, in denen nötigenden Verhaltensweisen grundsätzlich ein höherer Unrechtsgehalt zukommt (ergänzend Rn. 118 zur österreichischen Qualifikation der schweren Nötigung).

2. Abschnitt: Schutz der persönlichen Freiheit › § 5 Nötigung, Bedrohung und Zwangsheirat › D. Überblick über die Rechtslage in Österreich und in der Schweiz

D. Überblick über die Rechtslage in Österreich und in der Schweiz
I. Rechtslage in Österreich

1. Tatbestände zum Schutz der persönlichen Freiheit

116

Gerade bei dem Schutz der persönlichen Freiheit ist es aufgrund der Vielgestaltigkeit der strafwürdigen Handlungen und der Schwierigkeit deren Abgrenzung von ggf. sogar sozialadäquaten Verhaltensweisen interessant und mitunter auch lehrreich, einen Blick auf andere Rechtsordnungen und deren strafrechtlichen Schutz der persönlichen Freiheit zu werfen. Daher wird im Folgenden ein Kurzüberblick über die Freiheitsdelikte in Österreich und in der Schweiz und somit auf die beiden Nachbarstaaten im deutschsprachigen Raum gegeben. Im österreichischen Strafgesetzbuch sind die Freiheitsdelikte im engeren Sinn im dritten Abschnitt („Strafbare Handlungen gegen die Freiheit“) des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs der §§ 99 bis 110 öStGB geregelt. Sofern die Freiheitsbeschränkung lediglich das Mittel bildet, um einen anderen, strafbewehrten Zweck zu erreichen, und sich die Tat somit in erster Linie gegen ein anderes Rechtsgut als die Freiheit richtet, sind die insofern einschlägigen Delikte (wie etwa Raub, Erpressung, verschiedene Sexualdelikte, Störung der Religionsausübung, Wahlbehinderung oder Sprengung einer Versammlung) hingegen in den betreffenden Abschnitten des Strafgesetzbuchs verortet.[381]

117

Als die zentralen Delikte gegen die Freiheit fungieren § 99 öStGB (Freiheitsentziehung) sowie § 105 öStGB (Nötigung). Während § 105 öStGB nach h.A. die Freiheit zur Willensbildung und Willensbetätigung schützt,[382] bildet die Fortbewegungsfreiheit als Ausschnitt der Willensbetätigungsfreiheit das Rechtsgut des § 99 öStGB.[383] Im Jahr 2006 wurde der Straftatbestand der beharrlichen Verfolgung in § 107a öStGB eingefügt, der das Pendant des deutschen Nachstellungsparagraphen in § 238 StGB bildet. Für die Einordnung der Strafvorschrift in den dritten Abschnitt war der psychische Leidensdruck des Opfers von Nachstellungen maßgeblich, das deshalb unter Umständen seine Lebensgewohnheiten, den Arbeitsplatz, die Wohnung oder auch seine Kontaktdaten ändert, was als Eingriffe in die Freiheitssphäre verstanden wurde.[384] Am österreichischen Vorbild des Nachstellungsparagraphen kann übrigens aufgezeigt werden, dass der Blick auf (freilich nicht nur) benachbarte Rechtsordnungen zum Teil zu eigenen Überlegungen veranlasst und gesetzgeberische Aktivitäten fördern kann. Bei der Diskussion um die Änderung des § 238 StGB von einem Erfolgsdelikt in ein Eignungsdelikt wurde nämlich auch auf die österreichische Konzeption eines potentiellen Gefährdungsdelikts[385] verwiesen, wenngleich sich den Bundestagsdrucksachen hier nur ein recht versteckter Hinweis in Gestalt eines Verweises auf die österreichischen Gesetzgebungsmaterialien entnehmen lässt.[386] Einen eigenen Straftatbestand für das auch in Österreich in den Medien oft berichtete „Mobbing“ kennt das österreichische Strafrecht nicht. Zur österreichischen Regelung der Zwangsheirat → AT Bd. 1: Valerius, § 25 Rn. 90.

 

118

Neben dem allgemeinen Tatbestand der Nötigung in § 105 öStGB sieht das österreichische Strafrecht für Fälle der schweren Nötigung in § 106 öStGB eine Strafrahmenerhöhung vor. Dessen Absatz 1 enthält einen Qualifikationstatbestand, wenn der Täter „1. mit dem Tod, mit einer erheblichen Verstümmelung oder einer auffallenden Verunstaltung, mit einer Entführung, mit einer Brandstiftung, mit einer Gefährdung durch Kernenergie, ionisierende Strahlen oder Sprengmittel oder mit der Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz oder gesellschaftlichen Stellung droht, 2. die genötigte oder eine andere Person, gegen die sich die Gewalt oder gefährliche Drohung richtet, durch diese Mittel längere Zeit hindurch in einen qualvollen Zustand versetzt oder 3. die genötigte Person zur Prostitution oder zur Mitwirkung an einer pornographischen Darbietung (§ 215a Abs. 3) oder sonst zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung veranlasst, die besonders wichtige Interessen der genötigten oder einer dritten Person verletzt“. Diese Fälle sind an sich abschließend, wenngleich Z. 3 Var. 3 als Auffangtatbestand für die Verletzung besonders wichtiger Interessen fungiert. Hiervon sollen insbesondere familiäre, berufliche, gesellschaftliche oder materielle Interessen erfasst werden. Familiäre Interessen sind etwa betroffen, wenn eine Frau zum Schwangerschaftsabbruch oder zur Herausgabe des gemeinsamen Kindes gezwungen wird.[387] § 106 Abs. 2 öStGB normiert eine Erfolgsqualifikation, wenn „die Tat den Selbstmord oder einen Selbstmordversuch der genötigten oder einer anderen Person, gegen die sich die Gewalt oder gefährliche Drohung richtet, zur Folge“ hat. Eine Mischform mit unterschiedlichen Anforderungen an die innere Tatseite findet sich schließlich in § 106 Abs. 3 öStGB.[388] Sie setzt voraus, dass der Täter „eine Nötigung zur Prostitution oder zur Mitwirkung an einer pornographischen Darbietung gegen eine unmündige Person, im Rahmen einer kriminellen Vereinigung, unter Anwendung schwerer Gewalt oder so begeht, dass durch die Tat das Leben der Person vorsätzlich oder grob fahrlässig (§ 6 Abs. 3) gefährdet wird oder die Tat einen besonders schweren Nachteil für die Person zur Folge hat“.

2. Mittel der einfachen Nötigung

119

Als gleichwertige Nötigungsmittel benennt § 105 öStGB Gewalt und die gefährliche Drohung. Unter Gewalt ist nach gängigem Begriffsverständnis die Anwendung nicht unerheblicher physischer Kraft zur Überwindung eines wirklichen oder auch nur vermeintlichen Widerstands zu verstehen.[389] Der Gewaltbegriff in § 105 öStGB folgt somit der Körperlichkeitstheorie, wonach die Kraftentfaltung als solche und nicht die dadurch verursachte Zwangswirkung beim Opfer das maßgebliche Merkmal bilden soll.[390] Über die Intensität der Kraftentfaltung entscheidet hierbei ein objektiv-individualisierter Maßstab unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse des Opfers (z.B. ob sich die Nötigung gegen einen Erwachsenen oder ein Kind richtet).[391] Als Nötigungsziel verlangt der österreichische OGH eine willensgesteuerte Reaktion. Daher verwirklicht nach seiner Auffassung nur Gewalt im Sinne von vis compulsiva den Nötigungstatbestand.[392] Im Schrifttum überwiegt hingegen die Ansicht, nicht zuletzt aus kriminalpolitischen Gründen ebenso vis absoluta als Gewalt im Sinne des § 105 öStGB zu begreifen.[393] Nicht als Gewalt angesehen wird rein passives Verhalten wie insbesondere bei Sitzblockaden.[394] Der österreichische OGH orientiert sich zwar mitunter in der Sache an dem vergeistigten Gewaltbegriff in Deutschland,[395] was im Schrifttum jedoch vehement kritisiert wird, weil dadurch die gesetzliche Einschränkung der Nötigung auf bestimmte Nötigungsmittel bedeutungslos werde.[396] Auch rücksichtslose Fahrweisen im Straßenverkehr werden – mangels Akzeptanz des vergeistigten Gewaltbegriffs – allenfalls zurückhaltend als Nötigung eingestuft.[397]

120

Das Nötigungsmittel der gefährlichen Drohung ist – anders als die Gewalt – in § 74 Abs. 1 Z. 5 öStGB legaldefiniert. Gefährliche Drohung ist demnach „eine Drohung mit einer Verletzung an Körper, Freiheit, Ehre, Vermögen oder des höchstpersönlichen Lebensbereiches durch Zugänglichmachen, Bekanntgeben oder Veröffentlichen von Tatsachen oder Bildaufnahmen, die geeignet ist, dem Bedrohten mit Rücksicht auf die Verhältnisse und seine persönliche Beschaffenheit oder die Wichtigkeit des angedrohten Übels begründete Besorgnisse einzuflößen, ohne Unterschied, ob das angedrohte Übel gegen den Bedrohten selbst, gegen dessen Angehörige oder gegen andere unter seinen Schutz gestellte oder ihm persönlich nahestehende Personen gerichtet ist“. Diese Erläuterung bezieht sich allerdings nur auf die Gefährlichkeit einer Drohung, nicht auf die Drohung selbst. Hierunter wird die Ankündigung eines Übels verstanden, dessen Herbeiführung durch den Drohenden selbst oder durch eine Mittelsperson vom Willen des Drohenden abhängig sei.[398] Ob die Drohung entsprechend der Legaldefinition in § 74 Abs. 1 Z. 5 öStGB geeignet ist, „begründete Besorgnisse einzuflößen“, bestimmt sich nach einem objektiv-individuellen Maßstab.[399] Objektiv ist zunächst eine hinreichende Ernstlichkeit der Drohung erforderlich; die Geeignetheit der Drohung ist umso eher gegeben, umso konkreter, gravierender und einschneidender das angedrohte Übel ist.[400] Nicht zu vernachlässigen bleibt jedoch die individuelle Komponente, welche die (z.B. wirtschaftlichen) Verhältnisse und die persönliche (z.B. körperliche oder intellektuelle) Beschaffenheit oder die Wichtigkeit des angedrohten Übels berücksichtigt.[401]

3. Eingrenzung des Anwendungsbereichs der Nötigung

121

Um die unbestrittene Weite des Nötigungstatbestandes zu begrenzen, lassen sich mögliche Anknüpfungspunkte sowohl auf der Tatbestands- als auch auf der Rechtswidrigkeitsebene finden. Auf der Tatbestandsebene geschieht dies, indem etwa bei dem Nötigungsmittel der Gewalt eine körperliche Einwirkung von gewisser Erheblichkeit verlangt wird, die z.B. bei einem leichten Stoß, Anrempeln oder Wegschieben mit der Hand noch nicht erreicht ist.[402] Bei dem Nötigungsmittel der Drohung erfolgt die notwendige Eingrenzung schon durch die Voraussetzung der Gefährlichkeit der Drohung, die insbesondere Nötigungen unterhalb der Bagatellschwelle aus dem Anwendungsbereich des § 105 öStGB ausschließt.

122

Nach § 105 Abs. 2 öStGB ist die Tat „nicht rechtswidrig, wenn die Anwendung der Gewalt oder Drohung als Mittel zu dem angestrebten Zweck nicht den guten Sitten widerstreitet“. Bei dieser Klausel handelt es sich um einen besonderen Rechtfertigungsgrund,[403] der gegenüber den allgemeinen Rechtfertigungsgründen subsidiär zur Anwendung kommt.[404] Ob eine Tat sich demnach als nicht rechtswidrig erweist, wird in drei Schritten untersucht. Zunächst wird die Rechts- bzw. Sittenwidrigkeit des angestrebten Zwecks und sodann die des angewendeten Tatmittels geprüft. Sollten sich weder Zweck noch Mittel als solche als sittenwidrig erweisen, gilt es zu erörtern, ob die Verknüpfung von Mittel und Zweck als sozial unverträglich anzusehen ist.[405]

II. Rechtslage in der Schweiz

1. Tatbestände zum Schutz der persönlichen Freiheit

123

Das schweizerische Strafgesetzbuch stellt in dem vierten Titel seiner besonderen Bestimmungen (Art. 180 bis 186) „Verbrechen und Vergehen gegen die Freiheit“ unter Strafe. Ähnlich wie in Österreich enthält dieser Normenkomplex nur Freiheitsdelikte im engeren Sinne, welche die persönliche Freiheit als solche in verschiedenen Ausprägungen schützen. Taten, die sich in erster Linie gegen andere Rechtsgüter richten und nur „nebenbei“ die Freiheit beeinträchtigen, sind an einschlägigerer Stelle des schwStGB geregelt (vgl. etwa die strafbaren Handlungen gegen die sexuelle Integrität in Art. 187 ff. schwStGB, darunter der Straftatbestand der sexuellen Nötigung gemäß Art. 189 schwStGB).

124

Unter den Freiheitsdelikten im engeren Sinne sind als zentrale Vorschriften insbesondere Art. 183 schwStGB, der zum Schutz der Fortbewegungsfreiheit die Freiheitsberaubung und Entführung sanktioniert,[406] sowie der Nötigungstatbestand des Art. 181 schwStGB, welcher der Schutz der freien Willensbildung und Willensbetätigung verpflichtet ist,[407] zu nennen. Spezielle Straftatbestände der Nachstellung und des Mobbings existieren in der Schweiz nicht; zur gesonderten strafrechtlichen Sanktionierung der Zwangsheirat → AT Bd. 1: Valerius, § 25 Rn. 89. Ein beharrliches Nachstellen kann allenfalls über einen rechtlichen Umweg bestraft werden. So können gemäß Art. 28b des schweizerischen Zivilgesetzbuchs (ZGB) zum Schutz gegen Gewalt, Drohungen oder Nachstellungen Unterlassungsansprüche gegen denjenigen geltend gemacht werden, der auf diese Weise die Persönlichkeit des Betroffenen widerrechtlich verletzt. Zu den möglichen denkbaren gerichtlichen Verfügungen zählen vor allem die Verhängung eines Annäherungs-, Aufenthalts- sowie Kontaktaufnahmeverbots. Sollte gegen einen solche Verfügung vorsätzlich verstoßen werden, verwirklicht der Täter den Straftatbestand des Art. 292 schwStGB, der den Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen mit Buße sanktioniert. Einen – der österreichischen Regelung in § 106 öStGB entsprechenden oder vergleichbaren – Qualifikationstatbestand der Nötigung kennt das schwStGB nicht.

2. Mittel der einfachen Nötigung

125

Der schweizerische Nötigungstatbestand in Art. 181 schwStGB nennt – abweichend von der Rechtslage in Deutschland und in Österreich – drei Nötigungsmittel, namentlich die Gewalt, die Androhung ernstlicher Nachteile sowie die andere Beschränkung der Handlungsfreiheit. Gewalt im Sinne des Art. 181 schwStGB wird als Einwirkung auf den Körper des Menschen mit physikalisch oder chemisch fassbaren Mitteln definiert, wobei die Intensität der Gewaltanwendung geeignet sein muss, die Willensfreiheit des Opfers tatsächlich zu beeinträchtigen.[408] Das erforderliche Maß der Gewalteinwirkung bestimmt sich hierbei nach relativen Kriterien und berücksichtigt etwa Konstitution, Alter und Erfahrung des Opfers.[409] Vom Gewaltbegriff umfasst sind sowohl vis compulsiva als auch vis absoluta.[410]

126

Die Androhung ernstlicher Nachteile setzt eine psychische Einwirkung auf das Opfer voraus, indem ein Übel angekündigt wird, dessen Eintritt als vom Willen des Täters abhängig hingestellt wird.[411] Die Androhung muss ernstlich und somit objektiv geeignet sein, eine verständige Person in der Lage des Betroffenen gefügig zu machen.[412] Die subjektive Widerstandskraft des Opfers bleibt nach der Rechtsprechung unberücksichtigt.[413]

127

Als interessant im Vergleich zur deutschen und österreichischen Rechtslage erscheint das dritte Nötigungsmittel der anderen Beschränkung der Handlungsfreiheit. Zwar ist aus rechtsstaatlichen Gründen eine restriktive Auslegung dieser Generalklausel geboten, so dass hiervon nur Zwangsmittel erfasst werden, die das üblicherweise geduldete Maß der Beeinflussung ähnlich eindeutig überschreiten wie die Nötigungsmittel der Gewalt oder der Androhung ernstlicher Nachteile.[414] Als Beispiele werden insoweit das Verhindern eines öffentlichen Vortrags durch organisiertes und mit Megafon unterstütztes Niederschreien, die Bildung eines „Menschenteppichs“ sowie die Sabotage einer Bahnschranke zur Behinderung des Straßenverkehrs und die Blockade des Haupteingangs eines Verwaltungsgebäudes sowie die Blockade des Autobahnverkehrs während eineinhalb Stunden genannt.[415] Diese Beispiele zeigen, dass das Nötigungsmittel der anderen Beschränkung der Handlungsfreiheit mitunter als Auffangbecken für bisweilen als zwar ungehörig einzustufende, jedoch kaum kriminalstrafwürdige Verhaltensweisen fungiert.[416]