Handbuch des Strafrechts

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2. Nötigung(shandlung) und Nötigungserfolg

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Die Freiheitsdelikte der §§ 232 ff. StGB stellen häufig Erfolgsdelikte dar und setzen somit eine Beeinträchtigung der jeweils geschützten Freiheit voraus. Bei der Nötigung besteht dieser Erfolg in jedem Handeln, Dulden oder Unterlassen des Opfers. Handeln und Unterlassen beschreiben die Vornahme bzw. Nichtvornahme eines konkreten Verhaltens durch das Opfer, z.B. die Aushändigung eines Gegenstandes durch positives Tun (Handeln) bzw. der Verzicht darauf, einen solchen einzufordern (Unterlassen). Als abgenötigtes Handeln kann nur ein willentliches bzw. vom Willen beherrschbares Verhalten angesehen werden.[189] Ebenso setzt das Unterlassen voraus, bewusst auf eine bestehende Handlungsmöglichkeit zu verzichten.[190] Die Duldung unterscheidet sich vom Unterlassen insoweit, als sich die Untätigkeit des Opfers auf eine bestimmte Verhaltensweise des Täters oder eines Dritten bezieht, es also bestimmte (z.B. sexuelle) Handlungen geschehen lässt.[191] Insoweit ist zudem gerade kein gewillkürtes Verhalten erforderlich.[192] Aus diesem Grund erfasst § 240 StGB auch das Nötigungsmittel der vis absoluta (ergänzend Rn. 65).

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Durch die weite Fassung des Nötigungserfolgs ist im Grunde jede beliebige Reaktion des Genötigten erfasst, die der Täter hervorrufen will. Eine Einschränkung des Nötigungstatbestandes findet bei diesem Merkmal nicht statt. Darüber hinaus wird der Nötigungserfolg bei angewendeter vis compulsiva bereits dann angenommen – und liegt somit bereits eine vollendete Nötigung vor –, wenn das Opfer beginnt, sich dem Willen des Täters entsprechend zu verhalten und die von ihm gewünschte Handlung vorzunehmen.[193] Insoweit sollen zudem schon Vorbereitungshandlungen für das vom Täter geforderte Verhalten ausreichen, wenn hierin nach den Vorstellungen des Täters eine eigenständig bedeutsame Vorstufe des gewollten Enderfolgs zu erblicken ist,[194] das Opfer sich etwa die notwendigen Materialien für den vom Täter verlangten Bau eines Hauses verschafft.[195] Entsprechend gilt bei der Nötigung zu einem Unterlassen die Tat nicht erst dann als vollendet, wenn das Opfer eine bestimmte Handlung gänzlich unterlässt, sondern diese zum eigentlich hierfür vorgesehenen Zeitpunkt nicht vornimmt.[196] Für diesen frühen Vollendungszeitpunkt wird angeführt, dass bereits in diesem Augenblick die geschützte Willensfreiheit beeinträchtigt wird.[197] Ein nur kurzfristiges erzwungenes Verhalten des Opfers, das nicht Zweck, sondern lediglich Mittel ist, um das vom Täter gewollte Verhalten zu ermöglichen, genügt hingegen ebenso wenig für die Vollendung des Nötigungstatbestandes wie die nur scheinbare Mitwirkung des Opfers, um den Täter zu überführen.[198]

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Ob das Opfer das abgenötigte Verhalten noch bewusst erbringt, wird von der zutreffenden herrschenden Ansicht als unbeachtlich angesehen. Mit anderen Worten erfasst die Nötigung gemäß § 240 StGB nicht nur die willensbeugende Gewalt (vis compulsiva), bei welcher der Genötigte bewusst dem vom Täter (z.B. durch Schläge) ausgeübten Zwang nachgibt.[199] Darüber hinaus kann vielmehr ebenso die willensausschließende Gewalt (vis absoluta) den Straftatbestand der Nötigung verwirklichen.[200] So macht sich nach § 240 StGB strafbar, wer jemanden niederschlägt und dadurch bereits die Bildung eines Willens verhindert oder wer jemanden fesselt oder einsperrt, damit er seinen Willen nicht in der gewünschten Weise zu betätigen vermag.[201] Ansonsten wäre derjenige Täter privilegiert, der ein in der Regel eingriffsintensiveres Nötigungsmittel wählt und z.B. das Opfer sogleich bewusstlos schlägt.[202] Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass sich bei der Anwendung von vis absoluta das abgenötigte Verhalten auf das Erleiden der willensausschließenden Gewalt beschränke und daher der erforderliche, darüber hinaus gehende Nötigungserfolg nicht vorliege.[203] Vielmehr wird das Opfer auch durch vis absoluta dazu genötigt, sich einem weiteren Verhalten des Täters oder eines Dritten nicht entgegenstellen zu können. Als abgenötigtes Verhalten kommt wegen des fehlenden Bewusstseins des Opfers allerdings weder ein Handeln noch ein Unterlassen, sondern nur ein Dulden in Betracht.[204]

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Nach allgemeinen Grundsätzen bedarf es bei einem Erfolgsdelikt der Kausalität zwischen Tathandlung und Taterfolg. Bei § 240 StGB bedeutet dies, dass die Nötigung (mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel) für das Handeln, Dulden oder Unterlassen des Opfers ursächlich sein muss.[205] An dieser Kausalität fehlt es, wenn der Genötigte das vom Nötigenden erstrebte Verhalten ohnehin (zu demselben Zeitpunkt in derselben Art und Weise) vorgenommen hätte[206] oder unabhängig von der Handlung des Täters aufgrund einer späteren Entscheidung vornimmt.[207] Der Täter ist in diesen Fällen nur wegen Versuchs zu bestrafen.

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Darüber hinaus scheidet eine Strafbarkeit wegen Nötigung aus, wenn das Opfer zwar ohne die Einwirkung des Täters nicht so wie von ihm gewünscht reagiert hätte, dies aber letztlich auf einer eigenen Entscheidung beruht, die nur anlässlich des nötigenden Verhaltens, aber unabhängig von dem damit ausgeübten Zwang getroffen wird. Dies gilt beispielsweise, wenn der Genötigte das vom Täter gewünschte Verhalten nur auf Anraten Dritter (z.B. der Polizei) erbringt.[208] In diesen Fällen ist zwar eine Kausalität im Sinne eines reinen Ursachenzusammenhangs gegeben. Es fehlt aber an dem besonderen Motivationszusammenhang, den das strafwürdige Unrecht des Nötigungstatbestandes voraussetzt.[209] Dieser Zusammenhang kommt auch in der Tathandlung des Nötigens zum Ausdruck, die als Versetzen eines anderen Menschen in eine Zwangslage[210] oder auch als Aufzwingen eines bestimmten Verhaltens definiert wird.[211] Eine eigenständige Bedeutung kommt dem Merkmal ansonsten allerdings kaum zu, da die zielgerichtete Einwirkung auf das Opfer bereits in den Begriffsbestimmungen der beiden Nötigungsmittel zum Ausdruck kommt.[212] Hatte der Täter zum Zeitpunkt der Anwendung des Nötigungsmittels noch nicht vor, das Opfer dadurch zu einem gewünschten Verhalten zu motivieren, bleibt zu beachten, ob das weitere Verhalten des Täters nicht derart auszulegen ist, dass er konkludent mit der Zufügung erneuten oder weiteren Übels droht. Anknüpfungspunkt für eine strafbare Nötigung ist dann aber ausschließlich die Drohung nach dem entsprechenden Entschluss des Täters, das Opfer zu einem gewünschten Verhalten zu nötigen.

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Von einer allgemeinen Kausalität wie auch von einem nötigungsspezifischen Motivationszusammenhang kann nur die Rede sein, wenn Tathandlung und Taterfolg zeitlich nicht zusammenfallen. Der Nötigungserfolg darf sich folglich nicht in der Hinnahme der Nötigungshandlung durch das Opfer beschränken, sondern muss darüber hinausgehen.[213] Zur Verdeutlichung kann die Nötigung daher als zweiaktiges Delikt bezeichnet werden,[214] wobei der Täter allerdings – anders als etwa bei der Struktur des erpresserischen Menschenraubs gemäß § 239a StGB oder der Geiselnahme gemäß § 239b StGB (→ BT Bd. 4: Jörg Eisele, Erpresserischer Menschenraub und Geiselnahme, § 7 Rn. 8) – nur im ersten Akt (der Nötigungshandlung) selbst zwingend aktiv werden muss, während der zweite Akt (in Gestalt des Nötigungserfolgs; zumindest bei einem abgenötigten Handeln oder Unterlassen) aus einem Verhalten des Opfers selbst besteht.[215]

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Die Zweiaktigkeit des Nötigungstatbestandes lässt sich auch dem Regelbeispiel des § 240 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 StGB sowie der in dem selbstständigen Straftatbestand des § 237 StGB ausgelagerten Zwangsheirat entnehmen. Sie nennen spezielle Nötigungserfolge in Gestalt eines Schwangerschaftsabbruchs durch eine Schwangere (§ 240 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 StGB) oder der Eingehung einer Ehe (§ 237 Abs. 1 StGB) und verdeutlichen dadurch, dass sich der Nötigungserfolg nicht darauf beschränkt, die Nötigungshandlung des Täters zu erleiden.

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Mitunter verzichten Straftatbestände zum Schutz der Freiheit auf eine tatsächliche Gefährdung oder Verletzung der jeweils geschützten Freiheit. So handelt es sich bei der Bedrohung gemäß § 241 StGB, die bereits die Bedrohung mit der Begehung eines Verbrechens gegen den Bedrohten oder gegen eine ihm nahestehende Person unter Strafe stellt, um ein abstraktes Gefährdungsdelikt.[216] Auf einen zweiten Akt, den gewöhnlich das Opfer erbringt und mit dem die Verletzung seiner Freiheit einhergeht, wurde verzichtet, weil der von der Vorschrift geschützte individuelle Rechtsfrieden (Rn. 24) schon vor Beeinträchtigungen bewahrt werden soll, die objektiv geeignet sind, das Vertrauen des Einzelnen in seine Sicherheit vor einem Verbrechen zu beeinträchtigen.[217] Ähnlich wurde bei dem Straftatbestand der Nachstellung in § 238 StGB das Erfolgsmerkmal der schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestaltung des Opfers durch die bloße Eignung der Nachstellung, diese Folge hervorzurufen, ersetzt (→ BT Bd. 4: Eisele, § 6 Rn. 39).

 
3. Verwerflichkeit

a) Grundlagen

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Die Nötigung ist gemäß § 240 Abs. 2 StGB nur rechtswidrig, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. Da es für die Rechtswidrigkeit der Tat somit der positiven Feststellung einer solchen Verwerflichkeit bedarf, stellt die Nötigung einen sog. offenen Tatbestand dar.[218] Ein tatbestandsgemäßes nötigendes Verhalten indiziert folglich noch nicht seine Rechtswidrigkeit.[219] Dies gilt nach inzwischen h.M. jedenfalls grundsätzlich auch bei einem Rückgriff auf das Nötigungsmittel der Gewalt.[220] Sollte die Tat nach allgemeinen Rechtfertigungsgründen gerechtfertigt sein, ist ihre Verwerflichkeit allerdings von vornherein ausgeschlossen, so dass sich eine Erörterung des § 240 Abs. 2 StGB erübrigt. Schließlich kann ein Verhalten nicht einerseits als gerechtfertigt, andererseits aber zugleich als verwerflich angesehen werden.[221] Sofern sich eine Nötigung als zumindest rechtfertigungsnah erweist, schließt dies die Verwerflichkeit zwar noch nicht aus, soll aber deren Fehlen indizieren.[222]

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Wie sich die Verwerflichkeitsklausel systematisch einordnen lässt, ist nicht unumstritten.[223] Schließlich handelt es sich bei den tatsächlichen Umständen, die als verwerflich beurteilt werden, um unrechtsbegründende und nicht erst um unrechtsausschließende Merkmale. Es erscheint daher unglücklich, dass § 240 Abs. 2 StGB das Merkmal „verwerflich“ auf der Ebene der Rechtswidrigkeit ansiedelt, enthält ein nicht verwerfliches Verhalten doch von vornherein kein Nötigungsunrecht.[224] Deshalb wird die Verwerflichkeitsklausel auch zum Teil als Ergänzung des Tatbestands angesehen.[225] Dem steht allerdings nicht zuletzt der Wortlaut „Rechtswidrig ist die Tat, …“ entgegen.[226] Außerdem hätte eine Verortung der Verwerflichkeitsklausel im Tatbestand zur Folge, dass es verwerfliche, aber gleichwohl gerechtfertigte nötigende Verhaltensweisen gäbe.[227] Aus den vorstehenden Überlegungen kann aber mit der wohl überwiegenden Meinung geschlussfolgert werden, dass die fehlende Kenntnis der Umstände, die der Beurteilung des nötigenden Verhaltens als verwerflich zugrunde liegen, einen Tatumstandsirrtum gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 StGB begründet, mag auch die Beurteilung als verwerflich selbst der Ebene der Rechtswidrigkeit zuzuordnen sein.

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Unabhängig von seiner Verortung dient das Merkmal der Verwerflichkeit dem Zweck, sozialadäquate oder zumindest nicht strafwürdige Einflussnahmen auf die Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit als strafbare Nötigung auszuschließen, auch wenn dabei auf die Tatmittel der „Gewalt“ oder der „Drohung mit einem empfindlichen Übel“ zurückgegriffen wurde. Ohne ein solches oder ein vergleichbares Korrektiv wäre der Anwendungsbereich des § 240 StGB zu weit (ergänzend Rn. 13).[228] Allerdings handelt es sich bei dem Merkmal um einen wertausfüllungsbedürftigen Begriff, der normativen Erwägungen in sehr großem Maße offensteht.[229] Zum Teil werden daher sogar verfassungsrechtliche Bedenken geäußert, ob das Bestimmtheitsgebot noch gewahrt ist (Rn. 9). Es bedarf jedenfalls umso mehr konkretisierender Kriterien, damit es sich ausreichend vorhersehen lässt und nicht von der Bewertung des jeweiligen Gerichts abhängt, welche Einwirkungen auf den Willen eines anderen eine verwerfliche und demnach strafwürdige Nötigung darstellen.

b) Ausgangsdefinition und Bezugspunkte der Verwerflichkeit

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Als verwerflich wird ein Verhalten angesehen, das als sozialwidrig bzw. sozial unerträglich[230] oder in erhöhtem Maße sittlich zu missbilligen und daher als strafwürdiges Unrecht zu begreifen ist.[231] Mit diesen ihrerseits kaum minder wertungsoffenen Umschreibungen geht freilich allenfalls ein geringer Zuwachs an Bestimmtheit einher. Ihnen lässt sich zudem nur scheinbar entnehmen, dass in erster Linie gesellschaftliche Anschauungen oder auch moralische Wertvorstellungen für das Verwerflichkeitsurteil heranzuziehen seien.[232] Ebenso wie bei anderen wertausfüllungsbedürftigen Begriffen empfiehlt es sich indessen, auf die Perspektive der inländischen Rechtsgemeinschaft abzustellen und eine eher „verrechtlichte“ Beurteilung vorzunehmen. Ob ein Verhalten verwerflich ist, bestimmt sich jedenfalls nach einem einheitlichen Bewertungsmaßstab und nicht nach den Vorstellungen einzelner gesellschaftlicher Gruppierungen, ebenso wenig nach den sittlichen Anschauungen des Tatgerichts (siehe hierzu am Beispiel der Zwangsheirat → AT Bd. 1: Valerius, § 25 Rn. 67).

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Aus der Formulierung des § 240 Abs. 2 StGB „die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen“ ergibt sich, dass die Verwerflichkeit eines nötigenden Verhaltens allein nach dem Verhältnis von Mittel und Zweck, der sog. Mittel-Zweck-Relation, zu beurteilen ist. Die Verwerflichkeit einer Tat ergibt sich demnach nicht isoliert nach dem eingesetzten Mittel oder dem verfolgten Zweck.[233] Dies bedeutet jedoch nicht, dass eine Nötigung mitunter nicht bereits wegen des eingesetzten Nötigungsmittels oder allein wegen des verfolgten Zwecks als verwerflich angesehen bzw. dies jedenfalls als aussagekräftiges Indiz für das Verwerflichkeitsurteil herangezogen werden könnte. Vielmehr kann einerseits auf bestimmte Nötigungsmittel generell, d.h. unabhängig von dem verfolgten Anliegen, nicht ohne den Vorwurf der Verwerflichkeit zurückgegriffen werden und existieren andererseits auch bestimmte Zwecke, die unabhängig von dem angewendeten Nötigungsmittel als verwerflich anzusehen sind.[234] Allerdings darf nicht umgekehrt aus der Erlaubtheit der Anwendung eines Nötigungsmittels und/oder der rechtlichen Billigung des verfolgten Zwecks auf die fehlende Verwerflichkeit geschlossen werden.[235] Selbst wenn Nötigungsmittel und Nötigungszweck für sich gesehen jeweils gestattet oder rechtlich zu billigen sind, kann sich die Verwerflichkeit allein aus deren Missverhältnis ergeben (siehe insbesondere zur Inkonnexität von Nötigungsmittel und Nötigungszweck Rn. 78).

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Das angewendete Nötigungsmittel lässt die Nötigung insgesamt in der Regel bereits als verwerflich erscheinen, wenn dadurch ein Straftatbestand wie z.B. Körperverletzung oder Sachbeschädigung verwirklicht wird.[236] Ebenso indiziert ein sonstiger Widerspruch des Nötigungsmittels zur Rechtsordnung die Verwerflichkeit der Tat.[237] Sollte in dem Nötigungsmittel ein Verstoß gegen die Achtung der Menschenwürde zum Ausdruck kommen (z.B. bei der Androhung oder sogar der Anwendung von Folter), ist die Verwerflichkeit der Tat selbst dann nicht ausgeschlossen, wenn dadurch das Leben eines anderen Menschen gerettet werden soll.[238] Nicht erst seit der zwischenzeitlichen Entmaterialisierung des Gewaltbegriffs überholt scheint die früher vertretene Auffassung, dass ein Rückgriff auf das Nötigungsmittel der Gewalt die Verwerflichkeit indiziere.[239] Vielmehr dient die Verwerflichkeitsklausel auch bei diesem Nötigungsmittel als notwendiges Korrektiv.[240] Allenfalls einem „harten Kern“ der Gewalt[241] oder der Begehung von Gewalttätigkeiten[242] kann noch eine Indizfunktion zugesprochen werden.

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Eine verwerfliche Nötigung kann sich ebenso bereits ausschließlich aus dem angestrebten Nötigungszweck ergeben. Insoweit bleibt zunächst zu betonen, dass für die Beurteilung allein auf objektive Kriterien zurückgegriffen werden darf, weil das Korrektiv der Verwerflichkeit auch über den Freiheitsraum des Betroffenen und über die strafrechtliche Relevanz etwaiger Abwehrmaßnahmen entscheidet.[243] Unter anderem kann die Verwerflichkeit eines nötigenden Verhaltens in der Regel dann angenommen werden, wenn dadurch ein rechtlich zu missbilligender Zweck – dies gilt nicht zuletzt für die ausdrücklich in § 240 Abs. 4 StGB genannten Nötigungsziele[244] – verfolgt[245] oder der Genötigte zur Begehung einer Straftat veranlasst wird.[246]

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Selbst wenn weder das angewendete Nötigungsmittel noch der angestrebte Nötigungszweck als solche die Verwerflichkeit des nötigenden Verhaltens begründen oder auch nur nahelegen, kann sich die Verwerflichkeit der Tat allein aus deren Verhältnis ergeben. Die Verwerflichkeit der Mittel-Zweck-Relation kann nicht zuletzt auf die Inkonnexität von Mittel und Zweck zurückzuführen sein, d.h. wenn es eines Zusammenhangs zwischen ihnen entbehrt.[247] Als Paradebeispiel hierfür dient die Drohung mit einer berechtigten Strafanzeige (als einem an sich nicht verwerflichen Nötigungsmittel), um die Begleichung einer ebenso berechtigten Forderung (als für sich gesehen nicht verwerflichen Nötigungszweck) zu erreichen, die allerdings mit dem der Strafanzeige zugrunde liegenden Geschehen in keinem Zusammenhang steht.[248] In diesem Fall werden Anliegen, die in keinerlei innerem Zusammenhang stehen, in einer willkürlichen, nicht mehr zu akzeptierenden Weise miteinander verknüpft.[249] Dies gilt etwa für die Ankündigung der Mitteilung eines Sachverhalts an die Ausländerbehörde mit dem Ziel der Abschiebung eines Schuldners, um eine private Geldforderung beizutreiben.[250] Als nicht verwerflich wird es hingegen im Allgemeinen angesehen, jemandem mit einer Strafanzeige zu drohen, um die Begleichung eines fälligen und einredefreien Anspruchs zu erlangen, wenn die Strafanzeige (z.B. wegen Betrugs aufgrund fehlender Erfüllungswilligkeit) gerade den Sachverhalt betrifft, aus dem sich der betreffende Anspruch ergibt.[251] Ergänzend zur Drohung mit einer Strafanzeige bei lediglich zweifelhaften Ansprüchen Rn. 102 f.

c) Gesamtwürdigung und weitere Kriterien

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Die Verwerflichkeit eines nötigenden Verhaltens ergibt sich aus einer umfassenden Abwägung, bei der – außer der in § 240 Abs. 2 StGB ausdrücklich genannten Mittel-Zweck-Relation – unterschiedlichste Kriterien berücksichtigt werden können. Roxin hat etwa als mögliche Faktoren die Rechtswidrigkeit des abgenötigten Verhaltens (Rn. 83) sowie die Rechtmäßigkeit des angedrohten Übels (siehe hingegen schon Rn. 61 f.), die Bedeutung der betroffenen Rechte und Interessen, das Bagatellprinzip (Rn. 85), den Vorrang staatlicher Zwangsmittel (Rn. 84) und das Prinzip des mangelnden Zusammenhangs genannt.[252] Eine nähere Systematisierung dieser und anderer Merkmale erscheint jedoch kaum möglich. Es bleibt daher zu betonen, dass für die Gesamtwürdigung eines nötigenden Verhaltens als verwerflich stets sämtliche Umstände des Einzelfalls heranzuziehen bleiben.[253]

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Bei der Beurteilung können nicht zuletzt Grundrechte des Nötigenden zu berücksichtigen sein. Dies gilt vor allem für die Meinungsäußerungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG und die Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG.[254] Von Bedeutung ist dies insbesondere für die strafrechtlich umstrittene Sitzblockade, aber auch für andere (ggf. nötigende) Einflussnahmen auf den Willen anderer, mit denen die eigene Meinung kundgetan und an der öffentlichen Meinungsbildung mitgewirkt werden soll. Aus der Rechtsprechung sei insoweit nur die Störung von Lehrveranstaltungen und Prüfungen während eines „Studentenstreiks“ durch Geschrei, Gebrüll, Pfeifen, Singen oder den Gebrauch von Lärminstrumenten genannt (ergänzend Rn. 32).[255] Allein die Möglichkeit, sich auf die demokratischen Grundrechte der Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu berufen, gewährt indessen keinen Freischein für jegliches nötigende Verhalten. Vielmehr bleibt zu beachten, dass die genannten Grundrechte lediglich die geistige Auseinandersetzung schützen, nicht jedoch den Rückgriff auf Nötigungsmittel gestatten.[256] Vornehmlich gezielte, mit einer Demonstration nicht zwingend einhergehende Behinderungen Dritter, mit denen die Aufmerksamkeit für das Anliegen der Demonstranten ggf. absichtlich erhöht werden soll, lassen sich daher nicht mit dem bloßen Verweis auf die Meinungsäußerungs- und die Versammlungsfreiheit als nicht rechtswidrig erklären. Dagegen können Beeinträchtigungen, die mit einer Demonstration oder einer sonstigen Versammlung notwendig oder als Begleiterscheinung in der Regel einhergehen, infolge der verfassungsrechtlich gebotenen Güter- und Interessenabwägung eine zulässige Grundrechtsausübung und demzufolge keine strafbare Nötigung darstellen.[257] Sofern etwa mit Blockadeaktionen mit allgemein-politischer Zielsetzung ein kommunikatives Anliegen verfolgt wird, sind jedenfalls zum Schutz der Versammlungsfreiheit vor übermäßiger und unangemessener Sanktion besondere Anforderungen an die Anwendung und Auslegung der Verwerflichkeitsklausel zu stellen.[258]

 

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Auch die allgemeine Vereinigungsfreiheit aus Art. 9 Abs. 1 GG, insbesondere deren Unterfall der Koalitionsfreiheit in Art. 9 Abs. 3 GG, kann bei der Auslegung der Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 StGB zu berücksichtigen sein. Als bedeutend erweist sich hierbei vor allem das Recht auf Arbeitskampf als Teil der Koalitionsfreiheit, auf das sich bei Streiks bzw. deren Androhung die Arbeitnehmer einerseits sowie bei Aussperrungen die Arbeitgeber andererseits berufen können. Insoweit ist anerkannt, dass Maßnahmen in Arbeitskämpfen, die sich in den rechtlich anerkannten Grenzen bewegen, vor allem die Verhältnismäßigkeit wahren und sich im Hinblick auf den verfolgten Zweck als angemessenes Mittel erweisen, nicht als Nötigung erfasst werden können.[259] Hieraus kann allerdings nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass eine arbeitsrechtswidrige Maßnahme per se als verwerflich anzusehen bleibt. Schließlich werden die Grenzen des legalen Arbeitskampfes durch Richterrecht gezogen und sind daher nur schwer fassbar und auch aufgrund der Abhängigkeit z.B. von Wirtschaftsbedingungen wandelbar.[260] Maßnahmen des Arbeitskampfes zeichnen sich allerdings durch ihre Offenheit aus. Verdeckte Mittel wie Bummelstreiks sind daher von vornherein rechtswidrig. Bei „Dienst nach Vorschrift“ durch Beamten kommt hinzu, dass ihnen überhaupt kein Streikrecht zusteht und auch aus diesem Grund nicht von einer rechtmäßigen Arbeitskampfmaßnahme gesprochen werden kann.[261] Aus dieser maßgeblichen kollektiv-arbeitsrechtlichen Beurteilung ergibt sich auch, dass Streikmaßnahmen von Studenten – mangels Arbeitsverhältnisses mit der Universität – nicht in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG einbezogen werden.[262]

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Im Zusammenhang mit der Ausübung grundrechtlich geschützter Verhaltensweisen wird häufig auch diskutiert, ob und ggf. welche Bedeutung Fernzielen des Täters zukommt.[263] Unter Fernzielen sind diejenigen Ziele zu verstehen, die jemand mithilfe seines nötigenden Verhaltens letztlich erreichen, zu erreichen helfen oder für die er sich einsetzen will und die über den unmittelbaren Nötigungserfolg gegenüber dem Nötigungsadressaten als Nahziel hinausgehen. Bei einer Demonstration im Wege einer Sitzblockade oder durch Anketten vor einem Zufahrtstor eines Geländes besteht das Nahziel z.B. etwa darin, herannahende Fahrzeuge zum Anhalten zu bewegen. Welchem Anliegen die dadurch gewonnene Aufmerksamkeit genau dienen soll – z.B. der atomaren Abrüstung, dem Weltfrieden, der Aufgabe der Kernkraftenergie, der Abkehr von rechtsradikalem Gedankengut –, bildet das eigentliche Ziel des Nötigers. Diesem Fernziel ist nach verbreiteter Ansicht keine Bedeutung bei der Beurteilung des Verhaltens als verwerflich zuzugestehen.[264] Vielmehr handelt es sich hierbei allenfalls um einen bei der Strafzumessung zu berücksichtigenden Umstand.[265] Dem bleibt zwar grundsätzlich bereits deswegen zuzustimmen, da ansonsten Staatsanwaltschaften und Gerichte über die Wertigkeit des Fernziels befinden müssten und somit noch mehr Gefahr liefen, eine sittliche anstatt einer rechtlichen Entscheidung zu treffen.[266] Insbesondere streitet daher selbst die Gemeinnützigkeit eines Fernziels nicht für die fehlende Verwerflichkeit des nötigenden Verhaltens.[267] Zwar muss durchaus im Allgemeinen berücksichtigt werden, dass ein nötigendes Verhalten auch vorgenommen werden kann, um z.B. an der öffentlichen Meinungsbildung teilzunehmen und sich für ein bestimmtes – als solches nicht zu bewertendes – Fernziel einzusetzen.[268] Hierbei handelt es sich aber um Aspekte, die bereits im Rahmen der soeben erwähnten Ausübung von Grundrechten zu berücksichtigen sind (Rn. 80).

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Für das Verwerflichkeitsurteil kann ferner von Bedeutung sein, ob der angestrebte Nötigungserfolg im Einklang mit der Rechtsordnung steht. Dieses sog. Rechtswidrigkeitsprinzip darf aber nicht derart verstanden werden, dass ein erstrebter rechtmäßiger Nötigungserfolg stets die Verwerflichkeit der Nötigung entfallen lässt. Vielmehr ist hier ebenso eine Gesamtabwägung sämtlicher Umstände erforderlich und kann sich daher die Verwerflichkeit auch aufgrund anderer Kriterien ergeben. Dies gilt nicht zuletzt, wenn Nötigungsmittel und Nötigungserfolg, unabhängig von ihrer jeweiligen Rechtmäßigkeit, in keinerlei Zusammenhang stehen (zur Inkonnexität Rn. 78). Des Weiteren kann es verwerflich sein, ein anerkanntes Ziel (z.B. die Verteidigung eines Rechtsgutes) mit einer nicht mehr angemessenen Drohung zu erreichen.[269] Ebenso wenig hat die Rechtswidrigkeit der Umsetzung der ausgesprochenen Drohung zur Folge, dass bereits die Drohung als solche verwerflich ist (zur fehlenden Relevanz der Rechtmäßigkeit des angedrohten Übels bei einer Drohung durch Unterlassen Rn. 61).[270]

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Die Verwerflichkeit der Tat kann des Weiteren darauf beruhen, einen anderen unter Missachtung des Vorrangs staatlicher Zwangsmittel zu einem bestimmten Verhalten zu nötigen.[271] Schließlich kommt das Recht, Gesetzestreue zu erzwingen, in erster Linie dem Staat zu.[272] Eine besondere Bedeutung erlangt diese Fallgruppe vor allem bei erzieherischen Maßnahmen im Straßenverkehr. So hat der BGH das Verhindern eines Überholvorgangs über eine Strecke von mehreren Kilometern als verwerfliche Nötigung angesehen. Eine etwaige Belehrungsabsicht für ein vorangegangenes (vermeintliches) Fehlverhalten des Betroffenen stünde dem nicht entgegen. Vielmehr erklärte der BGH ausdrücklich: „Gegenseitige Verkehrserziehung beruht, soweit überhaupt angebracht, ausschließlich auf vorbildlicher Fahrweise, nicht auf ‚Selbsthilfe‘. Nötigenfalls muß die Polizei in Anspruch genommen werden.“[273] Keine Nötigung stellt es allerdings dar, wenn ein Verkehrsteilnehmer bei einer Kolonnenfahrt den Überholvorgang eines anderen Kraftfahrers dadurch verhindert, dass er den Sicherheitsabstand zu dem vorausfahrenden Fahrzeug verkürzt, wenn bei erfolgreichem Überholvorgang der Sicherheitsabstand zu den beteiligten Fahrzeugen erheblich unter das erforderliche Maß verkürzt werden würde.[274]

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Mit der Verwerflichkeitsklausel können nicht zuletzt lediglich unerhebliche Einwirkungen auf die Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit ausgeschieden werden. Schließlich setzt die Verwerflichkeit einer Tat ein sozial unerträgliches bzw. in erhöhtem Maße sittlich zu missbilligendes Verhalten voraus (Rn. 74). Nötigende Verhaltensweisen, die sich nur im Bagatellbereich bewegen, erscheinen daher nach dem sog. Geringfügigkeitsprinzip gerade als nicht verwerflich.[275] Zu denken ist etwa an das nur sekundenlange Zuhalten einer Tür zum Spaß.[276] Von Bedeutung ist das Geringfügigkeitsprinzip vor allem bei Nötigungen im Straßenverkehr,[277] zumal hier ohnehin zahlreiche Verstöße gegen die StVO bereits als Ordnungswidrigkeit geahndet werden. Einmalige kurze Verkehrsvorgänge (z.B. durch Verletzung der Vorfahrt oder ein kurzfristiges nahes Auffahren) begründen noch keine Verwerflichkeit.[278] Auch bei Sitzdemonstrationen wurde wiederholt auf deren Dauer abgestellt und bei nur kurzzeitigen Blockaden die Verwerflichkeit verneint.[279] Starre Zeitgrenzen für die Dauer einer Beeinträchtigung können insoweit indessen nicht aufgestellt werden.[280] Freilich dürfen die vorstehenden Beispiele nicht dazu verleiten, jeweils allein den kurzen Zeitraum einer Beeinträchtigung als maßgeblich zu erachten ohne etwa die hiermit gleichwohl einhergehende Intensität des Nötigungsmittels (insbesondere bei körperlicher Einwirkung in Form der Gewalt z.B. durch einen Schlag) oder auch das Ausmaß der Zwangswirkung (z.B. Verpassen des letzten Zuges an einem Tag) zu vernachlässigen. Vielmehr ergibt sich auch die Bewertung eines nötigenden Verhaltens als geringfügig stets aus einer Gesamtabwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalls. Hierzu zählen bei nötigenden Verhaltensweisen im Straßenverkehr etwa die Motivation des Fahrers, die durch seine Fahrweise verursachte Gefahr und die Verkehrssituation. Bei Sitzblockaden hat das BVerfG als „wichtige Abwägungselemente“ etwa die Dauer und Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten, die Dringlichkeit des blockierten Transports, aber auch den Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand aufgezählt.[281] Ein Rückgriff auf das Geringfügigkeitsprinzip ist generell freilich nur notwendig, wenn überhaupt die tatbestandlichen Erheblichkeitsschwellen bei der Gewalt und bei der Drohung mit einem empfindlichen Übel überschritten sind.