Handbuch des Strafrechts

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2. Mittel der Einflussnahme auf das Opfer

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Bei den in diesem Abschnitt dargestellten Tatbeständen der Nötigung, der Zwangsheirat und der Bedrohung sind die strafbaren Einflussnahmen auf das Opfer jeweils abschließend aufgezählt. Dies gilt nicht zuletzt für die Strafvorschriften der Nötigung und der Zwangsheirat, die als Nötigungsmittel ausschließlich „Gewalt“ (Rn. 30 ff.) und „Drohung mit einem empfindlichen Übel“ (Rn. 47 ff.) vorsehen. Diese beiden Nötigungsmittel stehen gleichberechtigt nebeneinander und können auch durch ein und dasselbe Verhalten zugleich erfüllt sein; „Gewalt“ und „Drohung mit einem empfindlichen Übel“ stehen folglich nicht in einem Exklusivitätsverhältnis.[76] Auch bei der Bedrohung gemäß § 241 StGB muss auf das Opfer entweder mit einer (Be-)Drohung (Abs. 1) oder mit einer Täuschung (Abs. 2) eingewirkt werden.

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Sämtliche anderen denkbaren Mittel und Wege, auf die Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit des Opfers bei §§ 237, 240 StGB einzuwirken oder den individuellen Rechtsfrieden bei § 241 StGB zu beeinträchtigen, sind nicht erfasst. Hierzu zählen etwa bei §§ 237, 240 StGB Täuschung, List,[77] Überredung und Suggestion, Ausnutzen von Hörigkeit oder die Erzeugung moralischen oder sozialen Drucks.[78] Bei der Hypnose ist dies umstritten.[79] Ein Auffangmerkmal – wie etwa die „andere Beschränkung der Handlungsfreiheit“ in Art. 181 schwStGB (Rn. 127) – enthalten die genannten Tatbestände nicht. Mit einem solchen Merkmal ginge freilich eine größere Flexibilität einher und könnte den Umständen des Einzelfalls umfassender Rechnung getragen werden. Dieser Vorteil würde aber auf Kosten der (bei § 240 StGB ohnehin nicht gerade ausgeprägten) Bestimmtheit gewonnen werden und die Abgrenzung zwischen strafwürdigen und nicht strafwürdigen Verhaltensweisen zunehmend Staatsanwaltschaften und Strafgerichten verantworten. Die Beschränkung auf ausgewählte Mittel dient daher dem Anliegen, nicht alle denkbaren Einflussnahmen aus der Vielgestaltigkeit des Lebens herauszugreifen, sondern lediglich diejenigen, die als strafwürdig erachtet werden. Ohnehin ließe es sich mit der Tathandlung des Nötigens und dem insoweit erforderlichen Zwangselement nicht vereinbaren, Beeinflussungen wie Täuschung oder List, die eines solchen Elements jedenfalls in der Regel entbehren, tatbestandlich zu erfassen.[80]

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Die abschließende Aufzählung der Nötigungsmittel kann freilich zu ungewollten Strafbarkeitslücken führen, was exemplarisch an einem erst kürzlich vielerwähnten Beispiel von Zwangsheiraten aufgezeigt werden kann. So lässt sich das bloße Machtwort des in der Regel männlichen Familienoberhauptes in einem patriarchalischen Umfeld, dem infolge jahrelanger entsprechender Erziehung gewöhnlich schlicht gefolgt wird, weder als „Gewalt“ noch in der Regel als „Drohung mit einem empfindlichen Übel“ im Sinne des § 237 StGB begreifen.[81] Eine Aufforderung an das (zumeist weibliche) Opfer, jemanden gegen seinen Willen zu ehelichen, verwirklicht daher nicht den Tatbestand der Zwangsheirat, wenngleich auf diese Art und Weise die Eheschließungsfreiheit des Opfers nicht minder beeinträchtigt wird.[82]

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Die Nötigungsmittel des § 240 StGB werden in anderen Vorschriften (z.B. außer in der Zwangsheirat gemäß § 237 StGB auch in der Erpressung gemäß § 253 StGB sowie im Menschenraub gemäß § 234 StGB und in den Qualifikationen der Menschenhandelsvorschriften der § 232 Abs. 2 Nr. 1, § 232a Abs. 3, § 232b Abs. 3 StGB) aufgegriffen und dort jedenfalls im Wesentlichen identisch ausgelegt (zu §§ 232 ff. StGB → BT Bd. 4: Renzikowski, § 8 Rn. 37). Bei anderen schwereren Vorschriften werden die Nötigungsmittel der Gewalt und der Drohung spezifiziert und dadurch eingeschränkt. Solche sog. qualifizierten Nötigungsmittel enthalten insbesondere der Raub gemäß § 249 StGB und die räuberische Erpressung gemäß § 255 StGB mit der jeweils alternativ genügenden „Gewalt gegen eine Person“ oder „Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben“. Konkretisiert wird der Gegenstand der Drohung zudem bei der Geiselnahme gemäß § 239b StGB, die den Tod oder eine schwere Körperverletzung des Opfers im Sinne des § 226 StGB oder dessen Freiheitsentziehung von über einer Woche Dauer zum Gegenstand haben muss.

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Auch die Bedrohung gemäß § 241 StGB beschreibt den Inhalt der erforderlichen (Be-)Drohung in ihrem Abs. 1 näher. Hiernach muss ein Mensch „mit der Begehung eines gegen ihn oder eine ihm nahestehende Person gerichteten Verbrechens“ bedroht werden. Das angekündigte Verhalten muss, schon allein um über seine Verbrechenseigenschaft entscheiden zu können, in seinen wesentlichen Merkmalen hinreichend bestimmt sein und darf sich nicht in allgemeinen Worten erschöpfen, denen sich die Tatbestandsmerkmale eines Verbrechens nicht entnehmen lassen.[83] Der Beginn der Begehung eines Verbrechens enthält nicht zugleich dessen Androhung, die vielmehr einen Hinweis auf ein zukünftiges Geschehen voraussetzt. Möglich ist nur, dass durch die Verwirklichung eines Verbrechens (z.B. einer räuberischen Erpressung durch Bedrohung mit einer Schusswaffe) konkludent mit der Begehung eines weiteren Verbrechens (z.B. eines Tötungsdelikts) gedroht wird.[84]

II. Klassische Fragestellungen
1. Nötigungsmittel
a) Gewalt

aa) Begriffsbestimmung

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Die Definition der Gewalt bei der Nötigung dürfte zu den umstrittensten Begriffsbestimmungen im materiellen Strafrecht zählen,[85] nicht zuletzt infolge der verschiedenen existierenden allgemein- wie auch fachsprachlichen Deutungen des Begriffs im Allgemeinen[86] und seiner lang andauernden Entwicklung insbesondere in der Rechtsprechung bei der Nötigung im Speziellen.[87] Zum einen gilt es schon bei diesem Merkmal, der angesprochenen Filterfunktion (Rn. 13) gerecht zu werden und strafwürdige von insbesondere sozialadäquaten Einwirkungen zu trennen. Zum anderen müssen bei der Konkretisierung des Nötigungsmittels die verfassungsrechtlichen Grenzen gewahrt bleiben und darf bei der Auslegung der Wortsinn nicht überschritten werden (Rn. 11 f.). Eine Annäherung an den Gewaltbegriff mag dadurch erleichtert werden, zunächst dessen beide Komponenten näher zu betrachten, die gewöhnlich unterschieden werden. Demnach wird zwischen den Anforderungen an das Nötigungsmittel der Gewalt auf „Täterseite“ und auf „Opferseite“ differenziert.

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Auf der „Täterseite“ stehen die Voraussetzungen im Blickpunkt, die an das Verhalten des Nötigenden selbst gestellt werden, um es als „Gewalt“ im Sinne des § 240 StGB begreifen zu können. Ursprünglich verlangte das Reichsgericht insoweit in Übereinstimmung mit dem gewöhnlichen Sprachgebrauch die Anwendung physischer Kraft zur Überwindung geleisteten oder erwarteten Widerstands.[88] Hierfür genügte allerdings auch eine mittelbare Einwirkung auf den Körper des Opfers, sofern diese etwa durch mechanische Mittel verstärkt und dadurch als nicht unerheblicher körperlicher Zwang empfunden wurde.[89] Unter anderem wurden etwa die Abgabe eines Schusses aus einer Schreckschusspistole[90] sowie das Einsperren des Opfers in einen Raum durch Verschließen der Tür als Nötigung angesehen.[91]

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Allerdings kamen schon bald Zweifel an einem solchen Verständnis des Gewaltbegriffs auf, konnte dadurch ein Verhalten des Täters, das sich mehr durch seine Schnelligkeit und Geschicklichkeit als durch seine körperliche Kraftanstrengung auszeichnete, nicht erfasst werden, obwohl die dadurch hervorgerufene Einwirkung auf das Opfer nicht von geringerer oder sogar von höherer Intensität war. So konnte das hinterlistige oder überraschende Beibringen von Betäubungsmitteln nicht als Gewalt im Sinne des § 240 StGB erfasst werden.[92] Der BGH betonte daher früh, dass die erforderliche körperliche Kraftentfaltung des Täters nicht erheblich sein müsse.[93] Der Annahme von „Gewalt“ stand es demnach nicht mehr entgegen, dass ein Betäubungsmittel gewaltlos beigebracht wurde, bediene sich der Täter in diesem Fall zwar nicht seiner Muskelkraft, aber anderer, vorliegend chemischer Kräfte.[94] Ebenso wurden Schreien, Brüllen, Pfeifen, Singen und der Gebrauch von Lärminstrumenten – mit dieser Geräuschentwicklung sollten Lehrveranstaltungen und Prüfungen an der Universität gestört werden – als Gewalt angesehen.[95]

 

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Die Anforderungen an den Gewaltbegriff auf der „Täterseite“ zu senken, erscheint nur folgerichtig. Schließlich ist für den Unrechtsgehalt einer nötigenden Verhaltensweise insbesondere die Intensität der Beeinträchtigung des geschützten Rechtsguts der Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit maßgeblich. Wie der Täter dies im Einzelnen mit den tatbestandlichen Nötigungsmitteln bewerkstelligt, ist demgegenüber nachrangig. Demzufolge bleibt auch bei einer Nötigung mit „Gewalt“ maßgeblich darauf abzustellen, auf welche Art und Weise dadurch auf das Opfer eingewirkt wird.[96] Auch bei dem Nötigungsmittel der „Drohung mit einem empfindlichen Übel“ wird die Perspektive des Opfers herangezogen und bestimmt sich ausschließlich aus seiner – wenngleich objektivierten – Sicht, ob die Drohung ernstlich erscheint (Rn. 48) und ob das in Aussicht gestellte Übel als empfindlich zu erachten ist (Rn. 51 f.). „Gewalt“ im Sinne des § 240 StGB setzt demzufolge nicht voraus, dass der Täter selbst eine erhebliche körperliche Kraftentfaltung an den Tag legt. Ebenso wenig vermag aber eine „gewaltige“ physische Anstrengung des Täters, um auf das Opfer einzuwirken, nicht allein das Nötigungsmittel der Gewalt zu begründen, da auch der noch so kraftvolle Einsatz seitens des Täters keine körperliche Zwangslage für das Opfer nach sich ziehen muss.

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Auf der „Opferseite“ verlangte das Reichsgericht für den Gewaltbegriff einen nicht unerheblichen Kraftaufwand seitens des Nötigungsadressaten, um das der Betätigung seines Willens entgegenstehende und vom Täter herrührende Hindernis zu überwinden. So wurde unter Verweis auch auf die Rechtsprechung zu § 240 StGB in der Ansammlung einer Menschenmenge, die bei einem Leichenzug den Sargträgern den Weg zum Grab versperrte, um die Bestattung eines Suizidenten in geweihter Erde zu verhindern, eine Gewalttätigkeit gegen eine Person im Sinne des § 125 StGB angenommen, da sich die Gewaltanwendung mittelbar gegen die Sargträger richtete und auf diese als äußerer Zwang wirkte.[97] Auch der BGH betonte in seiner Rechtsprechung anfänglich, dass für den Gewaltbegriff eine körperliche Zwangswirkung, „ein unmittelbar auf dessen Körper einwirkendes Mittel“ maßgeblich sei.[98] Dadurch wurde zumindest weitgehend gewährleistet, dass der Gewaltbegriff trotz der geschilderten Herabsenkung der Anforderungen an das Verhalten des Nötigenden nicht zu sehr ausgeweitet wurde.

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Allerdings wurden die Anforderungen an die körperliche Zwangswirkung ebenso nach und nach gesenkt. Beispielsweise wurde zunächst das dichte Auffahren auf der Überholspur einer Autobahn als „Gewalt“ angesehen. Schließlich gehöre auch das Nervensystem des Genötigten zu dessen Körper und bestünde zwischen den körperlichen und geistig-seelischen Funktionen eine Wechselwirkung. Bei einem dichten Auffahren liege es aber nahe, dass „ein durchschnittlicher Kraftfahrer in Sorge und Furcht geraten und nervös und fahrunsicher werden“ und ein dichtes Auffahren „ihn zu ungewollten Reaktionen und zu einem möglicherweise gefährlichen und gefährdenden Ausweichen nach rechts unter erheblichem Abbremsen zwingen, wenn nicht sogar, wie die Erfahrung lehrt, zu einem noch gefährlicheren und für alle Beteiligten folgenschweren Verhalten“ veranlassen kann.[99] Wenige Jahre später wurde sodann die Bedrohung mit einer durchgeladenen und entsicherten Waffe als Gewaltanwendung begriffen, wirke der Täter auf diese Weise doch unmittelbar auf die Sinne des Bedrohten ein, der dadurch in einen Zustand starker seelischer Erregung versetzt und so in seinem ganzen körperlichen Befinden beeinflusst werde.[100] Diese Entscheidungen korrespondierten mit der Rechtsprechung zum Raub, wonach der (z.B. bewusstlose) Genötigte den Zwang körperlich nicht empfinden müsse.[101] Letztlich ließ der BGH somit eine jedenfalls in erster Linie psychische Einwirkung auf das Opfer für das Nötigungsmittel der „Gewalt“ genügen. Die Grenzen zwischen physischer und psychischer Einwirkung verschwammen dadurch zunehmend.

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Ihren Höhepunkt fand die skizzierte Entwicklung in der Laepple-Entscheidung, in der bereits das bloße Hinsetzen auf die Schienen vor einer herannahenden Straßenbahn als „Gewalt“ im Sinne des § 240 StGB qualifiziert wurde (siehe schon Rn. 12).[102] Zwar war der Fahrer der Straßenbahn körperlich durchaus in der Lage, seine Fahrt fortzusetzen. Da er aber Gefahr laufe, die auf den Gleisen sitzenden Demonstranten zu töten, wurde auf ihn nach BGH ein unwiderstehlicher Zwang ausgeübt.[103] Physischer und rein psychisch wirkender Zwang wurden dadurch endgültig völlig gleichgesetzt.[104] Es genügte in den Worten des BGH, „mit geringem körperlichen Kraftaufwand einen psychisch determinierten Prozeß in Lauf (zu) setz(t)en“.[105] Diese Rechtsprechung blieb zunächst vom BVerfG in seiner Mutlangen-Entscheidung vom 11. November 1986[106] sowie im Bastian-Beschluss vom 14. Juli 1987[107] infolge Stimmengleichheit unbeanstandet (siehe schon Rn. 12).

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Anders als auf der „Täterseite“ ist eine solche Aufweichung, eine sog. Vergeistigung[108] des Gewaltbegriffs auf der „Opferseite“ nicht gutzuheißen. Schließlich steht gerade hier die Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit im Vordergrund und bedeutete die Ausdehnung der tatbestandlich erfassten Einwirkungsmöglichkeiten daher nichts anderes als die gesetzgeberische Entscheidung, nicht jegliche Beeinflussung des Willens des Opfers unter Strafe zu stellen, zu unterlaufen. Das BVerfG hat in seiner Sitzblockaden-Entscheidung vom 10. Januar 1995[109] eine Auslegung des Gewaltbegriffs dergestalt, dass die Kraftentfaltung des Täters „lediglich in körperlicher Anwesenheit besteht und die Zwangswirkung auf den Genötigten nur psychischer Natur ist“, daher als mit Art. 103 Abs. 2 GG unvereinbar angesehen.[110] Die Funktion der vom Gesetzgeber genannten Nötigungsmittel bestehe darin, aus der Vielzahl von Zwangseinwirkungen auf die Willensfreiheit die strafwürdigen zu bestimmen. Daher könne aber die bereits im Begriff der Nötigung enthaltene Ausübung von Zwang nicht mit der Gewalt zusammenfallen, sondern müsse diese über den Zwang hinausgehen.[111]

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An kritischen Stimmen gegenüber dem Rechtsprechungswandel des BVerfG fehlte es bei weitem nicht. Bedenken wurden bereits aus verfassungsrechtlicher Sicht angemeldet, sei es, dass das BVerfG sich fachgerichtliche Kompetenzen anmaße und somit zur Superrevisionsinstanz aufspiele, wenn es selbst über die Auslegung des Gewaltbegriffs entscheide,[112] oder dass im Hinblick auf die erstrebenswerte Rechtssicherheit ein so baldiger Rechtsprechungswandel nur knapp zehn Jahre nach der Mutlangen-Entscheidung ohne eine zwischenzeitliche Änderung der Sach- oder Rechtslage nicht unproblematisch sei.[113] Aus strafrechtlicher Perspektive wird dem BVerfG vorgehalten, nicht hinreichend zwischen den beiden Elementen des Gewaltbegriffes, d.h. der Kraftentfaltung des Nötigenden einerseits sowie der Zwangswirkung auf den Genötigten andererseits, zu unterscheiden und dadurch die Grenzen beider Komponenten unnötig zu verwischen.[114] Zu begrüßen bleibt jedenfalls, dass das BVerfG klargestellt hat, dass rein psychischer Zwang nicht als Gewalt im Sinne des Nötigungstatbestands angesehen werden kann.[115] Ebenso hat der Sitzblockaden-Beschluss des BVerfG verdeutlicht, dass eine Beschränkung des Gewaltbegriffs erforderlich ist, damit er seine tatbestandliche Konkretisierungs- und Begrenzungsfunktion noch ausüben kann, die bei dem geschilderten extensiven Verständnis durch den BGH indessen weitgehend aufgehoben würde.

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Ob und ggf. wie diese Einschränkung gelingen kann, ist Gegenstand eines kontroversen und weitgespannten Meinungsbildes. Ein extensiver Ansatz begreift Gewalt als jegliche gegenwärtige Zufügung eines empfindlichen Übels, unabhängig davon, ob hiermit ein physischer oder psychischer Zwang auf das Opfer einhergehe. Schließlich sei es widersinnig, die unmittelbare Verwirklichung eines empfindlichen Übels als straffrei zu erachten, während dessen bloße Androhung eine Strafbarkeit begründe.[116] Dieser Ansicht dürfte die stillschweigende Annahme zugrunde liegen, dass die beiden Nötigungsmittel der „Gewalt“ und der „Drohung mit einem empfindlichen Übel“ sämtliche – physische wie psychische – Arten der Einwirkung auf die Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit abdecken und eine Unterscheidung lediglich nach der Intensität der Beeinflussung erfolgen kann. Doch sollen die beiden Nötigungsmittel die möglichen Einflussnahmen auf den Willen eines anderen gerade nicht vollständig erfassen (Rn. 26). Selbst wenn eine Abgrenzung dergestalt vorgenommen werden würde, dass sich Gewalt in einem gegenwärtigen, Drohung aber in einem zukünftigen Übel äußere, müsste die Gewaltalternative jedenfalls enger zu verstehen sein, genügt für die andere Modalität doch die „Drohung mit einem empfindlichen Übel“ und wird gerade nicht – wie aber etwa in §§ 81 Abs. 1, 82 Abs. 1, 89c Abs. 1 S. 2, 105 Abs. 1, 107 Abs. 1, 113 Abs. 1, 114 Abs. 3, 129a Abs. 2 StGB – „Drohung mit Gewalt“ gefordert.[117] Auch unbesehen des Wortlauts geht das (scheinbare) argumentum a minore ad maius fehl, weil die Drohung nicht ein weniger, sondern ein aliud zum Nötigungsmittel der Gewalt darstellt, wird dadurch doch die Willensbildungsfreiheit geschützt, während die Gewalt auch die Willensbildungsfähigkeit und die Willensbetätigungsfreiheit im Blick hat.[118] Der angedachte Verzicht auf das Kriterium der Körperlichkeit bei der Gewalt, mit der die notwendige Beschränkung dieses Nötigungsmittels freilich kaum einhergeht, lässt sich somit jedenfalls nicht durch einen Vergleich der beiden Nötigungsmittel rechtfertigen. Ebenso wird die innertatbestandliche Systematik außer Acht gelassen, wenn mit einem anderen Ansatz (Rn. 20) Gewalt als Eingriff in garantierte Rechte des Einzelnen angesehen wird. Dies hätte nämlich nicht zuletzt zur Folge, auch List und Drohung als Gewalt zu klassifizieren.

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Was zeichnet aber Gewalt im Sinne des § 240 Abs. 1 StGB nun aus? Ein vielversprechender Ansatz könnte in der Tat darin bestehen, sich – wie es auch der weitaus überwiegenden Handhabung in den letzten Jahrzehnten entspricht – stärker auf die „Opferseite“ zu konzentrieren und dort – unter Anknüpfung an Ausführungen des BVerfG – das Körperlichkeitskriterium zu betonen. Für den Weg über die Seite der Genötigten spricht insbesondere, dass nicht sämtliche Beeinträchtigungen der Freiheit der Willensentschließung sowie der Willensbetätigung erfasst sein sollen, sondern lediglich diejenigen, die als strafwürdig erachtet werden. Zudem kennen andere Normen (siehe z.B. § 124, § 125 Abs. 1 StGB) den Begriff der Gewalttätigkeit, mit dem gerade erhöhte Anforderungen an das Handeln des Täters gestellt werden[119] und etwa ein aggressives Tun von einiger Erheblichkeit unter Einsatz physischer Kraft gefordert wird.[120] Anders als für die Gewalttätigkeit bietet es sich bei der „bloßen“ Gewalt daher auch aus diesem Grund nicht an, sich auf die Handlungen des Täters zu konzentrieren, sondern sich stattdessen vermehrt deren Folgen für das Opfer und dessen Willensentschließungs- und Willensbetätigungsfreiheit zuzuwenden. Insoweit liegt es zur Eingrenzung des Nötigungstatbestandes nahe, nicht jegliche Einwirkung auf das Opfer ausreichen zu lassen, sondern eine körperliche Zwangswirkung vorauszusetzen, um es zu dem gewünschten Verhalten zu veranlassen.[121] Da es auf die Wirkung beim Opfer ankommt, ist nicht entscheidend, wie diese hervorgerufen wird, d.h. ob unmittelbar (z.B. durch Schläge) oder auch mittelbar (z.B. durch Einsperren; siehe auch Rn. 45). Um als „Gewalt“ verstanden werden zu können, darf die körperliche Einwirkung zudem jeweils nicht lediglich unerheblich sein, sondern muss eine gewisse Bagatellschwelle überschreiten und dadurch über eine bloße Belästigung oder Behinderung hinausgehen.[122]

 

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Fehlt es an einer (auch nur mittelbaren) körperlichen Zwangseinwirkung, kann von Gewalt hingegen keine Rede sein. Selbst massiver psychischer Druck auf das Opfer kann mangels physischer Zwangswirkung nicht als Gewalt angesehen werden. Freilich ist nicht auszuschließen, dass ein Handeln auch trotz fehlender unmittelbarer oder mittelbarer körperlicher Einwirkung auf das Opfer körperliche Auswirkungen haben kann (z.B. bei Präsentation einer Spinne gegenüber einem Menschen mit ausgeprägter Arachnophobie, der daraufhin in Schockstarre verfällt). Diese Fälle dürften aber die Ausnahme und Nötigungsopfern mit besonderen Eigenschaften oder einer speziellen Konstitution vorbehalten sein und können daher nicht bereitwillig zum Regelfall umgedeutet werden.[123] Dass die psychische Empfindung der Angst etwa körperliche Reaktionen wie z.B. Schweißausbruch, erhöhten Puls etc. auslöst, bedeutet demzufolge noch nicht, dass derjenige, der einem anderen Angst bereitet, Gewalt im Sinne des Nötigungstatbestandes anwendet. Notwendig erscheint ein solcher Kniff ohnehin nicht, da in diesen Fällen in der Regel eine Drohung mit einem empfindlichen Übel anzunehmen sein dürfte. Dies gilt etwa entgegen der Rechtsprechung (Rn. 35) für das Vorhalten einer durchgeladenen und entsicherten Waffe[124] sowie für das Drängeln im Straßenverkehr.

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Die Täterseite ist bei alledem zwar nicht völlig zu vernachlässigen. Schon aus dem Umstand, dass es sich bei der Gewalt um ein Nötigungsmittel handelt, ist zu schlussfolgern, nicht allein auf die Auswirkungen dieses Mittels abzustellen, sondern auch deren Herbeiführung in den Blick zu nehmen. Insoweit dürfte es aber genügen, auf die unter anderem in der Rechtsprechung nach wie vor geforderte körperliche Tätigkeit abzustellen. Eine erhebliche Kraftentfaltung ist indessen nicht erforderlich. Zusammenfassend lässt sich daher Gewalt etwa als „physisch ausgeübter und physisch wirkender Zwang“ definieren.[125]