Handbuch des Strafrechts

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B. Grundfragen

I. Verfassungsrechtliche Grundfragen

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Mit den soeben skizzierten Schwierigkeiten, den Anwendungsbereich des Straftatbestandes der Nötigung bereits durch einen geeigneten Gesetzeswortlaut sinn- und maßvoll zu bestimmen, sind Konflikte mit dem Bestimmtheitsgrundsatz vorprogrammiert. Nach dem Bestimmtheitsgrundsatz als Teil des auch verfassungsrechtlich in Art. 103 Abs. 2 GG niedergelegten Gesetzlichkeitsprinzips (allgemein hierzu → AT Bd. 1: Stefanie Schmahl, Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Strafrecht, § 2 Rn. 48 ff.) muss der Gesetzgeber die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich des jeweiligen Straftatbestandes für den Normadressaten erkennbar sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen.[23] Strafvorschriften müssen mit anderen Worten „klar das Verbotene von dem Erlaubten abgrenzen“.[24] Diese Verpflichtung des Gesetzgebers soll zum einen den notwendigen rechtsstaatlichen Schutz des Normadressaten gewährleisten, soll doch jedermann vorhersehen können, welches Verhalten verboten und welches Verhalten hingegen mit Strafe bedroht ist. Zum anderen soll dadurch der strenge Gesetzesvorbehalt und somit garantiert werden, dass allein der Gesetzgeber selbst (und nicht etwa die vollziehende oder die rechtsprechende Gewalt) über die Voraussetzungen der Bestrafung entscheidet.[25] Nur durch die möglichst exakte Festlegung des strafbaren Verhaltens wird einer Norm überhaupt eine verhaltenslenkende Wirkung zuteil.[26]

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An der Vereinbarkeit des Nötigungstatbestandes mit dem Bestimmtheitsgrundsatz wurden wiederholt Zweifel geäußert.[27] Im Mittelpunkt der Kritik stehen vor allem das Nötigungsmittel der Gewalt sowie die Verwerflichkeitsklausel in § 240 Abs. 2 StGB. Dem Gewaltbegriff wird unter anderem vorgeworfen, den strafbaren Bereich nicht ausreichend erkennen zu lassen und somit einer verhaltensdeterminierenden Funktion zu entbehren.[28] Diese fehlende Konkretisierung seitens des Gesetzgebers führe dazu, dass sich die Rechtsprechung um eine nähere Bestimmung des Tatbestandes bemühe, dadurch freilich aber den strengen Gesetzesvorbehalt missachte und ihre richterliche Kompetenz überschreite.[29] An dem Korrektiv der Verwerflichkeit wird nicht zuletzt bemängelt, lediglich die verlorene Indizfunktion des Gewaltbegriffs auf andere, mangels Richtlinien für die erforderliche Wertung nicht minder unbestimmte Weise zu kompensieren. Dies bedeute indessen wiederum, die Entscheidung über die Strafbarkeit in die Hände der Gerichte zu legen.[30]

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Diese Kritikpunkte sind durchaus beachtlich. Allerdings ist der Gesetzgeber auch im Strafrecht nicht daran gehindert, Generalklauseln und auslegungsfähige Begriffe zu verwenden, die formal nicht eindeutig allgemein umschrieben werden können und in einem besonderen Maße der Auslegung durch den Richter bedürfen. Vielmehr ist der Gesetzgeber auf den Rückgriff auf solche „flüssigen Begriffe“ aufgrund der Vielgestaltigkeit des Lebens sogar angewiesen.[31] Dies gilt nicht zuletzt bei Tatbeständen wie der Nötigung, die vor der Herausforderung stehen, aus zahl- und variantenreichen Verhaltensweisen die strafwürdigen herauszufiltern und insbesondere von den sozialadäquaten zu trennen, obwohl sich die Beurteilung einer Handlung als strafwürdig bzw. sozialadäquat erst aufgrund einer Wertung unter Berücksichtigung der widerstreitenden Freiheiten ergibt. Insoweit kann der Gesetzgeber nur denjenigen Grad an tatbestandliche Präzision aufbringen, den der Regelungsbereich überhaupt zulässt.[32] Überzogene Anforderungen an die Bestimmtheit einer Strafvorschrift, etwa in Gestalt eines völligen Verzichts auf normative Tatbestandsmerkmale unter Inkaufnahme einer – ihrerseits wiederum zu ungerechten Ergebnissen führenden – zu starren und kasuistischen Regelung, sind daher jedenfalls bei § 240 StGB nicht angebracht, zumal der Straftatbestand mit seinem derzeit in Abs. 1 angedrohten Höchstmaß einer Freiheitsstrafe von drei Jahren einen eher moderaten Strafrahmen aufweist, aus dem keine erhöhten Anforderungen an die Bestimmtheit resultieren.[33] Es dürfte daher denjenigen Stimmen beizupflichten sein, die den Straftatbestand der Nötigung als (noch) ausreichend bestimmt ansehen,[34] wie dies auch das BVerfG für das Nötigungsmittel der Gewalt entschieden hat.[35] Dies schließt freilich nicht aus, sich für eine Neufassung der Vorschrift auszusprechen.[36]

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Zudem obliegt es sodann der Rechtsprechung, das nicht zu leugnende Maß an „Unbestimmtheit“ nicht weiter durch eine extensive Auslegung zu erhöhen, die das Ausmaß der bestehenden Rechtsunsicherheit noch zu vergrößern vermag. Vielmehr sind die Gerichte dazu angehalten, den Anwendungsbereich einer Norm im Wege der Auslegung zu präzisieren und zu konkretisieren und dadurch verbleibende Unklarheiten nach Möglichkeit auszuräumen.[37] Auch wenn mit diesem Präzisierungsgebot eine nicht unbedenkliche Verlagerung von Kompetenzen vom Gesetzgeber auf die Rechtsprechung einhergeht,[38] über deren Zulässigkeit nicht nur im Einzelfall vortrefflich gestritten werden kann, scheint bei der Nötigung angesichts der Schwierigkeit der Abgrenzung von Freiheitssphären kein Weg daran vorbeizuführen, der Rechtsprechung eine erhöhte Konkretisierungsleistung zu übertragen.

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Exemplarisch kann für das Zusammenspiel von Gesetzgebung und Rechtsprechung auf die Strafbarkeit von Sitzblockaden als Nötigung im bekannten Laepple-Fall, benannt nach dem angeklagten Vorsitzenden des Arbeitskreises Kölner Hochschulen (AKH), der wegen geplanter Fahrpreiserhöhungen Sitzstreiks an zwei wichtigen Kreuzungspunkten des Kölner Straßenbahnverkehrs vorbereitete und durchführte, verwiesen werden (ergänzend Rn. 36 und 95). Nach Ansicht des BGH stellte es Gewalt dar, sich auf den Gleiskörper einer Straßenbahn zu setzen oder zu stellen, um herannahende Straßenbahnfahrer zum Anhalten ihrer Fahrzeuge zu motivieren. Schließlich werde dadurch mittels geringen körperlichen Kraftaufwands ein psychisch determinierter Prozess gestartet, der für den Straßenbahnfahrer einen unwiderstehlichen Zwang hervorrufe, sein Fahrzeug zu stoppen, um keinen Totschlag zu begehen.[39] Rein psychisch wirkender Zwang wurde somit einer körperlichen Einwirkung gleichgestellt (zur Kritik Rn. 37 ff.). Das BVerfG hielt insoweit fest, dass die Gewaltalternative des Nötigungstatbestandes dem Bestimmtheitsgebot zwar genüge,[40] bewertete indessen die Auslegung durch die Gerichte im Laufe der Zeit unterschiedlich. Zunächst wurde die Rechtsprechung zur Beurteilung von Sitzdemonstrationen als Gewalt im Sinne des § 240 StGB – wenngleich nur aufgrund einer Stimmengleichheit im Senat von vier zu vier – noch nicht als mit Art. 103 Abs. 2 GG unvereinbare Interpretation angesehen, welche die Grenzen zulässiger Auslegung überschreite.[41] In einer weiteren Entscheidung gut acht Jahre später befand es hingegen anlässlich einer Blockadeaktion als Protest gegen die Stationierung atomarer Kurzstreckenraketen die sog. Vergeistigung des Gewaltbegriffs durch die Rechtsprechung mit einer Mehrheit von fünf zu drei Stimmen als nicht mehr mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar.[42] Das Analogieverbot setze nämlich nicht nur der tatbestandsergänzenden, sondern auch der tatbestandsausweitenden Interpretation von Normen Grenzen. Die Auslegung dürfe nicht dazu führen, die strafbarkeitsbegrenzende Wirkung von Tatbestandsmerkmalen im Ergebnis wieder aufzuheben.[43] Ausdrücklich betont wurde hierbei die Funktion der tatbestandlichen Nötigungsmittel, unter sämtlichen denkbaren Nötigungen die strafwürdigen Zwangseinwirkungen zu bestimmen und die notwendigen, unvermeidlichen oder alltäglichen Beeinflussungen herauszufiltern. Diese Funktion würde das Tatbestandsmerkmal der Gewalt jedoch bei der beanstandeten Auslegung der Gerichte weitgehend verlieren. Es lasse sich daher nicht mehr mit ausreichender Sicherheit vorhersehen, welches körperliche Verhalten mit psychischer Einwirkung auf einen anderen verboten ist.[44] Eine solche Ausweitung des Gewaltbegriffs lasse sich schließlich auch nicht dadurch rechtfertigen, auf diesem Weg unerwünschte Strafbarkeitslücken zu schließen; dies sei vielmehr Sache des Gesetzgebers.[45]

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Es bleibt festzuhalten, dass die Herausforderung bei der Formulierung einer Strafvorschrift der Nötigung, welche die Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit im Allgemeinen vor strafwürdigen Einflussnahmen schützen soll, vor allem darin liegt, durch eine allgemeine tatbestandliche Formulierung einerseits sämtliche vielgestaltigen strafwürdigen Verhaltensweisen zu erfassen und zugleich andererseits alle nicht mit den Mitteln des Strafrechts zu verfolgende, sozialadäquate oder jedenfalls hinnehmbare Handlungen herauszufiltern. Zu diesem Zweck wird in Deutschland (zur Rechtslage in Österreich und in der Schweiz Rn. 116 ff.) zunächst ein sehr extensiver Anwendungsbereich der Nötigung begründet, indem der tatbestandliche Erfolg jegliches Handeln, Dulden und Unterlassen und somit – jedenfalls nach herrschendem, vis absoluta einschließendem Verständnis (Rn. 63 und 65) – im Grunde sämtliche Reaktionen des Genötigten umfasst. Die Filterfunktion, die Strafbarkeit nicht strafwürdiger Verhaltensweisen wieder auszuschließen, übernimmt dann zum einen die abschließende Aufzählung der Nötigungsmittel der Gewalt und der Drohung mit einem empfindlichen Übel; andere Einflussnahmen scheiden folglich bereits tatbestandlich aus. Wegen dieser Funktion der Nötigungsmittel ist es – worauf auch das BVerfG hingewiesen hat (Rn. 12) – von wesentlicher Bedeutung, diese Nötigungsmittel nicht zu extensiv auszulegen und ihnen dadurch wieder jegliche beschränkende Wirkung zu nehmen. Zum anderen und nicht zuletzt soll die Verwerflichkeitsklausel in § 240 Abs. 2 StGB den Anwendungsbereich der Nötigung maß- und sinnvoll begrenzen. Dadurch handelt es sich bei der Nötigung um einen der wenigen sog. offenen Straftatbestände, deren Unrechtsgehalt sich im Einzelfall nicht bereits aus der Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale ergibt, sondern der positiven Feststellung der Verwerflichkeit der Relation von Mittel und Zweck bedarf. Als weiteres Korrektiv wird zudem erwogen, den subjektiven Tatbestand einzuschränken, indem bzgl. des Nötigungserfolgs entgegen dem Wortlaut der Vorschrift nicht bedingter Vorsatz genügen soll, sondern Absicht gefordert wird (Rn. 88).

 

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Wie mit diesen „Stellschrauben“ des Nötigungstatbestands zu verfahren bleibt, obliegt insbesondere der Rechtsprechung. Sie trägt nicht nur die Verantwortung, im konkreten Einzelfall zu einem billigen Ergebnis unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände zu gelangen, sondern darüber hinaus den Anwendungsbereich des Straftatbestandes der Nötigung näher zu bestimmen und dadurch einen angemessenen Ausgleich zwischen kollidierenden Freiheitssphären herbeizuführen. Dieses mitunter schwierige Unterfangen stellt sich bei weitem nicht nur bei dem bereits genannten Beispiel der Sitzblockade. Vielmehr gibt es zahlreiche weitere Fallgruppen nötigender Verhaltensweisen, über deren Subsumtion unter die Merkmale der Nötigung kontrovers diskutiert werden kann, sei es etwa rücksichtsloses Verhalten im Straßenverkehr (Rn. 96 ff.) oder auch die Anwendung diverser Druckmittel im Rechtsverkehr (Rn. 100 ff.). Eine konkretisierende, jedenfalls nicht zu weite Auslegung ist insbesondere bei dem Gewaltbegriff, aber auch bei dem weiteren Nötigungsmittel der Drohung mit einem empfindlichen Übel angezeigt. Außerdem bleibt die Verwerflichkeitsklausel in Abs. 2 näher zu konturieren, damit sie ihre Korrektivfunktion überhaupt wahrnehmen kann.

II. Rechtshistorische Hintergründe, Gefahren und rechtspolitische Überlegungen

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Der historische Ursprung der Nötigung wird im crimen vis verortet. Von diesem im römischen Recht entstandenen Delikt wurden unter anderem Gewalt gegen Gesandte, die Nötigung von Richtern, das bewaffnete Erscheinen an öffentlichen Orten, das Besetzen öffentlicher Gebäude und Plätze, das Bewirken von Aufruhr sowie einzelne Formen der Erpressung erfasst.[46] Entsprechende Verbote wurden allerdings nicht etwa zum Schutz der persönlichen Verhaltensfreiheit erlassen, sondern um vor Beeinträchtigungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu bewahren. Insoweit diente das crimen vis als Auffangtatbestand, sofern andere Delikte nicht in Betracht kamen.[47]

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Allerdings lässt sich keine kontinuierliche Entwicklung des Nötigungstatbestandes aus dem crimen vis feststellen.[48] Vielmehr vollzog sich in den Partikulargesetzbüchern des Deutschen Bundes ein Wechsel des Nötigungstatbestandes von einem Friedensstörungsdelikt hin zum Schutz der persönlichen Freiheit.[49] Als maßgeblich für diese Entwicklung wird das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 angesehen, das in § 1077 Teil II Titel 20 unter Strafe stellte, wenn jemand „einen Menschen, der seines Verstandes mächtig ist, mit Gewalt festhält, einsperret, oder Wider seinen Willen zu etwas nöthiget“.[50] In seiner ursprünglichen Fassung von 1871 erfasste § 240 StGB, dass jemand „einen Anderen widerrechtlich durch Gewalt oder durch Bedrohung mit einem Verbrechen oder Vergehen zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nöthigt“. Es handelte sich in den ersten Jahren noch um ein reines Antragsdelikt. Eine Verwerflichkeitsklausel existierte damals nicht.

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Der Vorläufer der heutigen Verwerflichkeitsklausel wurde durch die Strafrechtsangleichungsverordnung vom 29. Mai 1943[51] unter dem NS-Regime eingeführt, mit der zudem das Nötigungsmittel der Drohung zur heute noch gültigen Fassung der „Drohung mit einem empfindlichen Übel“ erweitert wurde. Die Änderung belegt, dass das naturgemäß große Maß an Unbestimmtheit eines Nötigungstatbestandes dazu verführen kann, bewusst für eine willkürliche Gesetzgebung ausgenutzt zu werden. Nach dem eingefügten § 240 Abs. 2 StGB war die Tat rechtswidrig, „wenn die Anwendung der Gewalt oder die Zufügung des angedrohten Übels zu dem angedrohten Zweck dem gesunden Volksempfinden widerspricht“. Der Begriff des gesunden Volksempfindens, der auch bei der Aufhebung des strafrechtlichen Analogieverbotes durch das Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs vom 28. Juni 1935[52] bemüht wurde, wies jedoch eine deutlich nationalsozialistische Färbung auf und steht exemplarisch für den in der nationalsozialistischen Strafgesetzgebung vermehrt praktizierten Rückgriff auf Generalklauseln.[53] Durch das 3. StrÄndG vom 4. August 1953[54] wurde sodann die heutige Fassung der Verwerflichkeitsklausel erlassen, in der insbesondere der Terminus des gesunden Volksempfindens durch das Merkmal „verwerflich“ ersetzt wurde.

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Die Geschichte des Nötigungstatbestandes zeigt die hohe Verantwortung beim Umgang mit einer von vornherein weniger bestimmten Norm, welche die Freiheitssphären der Bürger mit strafrechtlichen Sanktionen zu schützen und abzugrenzen versucht. Diese Verantwortung trifft – wie bereits ausgeführt (Rn. 8) – zunächst den Gesetzgeber (insbesondere bei Änderungen oder Ergänzungen der Norm z.B. um weitere Regelbeispiele bzw. Erlass spezieller Nötigungstatbestände), ebenso sodann die Rechtsprechung bei der Präzisierung der vagen Vorgaben im konkreten Einzelfall. Insoweit besteht – nicht zuletzt bei wertausfüllungsbedürftigen Begriffen wie dem Merkmal „verwerflich“ in § 240 Abs. 2 StGB – vor allem die Gefahr, die Bewertung eines Verhaltens als strafbare Nötigung, sei es bewusst oder unbewusst, auf die eigenen Anschauungen und Wertvorstellungen zu stützen anstatt einen allgemeingültigen Maßstab zu bemühen, mag dieser in einer zunehmend inhomogenen Gesellschaft auch nur schwierig oder kaum zu finden sein. Zu bedenken bleibt zudem, dass eine unklare Rechtslage die Bürger vorsichtshalber darauf verzichten lassen kann, von ihren Freiheiten in dem zustehenden Maße Gebrauch zu machen. Für den konkreten Fall nicht mehr vorhersehbare Einschränkungen der persönlichen Freiheit, sei es durch eine zu wenig bestimmte Gesetzesfassung des Nötigungstatbestandes und/oder durch eine zu extensive bzw. uneinheitliche Auslegung durch die Gerichte, können einen sog. chilling effect dergestalt nach sich ziehen, dass der Einzelne von einem zulässigen oder ggf. sogar sozialadäquaten Verhalten Abstand nimmt und dadurch über den Anwendungsbereich der Norm hinaus Freiheiten faktisch eingeschränkt werden.[55]

2. Abschnitt: Schutz der persönlichen Freiheit › § 5 Nötigung, Bedrohung und Zwangsheirat › C. Hauptteil

C. Hauptteil
I. Allgemeine Erläuterungen

1. Geschützte Rechtsgüter

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Als geschütztes Rechtsgut der Nötigung wird überwiegend die Freiheit der Willensbildung und Willensbetätigung angesehen.[56] Geschützt werden folglich sowohl die „theoretische“ Willensbildung als auch deren „praktische“ Umsetzung in die Tat als Willensbetätigung. Nur auf die Willensbetätigungsfreiheit abzustellen,[57] lasse außer Acht, dass es ohne einen gebildeten Willen bereits an der Grundlage für eine abgenötigte Handlung als willensgetragenem Verhalten fehle.[58] Lediglich die Willensbildungsfreiheit als geschütztes Rechtsgut anzusehen,[59] wird außer Gesichtspunkten der Billigkeit, die eine Gleichbehandlung von Eingriffen in die Willensbetätigungs- und Willensbildungsfreiheit nahelegen, der tatbestandliche Erfolg der Duldung entgegengehalten, für den ein entgegenstehender Wille des Genötigten „geradezu typisch“ sei.[60] Diesen Ansätzen ist aber jedenfalls zuzugestehen, dass im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte der Norm der Nötigungstatbestand nicht mehr zu einem „crimen vis“ (Rn. 15) werden darf, sondern stets eines Eingriffs in die persönliche Freiheit bedarf.[61]

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Nach anderer Ansicht soll allein die rechtlich garantierte Freiheit geschützt werden. Demnach würde etwa die zwangsweise Durchsetzung eines Anspruchs den Tatbestand der Nötigung nicht verwirklichen.[62] Hiergegen wird unter anderem eingewandt, die der Verwerflichkeit vorbehaltene normative Bewertung in den Tatbestand vorzuverlagern und dadurch (auch nur vermeidbare) Verbotsirrtümer zu Tatumstandsirrtümern aufzuwerten.[63] Zudem würde die Verfolgung des legitimen Ziels, andere zur Einhaltung von Rechtspflichten zu bewegen, von vornherein keine Nötigung mehr darstellen, auch wenn die Rechtsordnung durch Private zweckentfremdet durchgesetzt werden sollte (zur Mittel-Zweck-Relation bei der Verwerflichkeit hingegen Rn. 84).[64]

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Einen eigenen Willen können nur natürliche Personen bilden (und ebenso betätigen).[65] Bei juristischen Personen existieren zwar gesetzliche Verfahren, die eine Willensbildung ermöglichen. Doch handelt es sich hierbei stets um (privat-, insbesondere gesellschaftsrechtliche) Konstrukte, bei denen letztlich natürliche Personen darüber entscheiden, welchen Willen die juristische Person (z.B. eine GmbH oder eine AG) „bildet“. Wer eine juristische Person zu einem bestimmten Verhalten nötigen will, muss daher stets zunächst auf eine natürliche Person einwirken. Diese Beeinflussung bildet dann sogleich den tauglichen Anknüpfungspunkt für eine etwaige Strafbarkeit wegen Nötigung, so dass es sich auch aus praktischen Gesichtspunkten erübrigt, die Nötigung einer juristischen Person anzuerkennen.[66] Ohnehin bliebe fraglich, wie bei dem Nötigungsmittel der Gewalt in wohl herrschender, jedenfalls vorzugswürdiger Auslegung (Rn. 40) die erforderliche physische Zwangswirkung auf die juristische Person aussehen würde.

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Besondere Ausprägungen der allgemeinen Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit hat zunächst das Regelbeispiel in § 240 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 StGB im Blick. Es indiziert für den genannten Angriff auf die Willensfreiheit der Schwangeren (und die dadurch hervorgerufenen Gefahren für das Leben der Leibesfrucht) einen höheren Strafrahmen. Beeinträchtigungen spezieller Erscheinungsformen der Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit stellen zudem andere Vorschriften insbesondere, aber nicht nur des Achtzehnten Abschnitts des Besonderen Teils unter Strafe. Aus den §§ 232 ff. StGB darf insoweit exemplarisch auf die körperliche Fortbewegungsfreiheit als Rechtsgut sowohl des § 234 als auch des § 239 StGB sowie auf die von § 232 und § 232b StGB gewährleistete Selbstbestimmung über den Einsatz der Arbeitskraft verwiesen werden (siehe schon Rn. 5). Des Weiteren schützen etwa die §§ 249 ff. und § 255 StGB die Entscheidungsfreiheit des Genötigten im Zusammenhang mit Angriffen auf fremdes Vermögen. Daher wird z.B. die Erpressung auch als „vermögensschädigendes Freiheitsdelikt“ bezeichnet.[67]

 

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Soweit sich ein nötigendes Verhalten darin erschöpft, einen der insoweit spezielleren Tatbestände zu verwirklichen, geht die Nötigung in diesem auf und wird auf Konkurrenzebene verdrängt;[68] zur darüber hinaus gehenden Sperrwirkung des § 113 StGB → BT Bd. 4: Stephan Barton, Widerstand gegen die Staatsgewalt, § 20 Rn. 36 ff. Beispielsweise tritt die Nötigung hinter dem Raub zurück, wenn Gewalt oder Drohung zur Wegnahme einer fremden Sache eingesetzt werden und der Einsatz eines Nötigungsmittels allein diesem Zweck dient. Dagegen bleibt eine Strafbarkeit wegen Nötigung bestehen, wenn der Eingriff in die Willensbildungs- oder Willensbetätigungsfreiheit über die Beeinträchtigung der durch einen eigenen Straftatbestand geschützten Erscheinungsform hinaus geht und ihm somit eine eigenständige Bedeutung zukommt.[69] So liegt etwa Tateinheit zwischen Nötigung und sexueller Nötigung vor, wenn die Nötigung über die Vollendung des § 177 StGB hinaus andauert oder wenn damit weitere Anliegen verfolgt werden.[70]

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Die Straftatbestände der Zwangsheirat (§ 237 StGB) und der Bedrohung (§ 241 StGB) schützen die Eheschließungsfreiheit des Einzelnen, ob er überhaupt und ggf. wann und mit wem die Ehe eingeht,[71] bzw. den individuellen Rechtsfrieden, d.h. das Vertrauen des Einzelnen, vor erheblichen Bedrohungen durch das Recht geschützt zu werden.[72] Während die Strafvorschrift des § 237 StGB ihre Existenz nur der steigenden Aufmerksamkeit für die Interkulturalität und für kriminelle Erscheinungsformen mit einem kulturspezifischen Hintergrund verdanken dürfte (→ AT Bd. 1: Brian Valerius, Strafrecht und Interkulturalität, § 25 Rn. 20 ff.), handelt es sich bei der Bedrohung um eine schon seit Inkrafttreten des StGB 1872 existente eigenständige Vorschrift.[73] Die Zwangsheirat verdrängt den allgemeinen Tatbestand der Nötigung, sofern mit den Nötigungsmitteln der Gewalt oder der Drohung allein das Ziel der Eingehung einer Ehe erreicht werden soll.[74] Die Nötigung soll hingegen das lediglich abstrakte Gefährdungsdelikt der Bedrohung auch dann verdrängen, wenn die Nötigung nicht über das Versuchsstadium hinausgelangen sollte.[75]