Handbuch des Strafrechts

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4. Amtsbefugnisse im Besonderen

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Beim Handeln von Amtsträgern*Amtsträgerinnen kommt Amtsbefugnissen als speziellen Rechtfertigungsgründen eine besondere Bedeutung zu. Amtsträger*innen ist im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit unter bestimmten Voraussetzungen die Verwirklichung strafrechtlicher Tatbestände gestattet,[432] darunter auch die Anwendung von körperlicher Gewalt einschließlich der tatbestandlichen Verwirklichung der §§ 223 ff. StGB. Zum Zweck der Strafverfolgung beispielsweise sind tatbestandliche Körperverletzungen in Form körperlicher Eingriffe zulässig, wenn diese der Sachverhaltserforschung dienen. Dies bestimmt § 81a StPO bezüglich der beschuldigten Person, bei anderen Personen sind Eingriffe nur sehr eingeschränkt nach § 81c Abs. 2 StPO möglich. Ein gerechtfertigtes Handeln kann zudem bei strafprozessualen Festnahmen nach § 127 StPO vorliegen, außerdem bei Behandlungen nach Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB oder bei einer als notwendig befundenen Kastration nach § 2 KastrG.[433] Auch ein Schusswaffengebrauch durch Amtsträger*innen kann gerechtfertigt sein, eine dementsprechende Befugnis ist für Vollzugsbeamte*Vollzugsbeamtinnen des Bundes in §§ 9 ff. UZwG geregelt, für Soldaten*Soldatinnen und zivile Wachpersonen der Bundeswehr in §§ 15 ff. UZwBwG und für Polizeivollzugsbeamte*Polizeivollzugsbeamtinnen der Länder in den jeweiligen Länderpolizeigesetzen.[434] Generell ist bei derartigen staatlichen Eingriffen der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz strikt zu beachten (vgl. § 4 UZwG).

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Liegt für die jeweilige Handlung eine derart gesetzlich normierte Erlaubnis – aus öffentlich-rechtlicher Sicht eine Rechtsgrundlage, aus strafprozessualer Perspektive eine Amtsbefugnis, materiell-strafrechtlich ein Rechtfertigungsgrund[435] – vor und sind deren Voraussetzungen erfüllt, so ist die tatbestandsmäßige Handlung gestattet.[436] Für Betroffene solcher Maßnahmen besteht dann eine Duldungspflicht.[437] Scheitert die Rechtfertigung mittels der Amtsbefugnis, etwa weil deren Voraussetzungen nicht vorgelegen haben, kann die Tatbestandsverwirklichung durch das Amtsträger*innen handeln jedoch zur Strafbarkeit nach den §§ 223 ff. StGB führen.[438] Der Nichteintritt der rechtfertigenden Wirkung der Amtsbefugnis kann sich dabei aus ganz verschiedenen Umständen ergeben, zumal die Grenzen zwischen rechtmäßigem und rechtswidrigem Eingriffshandeln mitunter schmal und fließend sind. Auf die Art des Fehlers kommt es nicht an. Formelle Fehler führen ebenso wie materielle Fehler zur Rechtswidrigkeit und zum Scheitern der Rechtfertigung.[439] So stellt etwa die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK dar[440] und ist daher nicht nach § 81a Abs. 1 S. 2 StPO gerechtfertigt.[441]

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Umstritten ist die Frage, ob und inwieweit sich Amtsträger*innen neben den beschriebenen Amtsbefugnissen auch auf die allgemeinen Rechtfertigungsgründe, insbesondere die Notwehr nach § 32 StGB, berufen können, wenn sie sich selbst oder eine*n Dritte*n während der Dienstausübung verteidigen.[442] Relevant wird die Frage insbesondere beim polizeilichen Schusswaffengebrauch. Diese intensiv in Grundrechte eingreifende Form des unmittelbaren Zwangs ist mit speziellen Ermächtigungsnormen in den Polizeigesetzen des Bundes (vgl. § 10 UZwG) oder der Länder geregelt. Für die Abwehr rechtswidriger Angriffe sind die handelnden Amtsträgern*Amtsträgerinnen streng an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden. Damit sind die Möglichkeiten des*der Hoheitsträgers*Hoheitsträgerin enger gefasst als das allgemeine Notwehrrecht, das einen (erforderlichen) Waffeneinsatz grundsätzlich ohne Abwägung der Güter zulässt.[443] Fraglich ist also, wie der Fall von Amtsträgern*Amtsträgerinnen zu beurteilen ist, die zur eigenen Verteidigung oder der Verteidigung einer dritten Person im Rahmen der Erforderlichkeit ihre Waffe gebrauchen, deren Verhalten jedoch unverhältnismäßig ist, die Grenzen ihrer Amtsbefugnisse daher übersteigt, sodass die öffentlich-rechtlichen Voraussetzungen nicht vorliegen.

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Das Ergebnis, dass gerade von Berufs wegen zur Gefahrenabwehr verpflichtete Amtsträger*innen in ihren Verteidigungsmöglichkeiten stärker eingeschränkt sein sollen als jede im Rahmen von § 32 StGB handelnde Privatperson, erscheint auf den ersten Blick nicht zufriedenstellend. Aus diesem Grund vertritt insbesondere die Rechtsprechung, dass Amtsträger*innen sich auch während des Ausübung ihres Dienstes auf § 32 StGB berufen können.[444] Eine Stütze hierfür lässt sich im Wortlaut der speziellen Ermächtigungsnormen finden, da zumindest auf Bundesebene das „Recht zum Gebrauch von Schusswaffen auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften […] unberührt“ bleibt (vgl. § 10 Abs. 3 UZwG). Ähnlich formulieren dies die meisten[445] Landespolizeigesetze (vgl. § 54 Abs. 4 PolG NRW). Dieses Ergebnis wird von erheblichen Teilen der Literatur kritisiert. Manche lehnen den Rückgriff gänzlich ab,[446] da andernfalls eine „Superermächtigungsgrundlage“ entstünde, die öffentlich-rechtliche Gefahrenabwehr losgelöst vom allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ermöglichen würde.[447] Andere Stimmen wollen den Rückgriff auf die Notwehr in Abgrenzung zur Nothilfe beschränken.[448] Eine vermittelnde Ansicht spricht sich für eine Trennung der strafrechtlichen Konsequenzen und der öffentlich-rechtlichen Zulässigkeit aus. Überschreiten Amtsträger*innen also ihre öffentlich-rechtlichen Befugnisse und handeln gleichzeitig aber unter den Voraussetzungen des § 32 StGB, so handeln sie zwar in strafrechtlicher Hinsicht gerechtfertigt und können für ihr Handeln nicht belangt werden. Das Verhalten bleibt aber öffentlich-rechtlich betrachtet rechtswidrig und kann somit ggf. mit Disziplinarmaßnahmen o.Ä. geahndet werden.[449]

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Weithin unbestritten ist, dass die Anwendung von Folter durch Amtsträger*innen immer unzulässig ist. Solche Maßnahmen sind bereits durch öffentlich-rechtliche bzw. strafprozessuale Normen (vgl. § 136a StPO) sowie durch einschlägige Regelungen in den Landespolizeigesetzen verboten. Zudem stehen dem zwingende Normen des Verfassungs- und Völkerrechts entgegen (insbesondere Art. 104 Abs. 1 S. 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG sowie Art. 3 i.V.m. Art. 15 Abs. 2 EMRK).[450]

IV. Aktuelle und zukünftige Entwicklungen

1. Präventionsorientierung

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Entsprechend der zunehmenden gesellschaftlichen Ächtung von körperlicher Gewalt hat der Gesetzgeber den Schutz der körperlichen Unversehrtheit in den zurückliegenden Jahrzehnten kontinuierlich ausgeweitet. Dies bedeutete nicht nur eine Anhebung der Strafrahmen und einen Ausbau der Qualifikationen. Darüber hinaus ist auch eine gewisse Vorverlagerung der Strafbarkeit zu beobachten. So ist seit 1998 auch der Versuch der einfachen Körperverletzung strafbar (§ 223 Abs. 2 StGB). 2007 wurde durch das 40. StrÄndG der Tatbestand der Nachstellung (§ 238 StGB, vgl. dazu → BT Bd. 4: Eisele, § 6 Rn. 35 ff.) in das Strafgesetzbuch eingefügt.[451] Hierdurch sollten aus Sicht des Gesetzgebers bestehende Strafbarkeitslücken im Vorfeld von Körperverletzungs- und Freiheitsdelikten[452] geschlossen und ein besserer Opferschutz gewährleistet werden.[453] Das Rechtsgut soll in Anlehnung an § 241 StGB in einem „Frei sein vor Furcht“ bestehen,[454] was im Hinblick auf das Ultima-Ratio-Prinzip im Strafrecht fragwürdig erscheint.[455]

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Massive Bedenken ruft der Tatbestand des § 238 StGB auch wegen der Vielzahl der in ihm enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe hervor, wie „unbefugt“, „andere vergleichbare Handlung“, „schwerwiegend“, „Lebensgestaltung“. Insofern ist fraglich, ob der Tatbestand noch mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar ist. Die Rechtsprechung legte die Tatbestandsmerkmale der Nachstellung in der Praxis bisher restriktiv aus.[456] 2017 hat der Gesetzgeber die Nachstellung von einem Erfolgsdelikt in ein Eignungsdelikt umgewandelt und es aus dem Katalog der Privatklagedelikte gestrichen.[457] Nunmehr genügt es, wenn das unbefugte Nachstellen geeignet ist, die Lebensgestaltung der davon betroffenen Person schwerwiegend zu beeinträchtigen. Vor der Änderung bedurfte es einer tatsächlich eingetretenen Beeinträchtigung. Diese wurde nur dann angenommen, wenn das Opfer seine Lebensweise tatsächlich änderte, z.B. durch Umzug, Wechsel des Arbeitsplatzes etc.[458]

 

2. Häusliche Gewalt

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Ein recht verbreitetes Problem ist das der häuslichen Gewalt, die in der jüngeren Vergangenheit auch in der Praxis von Polizei und Strafverfolgung eine erhebliche Bedeutung erlangt hat. Ähnlich wie beim Gewaltbegriff (siehe Rn. 10 ff.) fehlt es bei der häuslichen Gewalt an einer einheitlichen Begriffsdefinition. Schwander geht dann von häuslicher Gewalt aus, „wenn Personen innerhalb einer bestehenden oder aufgelösten familiären, ehelichen oder eheähnlichen Beziehung physische, psychische oder sexuelle Gewalt ausüben oder androhen“.[459] Das am 1. Februar 2018 in Kraft getretene Gesetz zu dem Übereinkommen des Europarats vom 11. Mai 2011 zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (bekannt als Istanbul-Konvention) umfasst als häusliche Gewalt „alle Handlungen körperlicher, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt, die innerhalb der Familie oder des Haushalts oder zwischen früheren oder derzeitigen Eheleuten oder Partnerinnen beziehungsweise Partnern vorkommen, unabhängig davon, ob der Täter beziehungsweise die Täterin denselben Wohnsitz wie das Opfer hat oder hatte“ (vgl. Art. 3 b).

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Sozialwissenschaftlich fundierte Aussagen über die Verbreitung von häuslicher Gewalt zu treffen ist schwierig, da Erhebungen bei Delikten im sozialen Nahbereich sehr anspruchsvoll sind. Insbesondere bei stark tabuisierten Formen der Gewalt und im Bereich sehr enger Beziehungen[460] ist die Auskunftsbereitschaft der Befragten begrenzt und stark von der Befragungssituation abhängig.[461] Die vorliegenden Zahlen sind daher eher als Mindestwerte einzuordnen. Eine repräsentative Studie im Auftrag der Bundesregierung zum Thema Gewalt gegen Frauen in Deutschland kam 2003 zu dem Ergebnis, dass rund 25 % der in Deutschland lebenden Frauen Formen körperlicher (23 %) und/oder sexueller Gewalt (7 %) durch aktuelle oder frühere Beziehungspartner*innen erlebt haben.[462] Dabei handelte es sich um ein breites Spektrum unterschiedlich schwerwiegender Gewalthandlungen, deren Ausprägung und Kontext sich in den jeweiligen Paarbeziehungen ganz verschieden darstellen. Knapp ein Drittel (31 %) der Opfer gab an, in ihrem Leben lediglich eine Gewaltsituation erlebt zu haben; 33 % gaben an, mehr als zehn bis hin zu 40 solcher Situationen erlebt zu haben.[463] Zu ähnlichen Ergebnissen kommt die 2013 durchgeführte EU-Untersuchung „Gewalt gegen Frauen“, als bisher umfangreichste Erhebung auf EU-Ebene. Danach haben 22 % der Frauen körperliche und/oder sexuelle Gewalt in einer Partnerschaft erfahren.[464] 34 % der Opfer gaben an, dass durch den*die Täter*in mindestens vier verschiedene Formen körperlicher Gewalt (Stoßen, mit der flachen Hand/Faust geschlagen, Verbrennungen etc.) verwirklicht wurden.[465] Weiter ergab die Untersuchung, dass gerade Gewalt in der Partnerschaft zu verschiedenen Formen von psychischen Langzeitfolgen führt.[466] Es gibt zudem Erkenntnisse zur Gewaltausübung von Frauen an mit ihnen zusammenlebenden Männern, die relativ häufig sei, aber verhältnismäßig selten Verletzungen und Angst auslöse.[467]

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In den Fokus des Gesetzgebers ist das gesellschaftliche Problem der häuslichen Gewalt seit Ende der 1990er Jahre gerückt. Infolgedessen trat 2001 das Gewaltschutzgesetz in Kraft, wobei der Gesetzgeber häusliche Gewalt als die „am häufigsten auftretende Form der Gewalt“[468] einstufte. Das GewSchG setzte wegen der besonderen Schwierigkeiten im Bereich der häuslichen Gewalt nicht beim Strafrecht an, sondern entwickelte flexiblere Reaktionsformen. Konkret regelt das Gesetz gerichtliche Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt und Nachstellungen; es bezweckt somit primär den Schutz vor Gewalttaten, insbesondere häuslicher Gewalt, aber auch die Sicherstellung des zivilrechtlichen Schutzes gegen unzumutbare Belästigungen und andere Eingriffe in die Privatsphäre.[469] Es soll den Betroffenen zügig und einfach zu ihren Rechten verhelfen und ist lex specialis gegenüber der bisherigen analogen Anwendung von §§ 823, 1004 BGB.[470] Zu diesen Zwecken enthält das GewSchG Ermächtigungsgrundlagen für eine einstweilige Zuweisung der gemeinsamen Wohnung sowie weitere Schutzanordnungen, z.B. Kontakt- und Näherungsverbote.[471] Damit hat der Gesetzgeber auch dem Umstand Rechnung getragen, dass es Betroffenen weniger um eine Bestrafung des*der Täters*Täterin, sondern vor allem um Schutz vor weiteren Übergriffen geht.[472]

3. Besonderer Schutz bestimmter Berufsgruppen

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Für rechtspolitische Debatten hat in der jüngeren Vergangenheit die Frage gesorgt, ob bestimmte Berufsgruppen im Hinblick auf ihre körperliche Unversehrtheit eines besonderen strafrechtlichen Schutzes bedürfen. Nachdem verschiedene Polizeigewerkschaften diese Forderung für Polizeikräfte über Jahre hinweg lautstark erhoben hatten, ist der Gesetzgeber dem im Jahre 2017 nachgekommen und hat in Form des § 114 StGB (vgl. dazu → BT Bd. 4: Barton, § 20 Rn. 24 ff.) einen besonderen strafrechtlichen Schutz des individuellen Rechtsguts der körperlichen Unversehrtheit von Polizeikräften geschaffen.[473] Der Gesetzgeber hat diesen vor allem symbolischen Schritt mit der besonderen Schutzwürdigkeit bei der Dienstausübung begründet.[474] Der tätliche Angriff i.S.v. § 114 Abs. 1 StGB setzt keinen (Verletzungs-)Erfolg voraus; der Tatbestand ist – wie schon in § 113 StGB a.F.[475] – als unechtes Unternehmensdelikt ausgestaltet. Er ist bereits vollständig erfüllt, sobald durch das Unternehmen des tätlichen Angriffs eine konkrete Gefährdung des Rechtsgutes eingetreten ist.

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Im Anschluss an die Einführung dieses besonderen Schutzes von Polizeibeamten*Polizeibeamtinnen ist von Vertretern*Vertreterinnen anderer Berufsstände die Forderung erhoben worden, auch ihre jeweilige Berufsgruppe besonders zu schützen. Hierzu zählen etwa Lehrkräfte, ärztliches Personal und Mitarbeiter*innen in Ämtern. Nicht anders als bei der Polizei sind diese Ansinnen aus strafrechtlicher Sicht zweifelhaft und vor allem symbolischer Natur. Die körperliche Unversehrtheit der genannten Berufsgruppen ist bereits jetzt umfassend und mit massiven Strafdrohungen durch das Strafrecht geschützt. Die Einführung weiterer Sondertatbestände würde daher vor allem dem Ziel dienen, besondere Problemstellungen der einzelnen Berufe in Gesetzesform hervorzuheben.

4. Reformbestrebungen des Gesetzgebers

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Die Reformtätigkeit des Gesetzgebers weist im Bereich des Schutzes der körperlichen Unversehrtheit eine gewisse Ambivalenz auf. Zum einen ist für den 17. Abschnitt seit dem 6. StrRG wenig Bewegung zu konstatieren.[476] Dies lässt sich u.a. auf das restriktive Rechtsgutverständnis zurückführen, welches psychische Gewalt weitgehend ausschließt. Zum anderen und damit in Verbindung stehend wird ein gleichwohl bejahter Regelungsbedarf in anderen Abschnitten des StGB wie auch in anderen Rechtsgebieten umgesetzt. So wurde beispielsweise das Stalking als Nachstellung in § 238 StGB geregelt, der seit seiner Einführung bereits mehrfach ausgeweitet wurde.[477] Die Neufassung der §§ 113, 114 StGB[478] hat dazu geführt, dass der „tätliche Angriff“ auf Amtsträger*innen heute faktisch zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung pönalisiert ist.[479]

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Betrachtet man die Reformtätigkeit des Gesetzgebers der letzten Jahrzehnte, so ist der Bereich der Körperverletzungstatbestände – nicht anders als das sonstige Strafrecht[480] – von einer Tendenz der Ausweitung und Vorverlagerung von Strafbarkeit geprägt, auch wenn diese Entwicklung im Bereich der §§ 223 ff. StGB weniger stark ausgeprägt ist. Zwar wurden im Laufe der Zeit einzelne Delikte modifiziert oder gestrichen – z.B. der Vergiftungstatbestand, § 229 StGB a.F., welcher jedoch in den heutigen § 224 StGB überführt wurde.[481] Insbesondere die Einführung der Versuchsstrafbarkeit in § 223 Abs. 2 StGB und die Novellierung des § 224 StGB mit einer erheblichen Erhöhung des Strafrahmens durch das 6. StrRG stehen jedoch für eine Entwicklung der Verschärfung, ebenso wie die Einführung des § 226a StGB. Ein Vorstoß im Bundesrat zur Neuschaffung eines § 224a StGB, welcher die Körperverletzung aus niedrigen Beweggründen erfassen und extremistische Gewalttaten besonders bestrafen sollte, wurde indes überwiegend kritisiert und verlief schließlich im Sande.[482] Weitere Änderungen werden durch das europäische und internationale Recht angestoßen.[483]

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Weitgehend abseits der gesetzgeberischen Aufmerksamkeit werden in der Literatur zahlreiche Reformdiskussionen grundlegenderer Art geführt. Die prominenteste und älteste Diskussion dreht sich um die Einführung eines Sondertatbestandes für eigenmächtige ärztliche Heilbehandlungen.[484] Diverse Anstöße dazu wurden vom Gesetzgeber bisher nicht umgesetzt,[485] entsprechende Änderungen jedoch weiter beständig eingefordert.[486] Hinsichtlich § 227 StGB wird gefordert, dass die klassische rechtsdogmatische Problematik um die Unmittelbarkeit der Todesfolge gesetzgeberisch geklärt werden müsse.[487] Weiterhin wird bei § 228 StGB angeregt, dass für die Einwilligung nicht mehr an dem Merkmal der Sittenwidrigkeit festgehalten werden solle.[488] Eine weitere größere Reformüberlegung bezieht sich auf die strafrechtliche Handhabung von fahrlässigen Körperverletzungsdelikten im Straßenverkehr.[489] Vorschläge, die auf eine Herausnahme von Sachverhalten mit Straßenverkehrsbezug aus § 229 StGB zielen (vgl. bereits Rn. 74), wurden bisher vom Gesetzgeber aber nicht weiter aufgenommen.[490] Zudem wird diskutiert, ob bei § 229 StGB die Bestrafung von fahrlässigen Bagatellen angesichts des oftmals geringen Unrechts- und Schuldgehalts adäquat ist.[491]

1. Abschnitt: Schutz von Leib und Leben › § 4 Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit › D. Sonstiges

D. Sonstiges

I. Historische Entwicklung der Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit im deutschen StGB

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Die Strafbarkeit von Delikten gegen die körperliche Unversehrtheit (traditionell: Körperverletzungsdelikte) kennt die deutsche Strafgesetzgebung seit jeher, wenn auch die namentliche Bezeichnung und der Umfang der inkriminierten Handlungen einem Wandel unterlagen. Ausgehend von einzelnen aufgezählten Körperverletzungsvarianten schon im Zwölftafelgesetz (451–449 v.Chr.) wurde in der Folge nach dem weiten Verständnis des römischen Rechts als „injuria“ jegliche körperliche und seelische Misshandlung erfasst.[492] Auch das germanische Recht kannte die Körperverletzung als eigenen Deliktstypus, welcher im Hinblick auf äußerlich erkennbare Wunden, Verstümmelungen und sonstige Beschädigungen des Körpers weiter ausdifferenziert wurde.[493] In der peinlichen Gerichtsordnung von Karl V. aus dem Jahre 1532 verlor sich die Körperverletzung als eigenständiges Delikt.[494] Die Constitutio Criminalis Carolina erfasste die Körperverletzungsdelikte nur in Sonderfällen, erst ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelte sich – offenbar durch die Gerichtspraxis – ein eigener Begriff der Körperverletzung (violatio corporis).[495]

 

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Die die Rechtslage bis in die Gegenwart prägende Definition der Körperverletzung stammt von Feuerbach und entspricht der Kodifikation in Art. 178 BayStGB I. Teil aus dem Jahr 1831: „Wer (…) einen Anderen an seinem Körper misshandelt, oder dessen Gesundheit durch Verwundung, Verletzung oder sonst auf irgendeine Weise beschädiget, soll in folgenden Fällen des Verbrechens der Körperverletzung schuldig geachtet werden“. Diese einseitige Fixierung auf den Körper prägt das deutsche Rechtsverständnis bis heute. Rein seelische Beeinträchtigungen werden außerhalb von Sondertatbeständen grundsätzlich nicht erfasst.[496] Eine bedeutsame Ausnahme ist der 1912 eingefügte § 223a Abs. 2 StGB,[497] der am 26. Mai 1933 durch Gesetz[498] in § 223b StGB überführt wurde und schließlich in den heutigen § 225 StGB mündete, der beispielsweise im Rahmen des Quälens auch seelische Schmerzen erfasst.[499] Im preußischen StGB von 1851 erfolgte nach Vorbild des bayerischen StGB im 16. Titel eine Gruppierung der Körperverletzungsdelikte in §§ 187 ff. PrStGB. Nachdem das Delikt der Körperverletzung mit Todesfolge in den Partikulargesetzen der deutschen Länder teils als Tötungsdelikt, teils als Körperverletzungsdelikt aufgefasst worden war, wurde es durch § 194 PrStGB als Körperverletzungsdelikt festgeschrieben.[500] Das RStGB aus dem Jahre 1871 nahm die Entwicklung des PrStGB auf und kodifizierte die teilweise bis heute bestehenden Regelungen im 17. Abschnitt des RStGB in §§ 223 ff. RStGB.

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Diesen Ort bewahrten sich die Körperverletzungsdelikte, die im Kernbereich lange nicht geändert wurden, bis heute.[501] Schon durch die Strafrechtsnovelle vom 26. Februar 1876[502] wurde die gefährliche Körperverletzung als damaliger § 223a StGB eingeführt.[503] Der Grundtatbestand des § 223 StGB erfuhr aber erst durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28. Oktober 1994[504] eine wesentliche Änderung in Form einer Ausweitung des Strafrahmens, die eine (symbolische) Angleichung an die Strafrahmen der Vermögensdelikte darstellte.[505] Einige wesentliche strukturelle Änderungen erfuhren die Tatbestände der §§ 223 ff. StGB durch das 6. StrRG vom 26. Januar 1998.[506] Der Abschnitt wurde in „Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit“ umbenannt, ohne dass damit eine sachliche Änderung verbunden gewesen wäre.[507] Zudem wurden die Tatbestände neu nummeriert und insbesondere die gefährliche Körperverletzung in § 224 StGB neu gefasst.[508] Gestrichen wurden § 228 StGB a.F. (Führungsaufsicht), § 229 StGB a.F. (Vergiftung) und § 233 StGB a.F. (wechselseitig begangene Straftaten). Zudem wurde in § 223 Abs. 2 StGB der Versuch bei der einfachen Körperverletzung unter Strafe gestellt, um vermeintlich bestehende Wertungswidersprüche zu §§ 242, 246, 263 und 303 StGB zu egalisieren.[509] Die jüngste Änderung des Abschnitts war die Einfügung von § 226a StGB (Verstümmelung weiblicher Genitalien) durch das 47. StrÄndG vom 24. September 2013,[510] was insbesondere angesichts der erheblichen Nachweisprobleme eher als symbolisches Strafrecht zu bewerten ist (siehe näher oben Rn. 61).[511]