Handbuch des Strafrechts

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3. Kausalität und Produkthaftung

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Für die Vollendung des Tatbestands ist bei allen Körperverletzungsdelikten der §§ 223 ff. StGB eine kausale Beziehung zwischen Tathandlung und dem eingetretenen tatbestandlichen Erfolg notwendig, da – abgesehen von § 231 StGB – sämtliche dieser Delikte Erfolgsdelikte sind. Im Regelfall ist bei einfachen tatsächlichen Umständen ohne große Probleme feststellbar, dass eine bestimmte Handlung für die Verletzung ursächlich geworden ist, also nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele. Es gibt jedoch verschiedene Fallgruppen, bei denen der Nachweis der Kausalität Probleme bereitet.

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Als problematisch erweisen sich bei der Körperverletzung insbesondere Fälle der Übertragung von Virus-Krankheiten, wie insbesondere das AIDS-Virus (HIV), aber auch Hepatitis-Viren der verschiedenen Gruppen (A, B und C).[303] Dies gilt vor allem auch, da die (teils unbemerkte) Infektion und der Ausbruch der Krankheit oftmals zeitlich auseinanderfallen. Grundsätzlich erfüllt bereits die Übertragung eines solchen Virus nach überwiegender Auffassung den Tatbestand des § 223 Abs. 1 StGB, des § 224 Abs. 1 Nr. 1 und ggf. auch Nr. 5 StGB.[304] Abhängig von dem eingetretenen Erfolg und der subjektiven Komponente können auch eine schwere Körperverletzung (§ 226 StGB) sowie eine Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) verwirklicht sein.[305] Ebenso ist eine fahrlässige Körperverletzung möglich, etwa wenn mit Hepatitis B infiziertes ärztliches Personal eine Operation vornimmt und den Virus auf den*die Patienten*Patientin überträgt.[306] Nach überwiegender Auffassung ist die Gesundheitsschädigung mit der Infektion vollendet. Das gilt unabhängig davon, ob der Krankheitsausbruch ungewiss oder voraussehbar lange dauern wird, da mit abgeschlossener Übertragung bereits ein Zustand einer andauernden und irreparablen Infektion vorliegt.[307]

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Die Kausalität erweist sich – neben Fragen des Vorsatzes und der Selbstgefährdung – bei diesen Fällen insofern als problematisch, als nachzuweisen ist, dass das jeweilige Handeln – bei HIV häufig Geschlechtsverkehr einer infizierten Person mit einer nicht infizierten Person – tatsächlich den konkreten Erfolg, also die Infektion mit dem Virus, verursacht hat. Dies ist meist nicht möglich, da der konkrete Infektionsweg im Nachhinein in der Regel nicht rekonstruiert werden kann und andere Infektionsmöglichkeiten nicht hinreichend sicher ausgeschlossen werden können, sodass eine Strafbarkeit wegen eines vollendeten Körperverletzungsdelikts regelmäßig scheitert.[308] Es bleibt daher bei der Strafbarkeit wegen Versuchs. Um diese vermeintliche Strafbarkeitslücke zu füllen, schlägt Herzberg vor, die Vollendung schon mit dem gefährlichen und unaufgeklärten Körperkontakt zu bejahen.[309] Er stellt dabei auf den rechtsgutsbezogenen Irrtum ab, da die rechtsgutsinnehabende Person nichts über die Infektionsgefährlichkeit wusste. Dies sei vergleichbar mit dem ärztlichen Heileingriff ohne Aufklärung der zu behandelnden Person. Dieser Vergleich ist allerdings insofern nicht zutreffend, als bei der Übertragung des HI-Virus, anders als bei dem ärztlichen Heileingriff, keine Substanzveränderung bei unaufgeklärtem Sexualkontakt vorgenommen wird. Die Übertragung des HI-Virus erfolgt durch Kontakt der Körperflüssigkeiten und nicht durch unmittelbare körperliche Beeinträchtigung. Der § 223 StGB würde zu einem Gefährdungstatbestand umgedeutet, da im Zeitpunkt des Geschlechtsaktes noch nicht feststeht, ob das Virus tatsächlich übertragen wurde. Ein solcher Gefährdungstatbestand entspricht aber nicht dem Wortlaut der Norm als Verletzungsdelikt. Vielmehr bräuchte es dafür ein „allgemeines Gesundheitsgefährdungsdelikt“[310] im StGB. Dafür besteht jedoch keine Notwendigkeit, da die Versuchsstrafbarkeit möglich ist und Beweisschwierigkeiten in Einzelfällen keine abstrakt-generelle Neuregelung entgegen der Systematik der Körperverletzungsdelikte erforderlich machen.

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Bei der fahrlässigen Körperverletzung (§ 229 StGB) muss das Außerachtlassen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt für den eingetretenen Taterfolg kausal geworden sein. Wäre der Erfolg auch bei verkehrsgerechtem Verhalten eingetreten, so entfällt die Kausalität.[311] Anhand der Feststellung des konkreten Pflichtverstoßes muss zunächst das pflichtgemäße Handeln bestimmt und dann überprüft werden, ob dies zum Ausbleiben des Erfolges geführt hätte.[312] Das hypothetische Verhalten Dritter, das auch bei pflichtgemäßem Handeln des*der Täters*Täterin zum tatbestandlichen Erfolg geführt hätte, ist allerdings nicht beachtlich, wenn dadurch ein komplett anderes Unfallgeschehen entstanden wäre.[313] Daher können sich nach der Rechtsprechung Ärzte*Ärztinnen eines psychiatrischen Krankenhauses durch eine sorgfaltspflichtwidrige Gewährung von Lockerungen im Maßregelvollzug nach § 229 StGB strafbar machen, wenn ein*eine Untergebrachte*r im Rahmen der Lockerungen entsprechende Straftaten begeht und dies vorhersehbar war.[314]

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Probleme ergeben sich im Kausalitätsbereich häufig in Fällen der Produkthaftung, bei denen zu klären ist, ob durch Produktfehler Körperverletzungen eingetreten sind.[315] Zwar kommt hier je nach Fallgestaltung auch eine vorsätzliche Körperverletzung in Betracht, die Praxis geht aber zumeist von § 229 StGB aus. In beiden Konstellationen stellen sich die gleichen Probleme, nämlich erstens ob und inwiefern das Handeln der verantwortlichen Personen bei dem*der Produkthersteller*in – der*die Zwischenhändler*in ist mit dem Fehler in der Regel mangels Überprüfungspflichten nicht in Verbindung zu bringen – für den bei dem*der Verbraucher*in eingetretenen Erfolg ursächlich geworden ist. Zweitens erweist es sich regelmäßig als problematisch, dass der Erfolg nicht nur auf eine, sondern auf mehrere mögliche Ursachen zurückgeführt werden kann. In Fällen der alternativen Kausalität bestehen mehrere Ursachen, die jede für sich ausreichend gewesen wären. Insbesondere bei der kumulativen Kausalität, d.h. wenn mehrere Ursachen erst gemeinsam zu einem Erfolg führen und für sich genommen nicht ausgereicht hätten, führen die Kausalitätstheorien zu kontroversen Ergebnissen.[316] Schon im Conterganfall stellten sich an dieser Stelle erhebliche Probleme bei der Bewertung, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse überhaupt fachlich anerkannt sind und vom Gericht bei der Bewertung der Kausalität angewendet werden dürfen.[317] Grundsätzlich ist bei diesen Gemengelagen verschiedener Handlungen und potentieller Schadensursachen vom Gericht einerseits zu klären, ob hinreichend sicher eine (Mit-)Verursachung durch das jeweilige Produkt festgestellt werden kann und andererseits, wie diese festgestellte Kausalität im Rahmen der Unterscheidungen zwischen aktivem Tun/Unterlassen und Täterschaft/Teilnahme zu bewerten ist.

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Im sog. Ledersprayfall entwickelte der BGH unter Rückgriff auf eine „generelle Kausalität“[318] eine Richtlinie für die tatrichterlichen Feststellungen bei komplexen Produkthaftungsfällen. Danach reicht es für die Feststellung des Kausalverlaufs und die Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen in Mittäterschaft aus, dass „die, wenn auch nicht näher aufzuklärende inhaltliche Beschaffenheit des Produkts, schadensursächlich war“[319]. Es muss nicht aufgeklärt und nachgewiesen werden, welcher konkrete Wirkstoff oder welche Substanz des Produkts zu der Schädigung geführt hat, auf welchem Weg die Körperverletzung also konkret verursacht wurde.[320] Es müssen jedoch alle anderen potentiellen Schadensursachen ausgeschlossen werden können, sodass die Schädigung in irgendeiner Weise („generell“) auf das Inverkehrbringen des in Rede stehenden Produkts zurückgeführt werden kann.[321]

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Der Ledersprayfall deutete zudem Kausalitätsprobleme bei Gremienentscheidungen an.[322] Solche Probleme bei Kollegialentscheidungen stellen sich vor allem deshalb, weil nach der c.s.q.n.-Formel der tatbestandliche Erfolg gerade nicht entfallen muss, wenn es auf die einzelne Stimme bei Mehrheitsentscheidungen ohne Einstimmigkeitserfordernis nicht ankommt. Im Ledersprayfall wurde einstimmig gegen einen Produktionsstopp oder andere Vorgehensweisen entschieden, sodass hier die Kausalität nicht problematisch war. Es stellen sich aber auch gerade mit Blick auf den Rückruf von potentiell schädlichen Produkten schwierige Probleme der (Quasi-)Kausalität beim Handeln bzw. Unterlassen. Grundsätzlich kommt es bei Gremienentscheidungen auf die einzelfallorientierte Bewertung von Tatbeiträgen an, die sowohl die Voraussetzungen der Beschlussfassung (Mehrheit ausreichend oder Einstimmigkeit nötig) und sodann das individuelle Stimmverhalten (Gegenstimme, Enthaltung, Zustimmung) berücksichtigen muss.[323]

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Mit dem Problem der schwierigen Feststellbarkeit der Wirkung von Einzelursachen in einer Gemengelage verschiedener potenzieller Ursachen musste sich der BGH im sog. Holzschutzmittelfall befassen. Insbesondere ging es um die Frage, ob und wie der*die Tatrichter*in Feststellungen zu Kausalverläufen treffen kann, auch wenn die wissenschaftliche Diskussion sehr umstritten ist und im Verfahren durch Sachverständige nicht eindeutig geklärt werden konnte. In dieser Lage bedarf es nach dem BGH zumindest konkreter Feststellungen zu einer Mitverursachung des in Frage stehenden Stoffes an der kausalen Bewirkung des Taterfolges,[324] was letztlich eine typische Forderung aus der dogmatischen Kategorie der kumulativen Kausalität darstellt.[325] Bei der Bewertung der in der Beweisaufnahme gewonnenen Erkenntnisse eröffnet der BGH aber einen Beurteilungsspielraum. Danach hat der*die Richter*in alle Erkenntnisse verschiedener Fachrichtungen sowie alle relevanten Indizien in einer Gesamtschau zu würdigen, wobei nach Maßstab des § 261 StPO die richterliche Überzeugungsbildung keine absolute Gewissheit, sondern ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit voraussetzt, das keinen vernünftigen Zweifel bestehen lässt.[326] In anderen Worten reicht es für die richterliche Feststellung zur kausalen Bewirkung eines Körperverletzungserfolges durch ein komplex wirkendes Produkt aus, wenn das Gericht in einer Gesamtwürdigung der wissenschaftlichen Erkenntnisse überzeugt davon ist, dass ein bestimmtes Produkt zu einem bestimmten Körperverletzungserfolg geführt hat, auch wenn zu den Details des Wirkungsvorganges in der Wissenschaft keine eindeutige Meinung festzustellen ist. Dies gilt, solange die Annahme nicht den Gesetzen der Logik und dem gesicherten wissenschaftlichen Erfahrungswissen widerspricht.[327] Zudem darf die verbleibende Unsicherheit nicht zu Lasten des*der Angeklagten gehen. Praktisch wird somit betont, dass eine Verurteilung ausschließlich auf dem Überzeugungsbild des Gerichts (§ 261 StPO) beruht und möglich ist, auch wenn die sachverständige Wissenschaft den Sachverhalt nicht einhellig bewertet. Die Klärung von komplexen wissenschaftlichen Fragestellungen ist nicht Aufgabe des Strafverfahrens.

 
III. Besondere Fragestellungen auf der Ebene der Rechtswidrigkeit

1. Rechtfertigungsgründe, erlaubte Verletzungen

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Körperliche Misshandlungen bzw. tatbestandsmäßige Gesundheitsschädigungen indizieren die Rechtswidrigkeit der Körperverletzungshandlung, da der Schutz des verletzten Rechtsguts einziger Zweck der Norm ist. Bei Vorliegen eines die Norm einschränkenden, selbstständigen Rechts der handelnden Person zur zulässigen tatbestandlichen Beeinträchtigung des Tatopfers kann deren Handeln jedoch gerechtfertigt sein. Dem kommt im Kontext der Körperverletzungsdelikte im Vergleich zu anderen Tatbeständen eine besonders herausragende Bedeutung zu. Zum einen handelt es sich häufig um interaktive Geschehensabläufe zwischen mehreren Personen, in denen verschiedene Parteien einschlägige Handlungen vornehmen, die es anschließend rechtlich zu bewerten gilt. Zum anderen kann der*die Rechtsgutsinhaber*in angesichts der Dispositionsbefugnis (Rn. 28) recht weitgehend Beeinträchtigungen in Form von Körperverletzungen gestatten.

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Ein solches Recht zur Körperverletzung kann zum einen aufgrund gesetzlicher Rechtsfertigungsgründe bestehen. Hier ist insbesondere an die Notwehr (§ 32 StGB, § 227 BGB) und das Festnahmerecht (§ 127 Abs. 1 StPO) zu denken. Weiterhin kann eine Körperverletzung bei Handeln durch Amtsträger*innen durch öffentlich-rechtliche Eingriffs- und Befugnisnormen gerechtfertigt sein (Rn. 115 ff.). Zum anderen können ungeschriebene (durch Gewohnheitsrecht anerkannte) Rechtfertigungsgründe das Handeln rechtfertigen. Dies ist der Fall, wenn eine rechtfertigende Einwilligung oder eine Pflichtenkollision vorliegen. Der Einwilligung kommt im Rahmen der Körperverletzungsdelikte eine besondere Bedeutung zu (Rn. 92 ff.).

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Besondere Relevanz entfaltet bei den Körperverletzungsdelikten der Rechtfertigungsgrund der Notwehr (§ 32 StGB, § 227 BGB). Diese Erlaubnisnorm enthält das Recht der einzelnen Person, sich oder einen*eine Dritte*n gegen einen rechtswidrigen Angriff in einer an sich verbotenen Weise zu verteidigen, indem die Individualrechtsgüter der angreifenden Person verletzt werden.[328] Als Sinn und Zweck der Norm wird überwiegend der Schutz von Rechtsgütern sowie das allgemeine Rechtsbewährungsprinzip genannt.[329] Eine Handlung ist dann durch Notwehr gerechtfertigt, wenn ein gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff vorliegt (sog. Notwehrlage) und die angegriffene Person sich auf erforderliche und gebotene Art und Weise dagegen verteidigt (sog. Notwehrhandlung). Ein Angriff gilt auch dann als rechtswidrig, wenn die angreifende Person von einem vermeintlichen Festnahmerecht nach § 127 Abs. 1 StPO ausgeht, tatsächlich aber kein dringender Tatverdacht besteht.[330] Die Verteidigungshandlung muss von einem Verteidigungswillen getragen sein und sich gegen Rechtsgüter der angreifenden Person richten (ansonsten evtl. § 34 StGB). Dabei ist die Person, die rechtswidrig angegriffen wird, grundsätzlich berechtigt, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, das eine endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet. Demnach kann auch die sofortige, das Leben der angreifenden Person gefährdende Notwehrhandlung gerechtfertigt sein. Die Notwehr als Rechtsfertigungsgrund kommt selbst bei der schweren Körperverletzung nach § 226 StGB und bei Tötungsdelikten in Betracht, wenn zur Abwehr massiver Angriffe ähnlich massive Verteidigungshandlungen notwendig waren, und im Grundsatz unabhängig davon, ob der*die sich Verteidigende die Folge fahrlässig oder vorsätzlich herbeigeführt hat.[331] Einschränkungen des Notwehrrechts ergeben sich jedoch bei Absichtsprovokationen, den Angriffen von erkennbar schuldlos Handelnden, ggf. auch bei völlig unerheblichen Angriffen und bei Angriffen in engen persönlichen Beziehungen.[332] Die Notwehrhandlung kann nach den Umständen des Einzelfalles hier sozialethisch („gebotene Notwehrhandlung“) soweit eingeschränkt werden, dass zunächst aus den genannten Billigkeitsgründen, insbesondere bei schuldhaft provozierter Notwehrlage, zunächst ausgewichen werden muss oder nur Schutzwehr geleistet werden darf, bevor es legitim ist, final zur Trutzwehr überzugehen.[333] Doch auch hier müssen substanzielle Einbußen, wie oftmals bei Körperverletzungsdelikten, im Zweifel nicht hingenommen werden.[334]

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Ein eigenständiger Rechtfertigungsgrund in Form des sog. Züchtigungsrechts der Eltern kann heutzutage nicht mehr angenommen werden.[335] Nach früher h.M. war das Handeln der Erziehungsberechtigten, die ihren minderjährigen Kindern von einem bestimmten Erziehungszweck getragene körperliche Misshandlungen zufügten, nicht rechtswidrig.[336] Das Züchtigungsrecht war aufgrund landesrechtlicher Bestimmungen oder als Gewohnheitsrecht auch für Lehrer*innen anerkannt.[337] Der Rechtfertigungsgrund entfiel endgültig mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung im Jahr 2000.[338] Durch das Gesetz wurde der § 1631 Abs. 2 BGB grundlegend geändert.[339] Der Wortlaut lässt für Zweifel keinen Raum mehr: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Daran ändert auch das Erziehungsrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG nichts.[340] Jede die Bagatellgrenze überschreitende Handlung bedeutet daher, dass der Tatbestand erfüllt ist. Die körperliche Züchtigung von Kindern ist heute kein sozialadäquates Verhalten mehr.[341]

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Besonderheiten bestehen bei der Rechtfertigung für den Tatbestand des § 231 StGB, der nicht nur das Leben und die Gesundheit der durch die Schlägerei oder den Angriff tatsächlich verletzten Person schützt, sondern auch aller solcher Personen, die unmittelbar oder mittelbar durch die Schlägerei oder den Angriff gefährdet werden. Angesichts dessen sind die von § 231 StGB geschützten Rechtsgüter nicht umfassend disponibel,[342] weshalb eine rechtfertigende Einwilligung eines oder aller Beteiligten regelmäßig nicht in Betracht kommt.[343] Die durch die Verwirklichung des § 231 StGB nicht kalkulierbare Gefährdung für mehrere Personen dürfte außerdem regelmäßig gegen die guten Sitten i.S.v. § 228 StGB verstoßen.[344] Eine Rechtfertigung wegen Notwehr scheidet bei § 231 StGB ebenso regelmäßig aus, da § 32 StGB Verteidigungshandlungen nur gegenüber einer angreifenden Person legimitiert, nicht jedoch die Verletzung von Körper und Gesundheit anderer beteiligter Personen.[345] Daher kann zwar ein konkretes Körperverletzungs- oder Tötungsdelikt im Rahmen einer Schlägerei ggf. wegen Notwehr gerechtfertigt sein. § 231 StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt pönalisiert jedoch die gesamte Beteiligung an dem Geschehen. Eine Rechtfertigung dessen kann nur in Betracht kommen, wenn die Beteiligung insgesamt durch einen Rechtfertigungsgrund gedeckt ist und nicht nur eine Teilhandlung im Rahmen dessen.[346]

2. Einwilligung und ihre Grenzen

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Die Einwilligung ist als ungeschriebener Rechtfertigungsgrund allgemein anerkannt.[347] Sie ist bei den Körperverletzungsdelikten von herausragender Bedeutung und durch die spezielle Regelung des § 228 StGB besonders ausgeformt. Der Rechtfertigungsgrund setzt objektiv ein dispositionsfähiges Rechtsgut voraus, was hier mit der körperlichen Unversehrtheit gegeben ist, solange kein Verstoß gegen die guten Sitten vorliegt (§ 228 StGB). Weiterhin muss eine Einwilligungserklärung vorliegen, die frei von Willensmängeln ist. Der*die Erklärende muss einwilligungsfähig sein. Subjektiv muss der*die Verletzende in Kenntnis der Einwilligung handeln.

a) Grenze des § 228 StGB

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§ 228 StGB – der nach ganz überwiegender Auffassung für alle Körperverletzungsdelikte gilt[348] – schränkt die mögliche Reichweite der rechtfertigenden Einwilligung ein. Es handelt sich um eine gesetzlich bestimmte Ausnahme von der allgemeinen Einwilligungsregel.[349] § 228 StGB regelt also nicht die unrechtsausschließende Wirkung der Einwilligung, sondern setzt diese vielmehr voraus und normiert nur die Grenzen einer solchen Einwilligung für den Fall der Körperverletzungsdelikte. Danach wirkt eine Einwilligung dort nicht rechtfertigend, wo die Tat trotz selbiger gegen die „guten Sitten“ verstößt. Hierunter wird wie im Zivilrecht das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ verstanden. Als unbestimmter Rechtsbegriff und in autonomer strafrechtlicher Bewertung bedarf die Wendung von den guten Sitten einer verfassungskonformen Auslegung, welche insbesondere am Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG zu messen ist.[350]

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Die Rechtsprechung erkannte dies schon in den 1950er Jahren und befand, § 228 StGB müsse eng ausgelegt werden, „um im Rechtsstaat erträglich zu sein“[351]. Bis in die 1990er Jahre hinein wurde bei der Auslegung der sog. Zweckansatz verfolgt, d.h. es kam bei der Bestimmung der Sittenwidrigkeit auf den verfolgten Zweck der Beeinträchtigungen an, also auf die Beweggründe und Ziele, die mit der Verletzung verfolgt werden.[352] Seit Anfang der 2000er Jahre zeichnet sich hier eine Wende in der Rechtsprechung ab, vom Zweckansatz hin zur sog. Rechtsgutslösung.[353] Danach steht nicht mehr der angestrebte Zweck der Körperverletzung im Vordergrund, sondern die Intensität der Handlung und ihrer Folgen.[354] Maßgeblich ist laut der neueren Rechtsprechung der Umfang der hinzunehmenden Körperverletzung und der Grad der damit verbundenen Leibes- oder Lebensgefahr.[355] Dies soll durch vorausschauende objektive Betrachtung aller maßgeblichen Umstände bestimmt werden.[356] Dementsprechend soll für den Fall, dass durch die Körperverletzung eine konkrete Lebensgefahr verursacht wird, stets von einem Verstoß gegen die guten Sitten auszugehen sein.[357] Ebenso seien Eingriffe in die Dispositionsbefugnisse des*der Rechtsgutsträgers*Rechtsgutsträgerin auch dann legitim, wenn die zu erwartenden Verletzungen an die in § 226 StGB geregelten erheblichen Beeinträchtigungen heranreichen.[358] Hingegen ist die Einwilligungen von Gefangenen in durchgeführte Tätowierungen auch dann nicht wegen Sittenwidrigkeit unwirksam, wenn in der JVA ein disziplinarrechtlich abgesichertes Tätowierverbot besteht.[359]

 

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Dieser zu begrüßende, eher restriktive Maßstab für die Annahme eines Sittenverstoßes ist in der jüngeren Vergangenheit durch zwei maßgebliche Urteile des BGH in den Jahren 2013[360] und 2015[361] wieder etwas ausgeweitet worden. So wandte sich die Rechtsprechung vom Kriterium der „konkreten Lebensgefahr“ ab und ließ bei tätlichen Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Gruppen die typischerweise vorliegende Eskalationsgefahr genügen.[362] Für diese Fälle sei der § 231 StGB als rechtlicher Anknüpfungspunkt für den missbilligten Zweck der „eskalationsgefahrträchtigen“ Schlägerei heranzuziehen.[363]

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Die Regelung des § 228 StGB ist in mehrfacher Hinsicht umstritten. Hinsichtlich der materiellen Legitimität wird kritisiert, dass dem Allgemeininteresse am Erhalt der Gesundheit der einzelnen Person mehr Bedeutung zugemessen werde als der Autonomie der verletzten Person, wenn die Verfügungsfreiheit der betroffenen Person über ihr körperliches Wohl in dieser Weise beschränkt wird.[364] Im Hinblick auf die Auslegungspraxis der Rechtsprechung wird auch die Frage der hinreichenden Bestimmtheit des § 228 StGB problematisiert. Eine verbreitete Auffassung fordert, den Begriff der Sittenwidrigkeit auf seinen Kern zu beschränken, um dem Bestimmtheitsgebot zu genügen.[365] Vor diesem Hintergrund erscheint zum einen die Erheblichkeitsschwelle der Verletzungsintensität problematisch, die Rechtsprechung und Teile der Literatur für die Bestimmung der Sittenwidrigkeit formulieren. Schließlich werden hier neben der konkreten Lebensgefahr und der Wertung des § 216 StGB sowohl die Folgen des § 226 StGB als auch der § 225 Abs. 3 Nr. 1 und § 231 StGB zur Auslegung des § 228 StGB herangezogen. Die ursprünglich von der Rechtsprechung als Kriterium vorausgesetzte konkrete Lebensgefahr löst sich somit hin zu einer abstrakten Gefahr auf.[366] Insbesondere die Hinwendung zu der abstrakten „Eskalationsgefahr“ lässt die Grenze zwischen Sittenverstoß und einwilligungsfähiger Rechtsgutsgefährdung verschwimmen.[367] Das Heranziehen der Wertung der § 231 StGB wird angesichts dessen von Teilen der Literatur als systemwidrig eingestuft: Die Existenz der Norm mit der niedrigen Strafandrohung für abstrakte Gefahren verbiete systematisch den Rückgriff auf die §§ 223 ff. StGB bei einer abstrakten Gefahr und einer bestehenden Einwilligung. Die niedrigere Strafandrohung des § 231 StGB für bloß abstrakte Gefahren würde andernfalls umgangen.[368] Auch wird durch diese erweiterte Auslegung das geschützte Rechtsgut immer weiter mit Allgemeininteressen aufgeladen. Im Mittelpunkt steht also nicht nur das Interesse der Gesunderhaltung der Beteiligten, vielmehr geht es auch um die Frage nach potenziellen Auswirkungen auf Dritte.[369]

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Zum anderen führt insbesondere die Rechtsgutslösung dort zu Unklarheiten, wo durch die Körperverletzungshandlung anerkannte, neutrale, nicht missbilligte oder subjektiv vernünftige Zwecke verfolgt werden. Diese sollen zunächst im Sinne einer Abwägungslösung bestimmt werden und können auf diesem Weg die Intensität des Eingriffs als Kriterium für die Sittenwidrigkeit ausgleichen, z.B. im Fall von schweren ärztlichen Eingriffen oder Organspenden.[370] Wann ein Zweck allerdings als anerkannt, neutral oder nicht missbilligt eingestuft werden kann, ist nicht immer eindeutig und wird im Rahmen diverser einschlägiger Fallgruppen lebhaft diskutiert. So fehlt die klare Einordnung etwa bei Doping im Sport, bei Maßnahmen des sog. Enhancement oder auch bei Tätowierungen.[371]