Handbuch des Strafrechts

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3. Verhältnis zu anderen Tatbeständen

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Neben den §§ 223 ff. StGB gibt es weitere Straftatbestände im StGB sowie im Nebenstrafrecht, die – ggf. neben anderen Rechtsgütern – auch die körperliche Integrität schützen (s. schon Rn. 3 oben). So stellen zahlreiche Normen den Einsatz körperlicher Gewalt unter Strafe, wie etwa der Raub in § 249 StGB, der eine Körperverletzung beinhalten kann, jedoch nicht muss. Soweit diese Tatbestände nicht auf den Körperverletzungserfolg abstellen, sondern Unrecht in anderer Form erfassen, oder umgekehrt Körperverletzungen in spezifischer Weise pönalisieren, bereitet die Abgrenzung zu den §§ 223 ff. StGB in der Regel keine Probleme, sondern erfolgt nach den allgemeinen Regeln. Der vollendete Raub mit Todesfolge (§ 251 StGB) umfasst beispielsweise regelmäßig die vorsätzliche Körperverletzung sowie § 227 StGB und steht somit nicht in Tateinheit mit den Körperverletzungsdelikten.[219] Eine vollendete Körperverletzung mit Todesfolge steht allerdings dann in Tateinheit mit dem § 251 StGB, wenn das Grunddelikt lediglich versucht, die schwere Folge aber eingetreten ist (versuchter Raub mit Todesfolge).[220]

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Etwas komplexer ist das Verhältnis der §§ 223 ff. StGB zu den Tötungsdelikten (vgl. dazu → BT Bd. 4: Wolfgang Mitsch, Tötungsdelikte, § 1). Lange Zeit bestand zum einen Uneinigkeit über die Frage, ob der Tötungsvorsatz auch einen Körperverletzungsvorsatz enthalte. Heute ist weitgehend geklärt, dass eine vorsätzliche Tötung auch notwendig eine vorsätzliche Körperverletzung als „Durchgangsdelikt“ enthält.[221] Lediglich bei dem sog. Giftmord steht diese Annahme infrage.[222] Zum anderen erweist sich auch das Konkurrenzverhältnis als problematisch. Ist sowohl das Tötungs- als auch das Körperverletzungsdelikt vollendet und trat der Körperverletzungserfolg unmittelbar und in zeitlicher Nähe vor dem Tötungserfolg ein, so lässt die h.M. das Körperverletzungsdelikt im Wege der Subsidiarität hinter dem Tötungsdelikt zurücktreten.[223] Dies gilt für den Grundtatbestand ebenso wie für die gefährliche Körperverletzung (§ 224 StGB) und im Grundsatz auch für die schwere Körperverletzung (§ 226 StGB).[224] Anders sind nur Fälle zur beurteilen, in denen der Tötungserfolg erst nach einer längeren Zeit eintritt und währenddessen eine nach § 226 tatbestandsmäßige schwere Folge bestand. Damit das hier bestehende eigenständige Unrecht des § 226 StGB zum Ausdruck kommt, wird Tateinheit angenommen.[225] Streitig sind Fälle, in denen das Tötungsdelikt nur versucht, das Körperverletzungsdelikt hingegen vollendet wurde. Die frühere Rechtsprechung nahm auch in diesem Fall ein Zurücktreten des Körperverletzungsdelikts hinter dem versuchten Tötungsdelikt im Wege der Gesetzeskonkurrenz an.[226] Die Literatur vertrat hingegen die Meinung, dass es aus Klarstellungsgründen angemessen sei, den Umstand des vollendeten Körperverletzungsdelikts im Schuldspruch neben dem versuchten Tötungsdelikt zum Ausdruck zu bringen.[227] Dieser Ansicht folgt seit den 1990er Jahren auch der BGH.[228] Uneinheitlich wird die Frage der Konkurrenz außerdem in den Fallkonstellationen beantwortet, in denen die Intensität der Verletzung das zur Tötung erforderliche Maß übersteigt,[229] so z.B., wenn der*die Täter*in erst nach oder während einer fortgesetzten Misshandlung das Opfer tötet.[230] Zum Teil wird angenommen, dass auch hier das Körperverletzungsdelikt hinter dem Tötungsdelikt zurücktritt.[231] Das zusätzlich verwirklichte Unrecht sei bereits abschließend durch die Mordmerkmale sowie § 212 Abs. 2 StGB erfasst. Eine andere Ansicht differenziert und will Tateinheit nur in den Fällen annehmen, in denen die Körperverletzung einen selbstständigen Unwertgehalt verwirklicht, welcher durch die §§ 211 ff. StGB nicht voll erfasst wird.[232]

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Ebenfalls kompliziert ist das Verhältnis zu den 2017 neu gefassten §§ 113, 114 StGB (vgl. dazu auch → BT Bd. 4: Stephan Barton, Widerstand gegen die Staatsgewalt, § 20 Rn. 120 ff.). Während § 113 StGB nach h.M. wie bislang die individuellen Rechtsgüter der Vollstreckungsorgane[233] nur neben dem Gewaltmonopol des Staates in Form der Autorität konkreter Vollstreckungsakte schützt,[234] ist § 114 StGB nun praktisch ein Körperverletzungstatbestand: Nach zutreffender Auffassung schützt die Norm vor allem das individuelle Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit der Vollstreckungsbeamten*Vollstreckungsbeamtinnen und ihnen gleichgestellter Personen.[235] Dies führt zu erheblichen Abgrenzungsproblemen gegenüber den §§ 223 ff. StGB, zu denen kein Stufenverhältnis besteht. Trotz der sich überschneidenden Rechtsgüter setzt § 114 StGB – anders als die Körperverletzungsdelikte – kein Erfolgsunrecht voraus, ist also einerseits weiter, verlangt aber andererseits eine Diensthandlung einer bestimmten Berufsgruppe. Zur Klarstellung des Verletzungserfolges ist bei gemeinsamer Erfüllung beider Tatbestände daher Tateinheit anzunehmen. Gleiches gilt, wenn § 114 StGB mit einem Versuch des § 224 StGB zusammenfällt.[236] Werden die Qualifikationen der §§ 224, 226 StGB hingegen vollendet, tritt der strafschärfende Aspekt des Angriffs auf Vollstreckungsbeamte*Vollstreckungsbeamtinnen in den Hintergrund, sodass § 114 StGB verdrängt wird.[237]

4. Strafrahmen und Strafzumessung in der Praxis

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Der Strafrahmen für die einfache Körperverletzung (§ 223 StGB) umfasst Geldstrafe und Freiheitsstrafe von einem Monat bis zu fünf Jahren. Die maximale Höhe der Freiheitsstrafe wurde 1994 durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz von drei auf fünf Jahre angehoben.[238] Begründung dafür war die Aufwertung des Rechtsguts der körperlichen Unversehrtheit im Verhältnis zu den Eigentums- und Vermögensdelikten.[239] Die unterschiedlichen Strafrahmen der Körperverletzungsdelikte entsprechen der varianten Phänomenologie des Deliktsbereichs. Sie reichen von Geldstrafe (§ 223 Abs. 1 und § 229 StGB) über Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren (§ 224 Abs. 1 StGB, § 225 Abs. 1 StGB und § 226 Abs. 1 StGB) bis zu einer empfindlichen Mindestfreiheitsstrafe nicht unter drei Jahren (§ 226 Abs. 2 StGB), im Fall des § 227 StGB im Höchstmaß bis zu fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe (§ 38 Abs. 2 StGB). Zu beachten sind zudem Varianten wie minder schwere Fälle (etwa § 226 Abs. 3 StGB). Wegen der Weite des möglichen Sanktionsarsenals kommt es in der Praxis der Strafzumessung in besonderer Weise auf die Umstände des Einzelfalles an.

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Der Strafverfolgungsstatistik lässt sich für 2016 entnehmen, dass wegen Straftaten der §§ 223–231 StGB insgesamt 97 784 Personen abgeurteilt und 66 117 verurteilt wurden.[240] Bezüglich der nach allgemeinem Strafrecht verhängten Strafen (insgesamt 54 056) überwiegt die Geldstrafe mit 37 746 gegenüber der Freiheitsstrafe mit 16 310 Fällen (12 508 mit Strafaussetzung zur Bewährung).[241] Bei der Geldstrafe wurden am häufigsten 16–30 (8439 Fälle) und 31–90 Tagessätze (22 831 Fälle) ausgeurteilt.[242] Die ausgeurteilten Freiheitsstrafen verteilten sich wie folgt: 2350 Strafen unter sechs Monaten, 2863 auf sechs Monate, 4664 auf sechs bis neun Monate, 3181 auf neun bis zwölf Monate, 2431 auf ein bis zwei Jahre, 465 zu zwei bis drei Jahren, 284 zu drei bis fünf Jahren und 72 zu fünf bis zehn Jahren.[243] In der Strafzumessungspraxis werden – um nur einige Tendenzen zu nennen – ärztliche Heileingriffe ohne genügende Einwilligung regelmäßig mit Geldstrafe belegt, grobe ärztliche Kunstfehler mit gravierenden Tatfolgen hingegen regelmäßig mit Freiheitsstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wird.[244] Bei besonders roher Tatbegehung wird zumindest bei Wiederholungstäter*Wiederholungstäterinnen oft eine Freiheitsstrafe ohne Aussetzung zur Bewährung ausgeurteilt.[245] Insgesamt werden nach den statistischen Befunden überwiegend Strafen im unteren und mittleren Bereich verhängt, wie dies auch in anderen Deliktsbereichen üblich ist.

 

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Die konkrete Strafzumessung hat nach § 46 Abs. 1 StGB auf die Schuld des*der Täters*Täterin und die Umstände des Einzelfalles abzustellen; die Strafzumessungsschuld des*der Täters*Täterin kann anhand der Feststellungen zum Handlungs- und Erfolgsunwert bestimmt werden.[246] Im Bereich der §§ 223 ff. StGB ist bezüglich des Handlungsunrechts beispielsweise die Verwendung eines besonders gefährlichen Werkzeugs und eine besonders gefährliche Begehungsweise strafschärfend zu berücksichtigen.[247] Auch eine besonders brutale, rohe und grausame Tatbegehung ist strafschärfend einzubeziehen.[248] Bei einer brutalen Vorgehensweise muss das Opfer (ggf. unter Verwendung eines gefährlichen Werkzeuges) vom*von der Täter*in in roher, gefühlloser, gewalttätiger, schonungsloser und rücksichtsloser Weise behandelt worden sein.[249] Die Art der Tatausführung darf dem*der Täter*in allerdings nicht ohne Weiteres strafschärfend zur Last gelegt werden, wenn die Ursache für die Tatbegehung in einer von ihm*ihr nicht oder nur eingeschränkt zu vertretenen geistig-seelischen Beeinträchtigung liegt, d.h. liegt eine verminderte Steuerungsfähigkeit nach § 21 StGB vor, so darf die dem*der Täter*in vorgeworfene Intensität der Tat davon nicht betroffen sein.[250] Umstritten ist, ob das mehrfache Erfüllen von Tatmodalitäten, etwa des § 224 Abs. 1 StGB, strafschärfend wirken soll.[251] Ist der*die Täter*in strafbefreiend von einem Tötungsversuch zurückgetreten, darf der auf den Versuch gerichtete Vorsatz bei dem vollendeten Körperverletzungsdelikt nicht strafschärfend berücksichtigt werden.[252] Dilettantisches Vorgehen wirkt sich regelmäßig strafmildernd aus.[253] Ebenso kann die Anwendung von nur geringer Gewalt strafmildernd wirken.[254]

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Hinsichtlich des Erfolgsunrechts können die Schwere, die Anzahl und das Ausmaß der verursachten Verletzungen strafschärfende Gründe sein.[255] Auch die zu erwartende Dauer des zugefügten Leids und der Umfang der Beeinträchtigungen ist hier bedeutsam;[256] beispielsweise soll bei § 226 StGB ein langjährig zu erwartendes Leiden eines nur neunmonatigen Kindes strafschärfend sein.[257] Dabei soll es auch auf die individuelle Bedeutsamkeit der erlittenen Verletzungen ankommen (z.B. Gehörverlust bei einem Dirigenten[258]). Auch können übermäßig nachteilige Tatfolgen, die nicht bereits tatbestandlich verankert sind, berücksichtigt werden, etwa zumindest vorhersehbare seelische Schäden bei § 226 StGB.[259] Sind die Verletzungen jedoch nur leicht, so kann dies strafmildernd zu berücksichtigen sein.[260]

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Im Rahmen von Fahrlässigkeit ist besonderes Augenmerk auf das Maß der Pflichtwidrigkeit und auf ein etwaiges Mitverschulden des Opfers (z.B. eigene Verstöße gegen Vorsichtsmaßnahmen) zu legen.[261] Ohnehin kann das Opferverhalten eine strafmildernde Rolle spielen, gerade bei Provokationshandlungen.[262] Auch wenn das Opfer kein eigenes Bestrafungsinteresse bekundet, kann dies strafmildernd wirken.[263] Bei Körperverletzungsdelikten erscheint zudem die Möglichkeit eines Täter*in-Opfer-Ausgleichs oder einer sonstigen Schadenswiedergutmachung oftmals nahezuliegen, was nach § 46 Abs. 2 StGB in die Zumessungsentscheidung einbezogen werden kann.

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Das einschlägig straffällige Vorleben des*der Täters*Täterin soll bei Wiederholungstätern*Wiederholungstäterinnen von Körperverletzungsdelikten besonders strafschärfend einzubeziehen sein.[264] Strafmildernd kann bei § 231 StGB ein Deeskalationsverhalten durch das Entwinden eines Messers eines*einer an der Schlägerei Beteiligten gewertet werden.[265] Ein Migrationshintergrund hat auch bei Körperverletzungsdelikten per se keinen Einfluss auf die Strafzumessung.[266] Alkoholisierung als häufiger Täter*innenzustand bei Körperverletzungsdelikten ist bei der Vorwerfbarkeit der Tat zu berücksichtigen, auch unterhalb der Grenzen der §§ 20, 21 StGB. Eine Strafmilderung nach § 21 StGB kommt nur in Frage, wenn der*die Täter*in im Unwissen war, dass er*sie unter massiver Alkoholisierung zu Körperverletzungshandlungen tendiert.[267]

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Das Doppelverwertungsverbot des § 46 Abs. 3 StGB schließt Erwägungen aus, die z.B. die Nichtachtung der Schutzgüter der §§ 223 ff. StGB besonders bestrafen wollen oder pauschal die Gefährlichkeit der Tat strafschärfend berücksichtigen, obwohl dies schon von einer Modalität, beispielsweise des § 224 Abs. 1 StGB, erfasst wird.[268]

II. Besondere Fragestellungen auf der Ebene des Tatbestands

1. Bagatellgrenze

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Eine grundlegende konzeptionelle Frage der Körperverletzungsdelikte und insbesondere des § 223 Abs. 1 StGB besteht darin, in welchem Mindestmaß die körperliche Unversehrtheit bzw. die Gesundheit tangiert sein müssen, um von einem strafrechtlich relevanten Eingriff in das Schutzgut sprechen zu können. Umgekehrt formuliert bedarf es der Klärung, welche bagatellhaften Handlungen von den Tatbeständen nicht erfasst sein sollen.

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Bei der körperlichen Misshandlung im Rahmen von § 223 Abs. 1 StGB wird dies in der Form umgesetzt, dass das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit nicht nur unerheblich beeinträchtigt worden sein müssen. Um Bagatellfälle von der Strafbarkeit auszuschließen, wird eine Erheblichkeitsgrenze gesetzt, die aber ihrerseits präzisiert werden muss. Um Rechtssicherheit und insbesondere Vorhersehbarkeit für Bürger*innen zu schaffen, richtet sich die Erheblichkeit nicht nach dem subjektiven Empfinden der verletzten Person, sondern wird aus Sicht eines*einer objektiven Betrachtenden bestimmt.[269] Maßgeblich für die Beurteilung der Erheblichkeit kann dabei die Dauer sowie die Intensität der Einwirkung sein.[270] Im Einzelnen sind etwa ein Ekelgefühl sowie das Empfinden von Angst als unerheblich anzusehen.[271] Ebenso genügen psychovegetative Vorgänge, wie Schweißausbrüche, Herzklopfen oder Durchfall, grundsätzlich nicht, wenn sie nur vorübergehend sind.[272] Selbst wenn das Zufügen von Stromstößen regelmäßig erheblich ist, reicht das bloße „Kribbeln in Beinen und Füßen“, hervorgerufen durch einen in das Badewasser geworfenen Fön, nicht aus.[273] Auf der anderen Seite können der Schmerz nach einer Ohrfeige[274] oder aber Verunstaltungen des Körpers, z.B. durch Abschneiden der Haare, eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung darstellen.[275] Da es sich bei weniger intensiven Eingriffen oft um Grenzfälle handelt, bedarf es einer zusammenfassenden Bewertung aller Einzelfallumstände.

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Anlass zur Diskussion bietet auch die fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB) im Straßenverkehr. Für einfache Körperverletzungen in diesem Bereich wird erwogen, den § 229 StGB um die Voraussetzung der „Leichtfertigkeit“ zu ergänzen und so die Strafbarkeitsschwelle anzuheben.[276] Andere Stimmen fordern demgegenüber sogar die Aufhebung der Strafbarkeit in diesem Bereich.[277] Für die Entkriminalisierung wird ins Feld geführt, dass bei der Bestrafung von jedenfalls leichten, durch geringfügiges Fehlverhalten entstandenen Körperverletzungen kein Strafzweck erfüllt würde. Weder General- noch Spezialprävention seien betroffen, da die fahrlässige Körperverletzung nicht von einer Willensbildung getragen wird und auch nicht davon auszugehen ist, dass durch partielle Entkriminalisierung die Rechtstreue der Bevölkerung abnehmen würde.[278] Auch ist die Teilnahme am Straßenverkehr insofern eine besondere Situation, als dass bei jeder fahrlässigen Handlung die Gefahr besteht, eigene Rechtsgüter zu verletzen. Der Anreiz, sich fahrlässig zu verhalten, sei so von Anfang an sehr niedrig.[279] Schließlich wird angeführt, dass die Anforderungen an die Fahrer*innen zu hoch seien und es allein vom Zufall abhänge, ob ein Sorgfaltsverstoß im Straßenverkehr zur Strafbarkeit führe.[280] Dem lässt sich entgegnen, dass der Erfolgseintritt bei Fahrlässigkeitsdelikten immer nur das Ergebnis der gefahrgeneigten Handlung ist und die strafrechtliche Vorwerfbarkeit sich bereits auf die Schaffung einer solchen Gefahr bezieht.[281] Der Gesetzgeber hat sich demgegenüber bislang dafür entschieden, der Problematik auf prozessualer Ebene zu begegnen und die Strafverfolgung zu beschränken.[282] Auf Exekutivebene wurde Mitte der 1990er Nr. 243 Abs. 3 RiStBV dahingehend geändert, dass das öffentliche Interesse bei einer im Straßenverkehr begangenen Körperverletzung nicht grundsätzlich zu bejahen sei.[283] Problematisch ist allerdings die unterschiedliche Handhabung der verschiedenen Möglichkeiten durch die Strafjustiz.[284] Eine bundesweit einheitliche Entkriminalisierung bzw. zumindest Steuerung der Verfahrenszahlen in diesem Bereich kann nur durch eine besondere gesetzliche Regelung im materiellen Strafrecht oder Verfahrensrecht geschaffen werden.

2. Eigenverantwortliche Selbstgefährdung und
einverständliche Fremdgefährdung

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Da die §§ 223 ff. StGB nur die Verletzungen anderer Personen erfassen, ist die Selbstverletzung grundsätzlich straflos (siehe oben Rn. 31). Auf der Ebene des Tatbestandes führt dies zu der Problematik, dass das Ermöglichen oder Fördern einer eigenverantwortlich gewollten und verwirklichten Selbstgefährdung – die mangels tauglicher Haupttat grundsätzlich straflos ist – von der strafbaren, möglicherweise aber einverständlichen Fremdgefährdung abzugrenzen ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH erfüllt „eine eigenverantwortlich gewollte und verwirklichte Selbstgefährdung“ grundsätzlich nicht den Tatbestand eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts, wenn sich das vom Opfer bewusst eingegangene Risiko realisiert. „Wer eine solche Gefährdung veranlasst, ermöglicht oder fördert, kann daher nicht wegen eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts verurteilt werden; denn er nimmt an einem Geschehen teil, welches – soweit es um die Strafbarkeit wegen Tötung oder Körperverletzung geht – kein tatbestandsmäßiger und damit strafbarer Vorgang ist.“[285] Fremdgefährdung meint hingegen Fälle, in denen sich eine Person nicht selbst gefährdet, sondern sich im Bewusstsein des Risikos von einer anderen Person gefährden lässt.[286] Exemplarisch für die sich daraus ergebenden Abgrenzungsprobleme sind Konstellationen, in denen gefährliche Wirkstoffe von anderen bezogen und anschließend wissentlich eingenommen werden – vor allem Medikamente und sonstige Betäubungsmittel, auch im Rahmen der Sterbehilfe – und Fälle, in denen gemeinsame Unternehmungen zu Schädigungen Einzelner führen, wie z.B. Unfälle bei Autorennen mit Mitfahrer*innen.

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Die Unterscheidung von Selbst- und Fremdgefährdung erfolgt im Grundsatz anhand der Betrachtung des „Gefahrenherdes“. Da die Grenze zwischen Selbst- und Fremdgefährdung im Einzelfall schwierig zu ziehen sein kann, es jedoch um Strafbarkeit und Straflosigkeit geht, bedarf es möglichst konkreter Kriterien zu ihrer Bestimmung. Die Rechtsprechung wendet für die Unterscheidung zwischen den beiden Konstellationen die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme an. Danach soll es darauf ankommen, wer bei dem jeweiligen Geschehensablauf die Tatherrschaft innehat, die auch als „Gefährdungsherrschaft“ oder „Handlungsherrschaft“ bezeichnet wird.[287] Grundsätzlich ist dabei auf diejenige Handlung abzustellen, die im Sinne eines aktiven Tuns den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs verursacht.[288] Wird diese Handlung vom Opfer durchgeführt und kontrolliert, liegt eine Selbstgefährdung vor, wird sie von der mitwirkenden Person vorgenommen, handelt es sich um einen Fall der Fremdgefährdung.[289] Oftmals sind allerdings sowohl Handlungen des Opfers, als auch der mitwirkenden Person kausal für den Erfolgseintritt. Hier sind die jeweiligen Beiträge nach Tatherrschaftskriterien zu bewerten. Vom BGH wurde beispielsweise angenommen, dass bei einem illegalen Autorennen der*die Fahrer*in die Mitfahrer*innen fremdgefährde, selbst wenn diese das Rennen filmen und das Startzeichen geben, da die wesentliche Kontrolle über die Gefahr von dem*der Lenkenden ausgehe, was als tatherrschaftlich zu bewerten sei.[290] Ebenso liege ein Fall der Fremdgefährdung vor, so das OLG Koblenz, wenn ein*e alkoholbedingt fahruntüchtige*r Kraftfahrer*in bei einem Verkehrsunfall eine*n Mitfahrer*in verletzt oder tötet, auch wenn diese*r Mitfahrer*in den Zustand des*der Fahrers*Fahrerin bei Fahrtantritt gekannt und das Risiko billigend in Kauf genommen hat.[291]

 

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Die Straflosigkeit der Mitwirkung an einer Selbstgefährdung gilt allerdings nur so lange, wie die Selbstgefährdung eigenverantwortlich erfolgt und nicht durch eine andere, überlegene mitwirkende Person herbeigeführt wird. Umstritten ist, wann die Eigenverantwortlichkeit der Selbstgefährdung angenommen werden kann. Ein Teil der Literatur zieht als Maßstab für die Beurteilung dessen die im Strafrecht geltenden Exkulpationsregelungen (§§ 20, 35 StGB, § 3 JGG) heran (sog. Exkulpationslösung).[292] Danach handelt die sich selbst gefährdende Person nur dann nicht eigenverantwortlich, wenn ihr Handeln nach einer der genannten Normen als nicht schuldhaft einzustufen wäre. Demgegenüber gelangt die sog. Einwilligungslösung häufiger zu einer strafrechtlichen Verantwortung von Dritten, die auf die handelnde Person einwirken. Nach dieser verbreiteten Ansicht[293] ist die Eigenverantwortlichkeit anhand derjenigen Maßstäbe zu bestimmen, die auch sonst bei der Disposition über eigene Rechtsgüter im Strafrecht gelten. Konkret werden die Anforderungen gestellt, die auch für eine wirksame Einwilligung gelten (vgl. Rn. 92), um von einem eigenverantwortlichen Handeln ausgehen zu können. Dies soll auch bei der Substitutionsbehandlung von Drogenabhängigen gelten, sodass die Substitutionsmaßnahme grundsätzlich zumindest bezüglich der Körperverletzungsdelikte straffrei ist.[294] Zwar kann auch bei Drogenabhängigen selbst nach dem Maßstab der Einwilligungslösung nicht pauschal von einer Unwirksamkeit der Einwilligung ausgegangen werden.[295] Im Einzelfall können jedoch besonders schwere Einschränkungen bei der Willensbildung die Unwirksamkeit der Einwilligung bewirken.

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Die Rechtsprechung[296] geht von einer straflosen Mitwirkung an einer Selbstgefährdung dann aus, wenn die sich selbst gefährdende Person das Risiko im selben Maße überblickt wie die mitwirkende Person.[297] Im Grundsatz beginnt die Strafbarkeit daher dort, wo die mitwirkende Person kraft überlegenen Sachwissens das Risiko besser erfasst als der*die sich selbst Gefährdende.[298] Dabei ist jedoch kein exaktes Fachwissen notwendig – etwa Kenntnis, ob drei Fläschchen Methadon zum Tode führen können. Vielmehr ist maßgebend, ob der*die sich selbst Gefährdende das rechtsgutsbezogene Risiko seines*ihres Verhaltens richtig eingeschätzt hat – z.B. grundsätzliche Kenntnis über Anwendung von Methadon.[299] Die Eigenverantwortlichkeit entfällt beispielsweise bei der Täuschung über die Art des Getränks bei einem Wetttrinken (Gastwirt*in trinkt nur Wasser, Opfer hochprozentigen Tequila), da somit das Risiko der eigenen Handlung nicht mehr adäquat bemessen werden kann.[300] Überlegenes Sachwissen soll auch bei der Verschreibung von kontraindizierten weiteren Medikamenten bei schon bestehender Medikamentierung bestehen.[301] Die Eigenverantwortlichkeit kann auch erst durch nachträgliches Unvermögen der Risikobeurteilung entfallen, etwa durch extremes Herabsinken der Vitalfunktionen und den Eintritt in das Sterbestadium. Dies kann zur Strafbarkeit eines*einer dies bemerkenden Garanten*Garantin führen, wenn dieser*diese die notwendigen Rettungsmaßnahmen unterlässt.[302]