Handbuch des Strafrechts

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IV. Schutzumfang Ungeborener nach der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

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Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, welche seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 für alle EU-Mitgliedstaaten rechtsverbindlich ist, statuiert in Art. 2 Abs. 1 EuGrCh, dass jeder Mensch ein Recht auf Leben hat. Diese Gesetzesnorm ist derjenigen von Art. 2 EMRK nachgebildet.[90] Der Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 EuGrCh erstreckt sich auf die physische Existenz eines jeden Menschen.[91] Nebst dem Schutz der menschlichen Integrität sollen dabei auch Voraussetzungen zu dessen Erhalt geschaffen werden.[92] Jedoch ist auch dem Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 EuGrCh nicht zu entnehmen, wann das menschliche Leben beginnt bzw. ob auch Ungeborenen ein Lebensrecht im Sinne der EU-Grundrechtscharta zuzugestehen ist.[93] Als Begründung für diese offene Formulierung wird einmal mehr der fehlende Konsens der EU-Mitgliedstaaten über den Beginn des menschlichen Lebens angeführt.[94] Zudem hätte die Bejahung eines Lebensrechts Ungeborener eine unionsweite Unzulässigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen zur Folge.[95] Während der EGMR im Rahmen der Rechtsprechung zur EMRK bereits zur Frage nach dem Lebensrecht Ungeborener Stellung nehmen konnte, blieb dies dem EuGH in Bezug auf die Rechtsprechung zur EU-Grundrechtscharta bislang verwehrt.[96]

V. Schutzumfang Ungeborener nach dem Internationalen Pakt über die bürgerlichen und politischen Rechte

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Der internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte, welcher für Deutschland am 23. März 1976 in Kraft getreten ist, statuiert wie die EMRK ein Lebensrecht. Laut Art. 6 Abs. 1 IPbpR kommt jedem Menschen ein angeborenes Recht auf Leben zu. Darüber hinaus darf niemand willkürlich seines Lebens beraubt werden. Demzufolge wird auch durch den IPbpR ein Lebensrecht garantiert. Jedoch kann dem Gesetzeswortlaut des IPbpR ebenso wie der EMRK nicht entnommen werden, in welchem Zeitpunkt das Recht auf Leben beginnt.[97] Immerhin lässt sich aus Art. 6 Abs. 5 IPbpR, welcher die Vollstreckung der Todesstrafe bei schwangeren Frauen untersagt, ableiten, dass auch das Leben Ungeborener schützenswert ist. Daraus jedoch auf ein Lebensrecht von Embryonen und Föten zu schließen, wäre verfehlt. Ebenso ist den „travaux préparatoires“ nicht zu entnehmen, dass bei der Schaffung von Art. 6 IPbpR ein Lebensschutz des ungeborenen Lebens beabsichtigt wurde.[98] In der Vergangenheit beantragten bereits mehrere Mitgliedstaaten der UN-Menschenrechtskonvention das werdende Leben vom Zeitpunkt der Empfängnis im Sinne von Art. 6 Abs. 1 IPbpR zu schützen.[99] Solche Anträge wurden aber jeweils von einer Mehrheit der Delegierten abgelehnt. Dennoch kann aufgrund dieser Verweigerung des Zugeständnisses eines absoluten, vom Zeitpunkt der Empfängnis andauernden Lebensrechts dem ungeborenen Leben nicht jegliche Schutzwürdigkeit abgesprochen werden.[100]

VI. Schutzumfang Ungeborener nach dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes

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In Art. 6 Abs. 1 des in Deutschland am 5. April 1992 in Kraft getretenen Übereinkommens über die Rechte des Kindes wird festgehalten, dass jedem Kind ein angeborenes Recht auf Leben zukommt. Laut Art. 1 KRK gilt als Kind „jeder Mensch, der das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, soweit die Volljährigkeit nach dem auf das Kind anzuwendenden Recht nicht früher eintritt“. Dieser Norm kann zwar das Ende, jedoch nicht der Beginn des Kindseins entnommen werden. Dabei wird die Frage, ob die Schutzrechte der UN-Kinderrechtskonvention auch Ungeborenen zuteilwerden sollen, durch Art. 6 Abs. 1 bzw. Art. 1 KRK bewusst offen gelassen.[101] Mit der Verwendung der Bezeichnung „Kind“ und dem Verzicht, den Beginn des Kindseins näher zu definieren, soll nämlich den einzelnen Vertragsstaaten ermöglicht werden, selbst entscheiden zu können, ob im jeweiligen nationalen Recht auch dem ungeborenen menschlichen Leben ein Lebensrecht zuerkannt werden soll.[102] Immerhin lässt Abs. 9 der Präambel der KRK den Schluss zu, dass auch das ungeborene menschliche Leben schützenswert ist, indem festgehalten wird, dass sich die Vertragsstaaten darin einig sind, dass „das Kind wegen seiner mangelnden körperlichen und geistigen Reife besonderen Schutzes und besonderer Fürsorge, insbesondere eines angemessenen rechtlichen Schutzes vor und nach der Geburt, bedarf“. Zu beachten bleibt allerdings, dass der Präambel im Gegensatz zu den einzelnen Konventionsartikeln keine die Vertragsstaaten bindende Kraft zukommt.[103]

1. Abschnitt: Schutz von Leib und Leben › § 3 Schwangerschaftsabbruch › C. Beginn des menschlichen Lebens

C. Beginn des menschlichen Lebens

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Elementar für die Beurteilung von Straftaten gegen das Leben (§§ 211 ff. StGB) ist die Definition von Leben, insbesondere die Frage, wann das menschliche Leben beginnt und endet.[104] Im Strafrecht beginnt das menschliche Leben nach herrschender Meinung mit dem Einsetzen des Geburtsaktes, d.h. bei einer natürlichen Geburt mit dem Eintritt der Eröffnungswehen.[105] Wird der Geburtsvorgang operativ eingeleitet, also ein sog. Kaiserschnitt durchgeführt, so setzt der Beginn des Lebens als Mensch mit der Öffnung des Uterus (Gebärmutter) ein.[106] Das Abstellen auf die Eröffnungswehen wird nach vorherrschender Ansicht mit der Begründung, dass in diesem Zeitpunkt die symbiotische Mutter-Kind-Verbindung eine Trennung erfährt, als gerechtfertigt angesehen.[107] Denn während die Senk- und Stellwehen der Vorbereitung des Geburtsvorganges dienen, schließen die auf die Eröffnungswehen folgenden Austreibungs- und Presswehen den Geburtsvorgang ab.[108] Das Einsetzen des Geburtsaktes stellt folglich eine einschneidende Zäsur dar, da in diesem Zeitpunkt der strafrechtliche Schutz der Leibesfrucht im Sinne des strafbewehrten Schwangerschaftsabbruchs endet und der Strafrechtsschutz des menschlichen Lebens anhand der Tötungsdelikte beginnt.[109]

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Obwohl sich die herrschende Lehre auch nach dem Wegfall von § 217 StGB a.F.[110], welcher die Kindstötung während oder nach dem Geburtsvorgang regelte, dafür ausspricht, dass der Anfang der Geburt für die Beurteilung der Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebens ausschlaggebend sei, erachtet eine Mindermeinung die Vollendung der Geburt als maßgebliches Beurteilungskriterium.[111] Vertreter dieser Auffassung sehen insbesondere in § 1 BGB, wonach die Rechtsfähigkeit des Menschen mit der Vollendung der Geburt beginnt, eine Stütze ihrer Ansicht.[112]

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Unter Berücksichtigung, dass sowohl der natürliche als auch der operativ eingeleitete Geburtsvorgang ein sehr risikoreiches Ereignis darstellt, welches verschiedene Gefahren mit sich bringt, scheint es unerlässlich, dass dem zu gebärenden menschlichen Leben ein ausgiebiger Schutzumfang zugestanden wird.[113] Durch das Zugeständnis, dass das menschliche Leben mit Eintritt der Eröffnungswehen bzw. mit der operativen Öffnung der Gebärmutter beginnt, wird dieses während des gesamten Geburtsvorgangs umfassend strafrechtlich geschützt, da ihm bereits in dieser Phase der strafrechtliche Schutz der Tötungsdelikte (§§ 211 ff. StGB) zusteht.[114] Demzufolge können nicht nur vorsätzliche Beeinträchtigungen des menschlichen Lebens während des Geburtsvorgangs, sondern beispielsweise auch ein fahrlässiges ärztliches Fehlverhalten sanktioniert werden.[115] Elementar für die Beurteilung, ob ein Tötungsdelikt im Sinne der §§ 211 ff. StGB oder ein strafbarer Schwangerschaftsabbruch (§§ 218 f. StGB) vorliegt, ist demzufolge der Zeitpunkt, in dem auf das betroffene Lebewesen, d.h. Leibesfrucht oder geborener Mensch, schädigend eingewirkt wird.[116] Daher gilt die vorsätzliche Einwirkung auf die Leibesfrucht, die zu einem Absterben des Ungeborenen im Mutterleib oder zu einer Frühgeburt mit anschließender Todesfolge des Kindes führt, als Schwangerschaftsabbruch.[117] Demgegenüber ist die vorsätzliche oder fahrlässige Beeinträchtigung des menschlichen Lebens nach Einsetzen des Geburtsaktes, welche eine Totgeburt oder ein Ableben des Neugeborenen verursacht, als Tötungsdelikt im Sinne von §§ 211 ff. StGB zu qualifizieren.[118] Schließlich ist von einem versuchten Schwangerschaftsabbruch (§ 218 Abs. 4 StGB) in Tateinheit mit Totschlag (§ 212 StGB) auszugehen, wenn ein pränataler Eingriff zur Geburt eines Kindes führt, wobei dessen Tod durch eine weitere, nachgeburtliche Einwirkung bewirkt wird.[119]

1. Abschnitt: Schutz von Leib und Leben › § 3 Schwangerschaftsabbruch › D. Strafnormen in §§ 218–219b StGB

D. Strafnormen in §§ 218–219b StGB

I. Schutzbereich im Allgemeinen

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Die gegenwärtigen strafrechtlichen Schutznormen zum Schwangerschaftsabbruch sehen eine Fristenlösung mit Beratungspflicht vor, die durch zwei Indikationsregelungen ergänzt wird.[120] Als Schwangerschaftsabbruch gilt jegliches Abtöten der Leibesfrucht.[121] Strafrechtlich geschützt wird gemäss § 218 Abs. 1 S. 2 StGB das werdende Leben mit Abschluss der Nidation, d.h. mit erfolgter Einnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutter der Frau, welche in der Regel 13 Tage nach der Empfängnis vollendet ist.[122] Der Schutzbereich der §§ 218 ff. StGB endet mit Eintritt der Geburtswehen. Ab diesem Zeitpunkt finden die §§ 211 ff. und §§ 223 ff. Anwendung.[123] Auf einen Schutz des ungeborenen Lebens in der Pränidationsphase und folglich ab dem Zeitpunkt der Konzeption, also der Verschmelzung der männlichen Samen- und der weiblichen Eizelle, wurde verzichtet, um die Verwendung nidationshemmender Verhütungsmittel, wie beispielsweise die „Pille danach“, erlauben zu können.[124] Dagegen wird der Gebrauch nidationshindernder oder -abbrechender Medikamente (z.B. die sog. Abtreibungspille), welche eine bereits in der Gebärmutter eingenistete, befruchtete Eizelle abtöten, von den Strafnormen der §§ 218 ff. StGB erfasst.[125]

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Durch die §§ 218 ff. StGB soll das ungeborene menschliche Leben als eigenständiges höchstpersönliches Rechtsgut geschützt werden.[126] Jedoch ist fraglich, ob die besagten Normen auch die Gesundheit der Schwangeren im Sinne eines Rechtsguts als schützenswert erachten. Nach herrschender Lehre stellt die Gesundheit der Schwangeren sehr wohl ein solches Rechtsgut dar, jedoch wird diesem durch die §§ 218 ff. StGB nur ein mittelbarer Schutz zuerkannt, weshalb diesbezüglich von einem bloßen Schutzreflex die Rede ist.[127]

II. Schutzwürdigkeit und Schutzstadien

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Der strafrechtliche Schutz des Nasciturus ist – abhängig von dessen pränatalem Entwicklungsstadium – unterschiedlich stark ausgestaltet. Zunächst können drei zeitliche Phasen der Schwangerschaft unterschieden werden, nämlich als erste Phase diejenige von der Befruchtung der Eizelle (sog. Konzeption) bis zu deren Einnistung in die Gebärmutter (sog. Nidation) der Frau.[128] Diese Frühphase, auch Pränidationsphase genannt, ist kernstrafrechtlich nicht erfasst.[129] In einer zweiten Phase, welche von der Nidation bis zum Abschluss der 12. Schwangerschaftswoche dauert, sind Schwangerschaftsabbrüche unter Beachtung der Voraussetzungen von § 218a Abs. 1 StGB generell straffrei bzw. bei Vorliegen einer kriminologischen Indikation nach § 218a Abs. 3 StGB rechtmäßig.[130] Der strafrechtliche Schutz Ungeborener ist dabei relativ schwach ausgestaltet, da die Zulässigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs lediglich an formale Kriterien wie die Einhaltung einer zeitlichen Frist, ein vorgängiges Beratungsgespräch und die Vornahme des Abbruchs durch einen Arzt geknüpft ist.[131] Die dritte Phase schließlich, welche die Schwangerschaft nach der 12. Schwangerschaftswoche erfasst, führt zu einem verschärften strafrechtlichen Schutz des ungeborenen Lebens und lässt einen Schwangerschaftsabbruch nur noch unter der Voraussetzung einer medizinisch-sozialen Indikation i.S.v. § 218a Abs. 2 StGB zu.[132] Obwohl das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung dem werdenden Leben klar und deutlich ein Lebensrecht im Sinne von Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 GG zugesteht (siehe Rn. 5 ff.), herrscht diesbezüglich in der strafrechtlichen Lehre keineswegs Einigkeit.[133] Dabei reichen die Ansichten von einem absoluten Lebensrecht Ungeborener ab dem Zeitpunkt der Konzeption bis hin zur Ablehnung eines Lebensschutzes bis zur Geburt.[134] Immer öfters werden in der Lehre auch Stimmen laut, die sich für ein abgestuftes Lebensrecht bzw. einen abgestuften Lebensschutz des ungeborenen menschlichen Lebens aussprechen.[135] Nach deren Meinung wächst mit fortschreitender Entwicklung des Embryos in vivo auch dessen Lebensrecht bzw. Menschenwürde.[136] Demgegenüber sehen sich die Gegner einer abgestuften Schutzwürdigkeit der Leibesfrucht in der verfassungsrechtlichen Gesetzesnorm von Art. 1 Abs. 1 GG sowie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Thematik des strafrechtlich relevanten Schwangerschaftsabbruchs bestätigt, wonach dem Embryo ab dem Zeitpunkt der Nidation der Würdeschutz vollumfänglich zukommt, d.h. e contrario der Verfassungswortlaut keinen abgeschwächten Schutzumfang zuzulassen vermag.[137]

III. Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs (§ 218 StGB)

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§ 218 StGB hält als Grunddelikt den Grundsatz der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs fest.[138] Dabei kann ein strafbarer Schwangerschaftsabbruch gemäss § 218 Abs. 1 StGB nicht nur von einer Drittperson im Sinne eines Fremdabbruchs, sondern laut § 218 Abs. 3 StGB auch von der Schwangeren selbst (sog. Selbstabbruch) vorgenommen werden.[139] Auch die mittelbare Täterschaft einer Drittperson oder der Schwangeren wird von § 218 StGB erfasst.[140] Als Tathandlung kommt jede Einwirkung auf die Schwangere oder den Embryo bzw. Fötus in vivo in Frage, welche ein Absterben der Leibesfrucht im Mutterleib oder aber deren Abgang in nicht lebensfähigem Zustand bewirkt.[141] Die Tathandlung nach § 218 StGB hat dabei zwischen der abgeschlossenen Nidation und vor dem Einsetzen der Geburtswehen zu erfolgen.[142] Laut Gesetzeswortlaut in § 218 Abs. 1 StGB ist das werdende Leben ab dem Zeitpunkt der Einnistung in die Gebärmutter der Schwangeren strafrechtlich geschützt, d.h. Abtreibung von extrauterinen (außerhalb der Gebärmutter eingenisteten) Schwangerschaften, wie beispielsweise Eileiter- oder Bauchhöhlenschwangerschaften werden nicht vom Straftatbestand in § 218 StGB erfasst.[143] Den Straftatbestand des Schwangerschaftsabbruchs erfüllt zudem nur, wer vorsätzlich handelt, wobei bedingter Vorsatz genügt.[144] Dabei muss auch die Tatbestandsvoraussetzung des Absterbens der Leibesfrucht vom Vorsatz des Täters erfasst sein.[145] Hingegen fällt eine Bestrafung nach § 218 StGB bei fahrlässigem Schwangerschaftsabbruch außer Betracht.[146] Auch der versuchte Schwangerschaftsabbruch durch Drittpersonen wird gemäss § 218 Abs. 4 StGB bestraft, während sich die Schwangere selbst aufgrund eines persönlichen Strafausschließungsgrundes nicht wegen Versuchs strafbar machen kann.[147] Trotz des gesetzlich normierten Strafausschließungsgrundes der Schwangeren in § 218 Abs. 4 StGB bleibt auch der seitens einer Schwangeren versuchte Schwangerschaftsabbruch rechtswidrig.[148] Während der Fremdabbruch gemäss § 218 Abs. 1 StGB mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit einer Geldstrafe geahndet wird, kann laut § 218 Abs. 3 StGB ein Selbstabbruch im Sinne einer Privilegierung mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder einer Geldstrafe bestraft werden. In besonders schweren Fällen von Fremdabbrüchen sieht das Gesetz in § 218 Abs. 2 StGB eine Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten bis zu fünf Jahren vor. Gemäss den gesetzlich aufgeführten Regelbeispielen gelten als besonders schwere Fälle der gegen den Willen der Schwangeren vorgenommene Schwangerschaftsabbruch (§ 218 Abs. 2 Nr. 1 StGB) oder aber das leichtfertige Verursachen einer Todesgefahr oder schwerer Gesundheitsschädigung der Schwangeren (§ 218 Abs. 2 Nr. 2 StGB).[149] Die Verjährungsfrist zur Strafverfolgung eines strafbaren Schwangerschaftsabbruchs im Sinne von § 218 StGB beginnt nach § 78a S. 2 StGB mit dem Absterben der Leibesfrucht, wobei ab diesem Zeitpunkt ein Verstoß gegen § 218 StGB während fünf Jahren verfolgt werden kann.

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Hinsichtlich der Konkurrenzregelung zu § 218 StGB kann Folgendes festgehalten werden: Wird trotz Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs das Kind lebend geboren und nach der Geburt versucht, es zu töten, liegt unter der Voraussetzung der Lebensfähigkeit des Kindes Realkonkurrenz zwischen § 218 und den §§ 211 ff. StGB vor.[150] Ist das Kind lebensunfähig, so ist von Idealkonkurrenz zwischen § 218 und §§ 211 ff. StGB auszugehen.[151] Wird die schwangere Frau beim Eingriff verletzt, so wird deren Körperverletzung als Begleittat von § 218 StGB verdrängt, sofern die Verletzung aus dem Abbruch selbst resultiert.[152] Anderweitige Körperverletzungen der Frau oder gar die Tötung stehen dagegen in Tateinheit mit § 218 StGB.[153] Bei einer vorsätzlichen bzw. fahrlässigen Tötung der Schwangeren ist ebenfalls Tateinheit zu § 218 StGB anzunehmen.[154]

IV. Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs (§ 218a StGB)

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In § 218a StGB wird gesetzlich festgehalten, in welchen Fällen ein Schwangerschaftsabbruch straflos bleibt. Währenddem § 218a Abs. 1 StGB einen Tatbestandsausschluss darstellt, werden in § 218a Abs. 2 und 3 StGB Rechtfertigungsgründe zur Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs aufgeführt.[155] Allen in § 218a Abs. 1–4 StGB geregelten Varianten des straflosen Schwangerschaftsabbruchs ist gemein, dass nur ein Arzt den Abbruch durchführen darf bzw. kann (sog. Arztvorbehalt).[156]

1. Tatbestandsausschluss (Abs. 1)

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Der im Sinne einer Fristenlösung mit Beratungspflicht konzipierte Tatbestandsausschluss nach § 218a Abs. 1 StGB fordert kumulativ vier Voraussetzungen.[157] Neben einem (1) Abbruchsverlangen seitens der Schwangeren wird auch ein (2) mindestens drei Tage vor dem Eingriff erfolgter Beratungsnachweis im Sinne von § 219 Abs. 2 S. 2 StGB bei einer anerkannten Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle (Abs. 1 Nr. 1) vorausgesetzt.[158] Das Verlangen der Schwangeren erfasst dabei jeden ausdrücklichen und ernsthaft bekundeten Wunsch nach einem Schwangerschaftsabbruch.[159] Darüber hinaus muss (3) der Schwangerschaftsabbruch von einem Arzt (Abs. 1 Nr. 2), welcher gemäss § 219 Abs. 2 S. 3 StGB nicht identisch mit dem die Beratung durchführenden Arzt sein darf, (4) innerhalb der ersten zwölf Wochen seit der Empfängnis vorgenommen werden (Abs. 1 Nr. 3).[160] Die Schwangerschaftskonfliktberatung (§ 218a Abs. 1 Nr. 1 StGB) verfolgt laut § 219 StGB das Ziel, der Schwangeren Hilfsmöglichkeiten im Fall eines Entschlusses zur Austragung des Kindes aufzuzeigen, um sie zur Fortführung ihrer Schwangerschaft ermutigen zu können.[161] Sind die soeben erläuterten Voraussetzungen erfüllt, machen sich die an einem Schwangerschaftsabbruch beteiligten Personen nicht strafbar.[162] Die Frage, ob eine Ärztin einen straflosen Schwangerschaftsabbruch im Sinne von § 218a Abs. 1 StGB an sich selbst durchführen kann, wird in der Lehre kontrovers diskutiert.[163] Obwohl bei Vorliegen der Voraussetzungen nach § 218a Abs. 1 StGB weder die Schwangere noch der den Schwangerschaftsabbruch ausführende Arzt tatbestandsmäßig im Sinne von § 218 StGB handelt, soll der Schwangerschaftsabbruch nach herrschender Lehre trotzdem rechtswidrig sein.[164]

 

2. Indikationenmodell (Abs. 2 und 3)

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Die Indikationenlösung in § 218a Abs. 2 und 3 StGB regelt die Zulässigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs nach Ablauf der in § 218 Abs. 1 StGB statuierten zwölfwöchigen Abtreibungsfrist.[165] Es wird dabei zwischen der medizinisch-sozialen (Abs. 2) und der kriminologischen Indikation (Abs. 3) unterschieden, wobei beide Indikationen Rechtfertigungsgründe darstellen.[166] Allgemein werden die beiden Indikationen als Spezialfälle des rechtfertigenden Notstandes verstanden.[167] Im Gegensatz zum Tatbestandsausschluss nach Abs. 1 setzt das Indikationenmodell für die Zulässigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs kein Konfliktberatungsgespräch voraus.[168] Dagegen muss bei beiden Indikationen die Einwilligung der Schwangeren zur Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs vorliegen, wobei für eine wirksame Einwilligung sowohl Einsichts- als auch Urteilsfähigkeit der Schwangeren erforderlich ist.[169] Ebenso wie unter § 218a Abs. 1 StGB ist der Abbruch durch einen Arzt vorzunehmen.[170] Schließlich muss der auf einer medizinisch-sozialen oder kriminologischen Indikation beruhende Schwangerschaftsabbruch auch nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt sein, weshalb gemäss § 218b Abs. 1 S. 1 StGB ein Indikationsgutachten eines Drittarztes vorausgesetzt wird.[171] In subjektiver Hinsicht erfordern beide Indikationen, dass der den Schwangerschaftsabbruch durchführende Arzt in Kenntnis aller Rechtfertigungsvoraussetzungen handelt.[172] Jedoch bleibt der Arzt selbst bei irrtümlicher Annahme über das Vorliegen der Rechtfertigungsvoraussetzungen straffrei.[173] Von der rechtfertigenden Wirkung der § 218a Abs. 2 und 3 StGB wird nur die Strafbarkeit nach § 218 StGB erfasst, nicht dagegen die Straftatbestände der §§ 218b ff. StGB.[174]