Handbuch des Strafrechts

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c) Grundtatbestand

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Die Aussetzung gehört zu den „Straftaten gegen das Leben“ (Überschrift 16. Abschnitt), weil sie eine Tat ist, durch die typischerweise ein Mensch in Lebensgefahr gebracht wird. Ausreichend ist allerdings auch die konkrete Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung. Tatobjekt kann jeder lebende Mensch sein.[288] Die Abgrenzung zwischen nasciturus (§§ 218 ff. StGB) und Mensch richtet sich nach den allgemeinen Kriterien. Eine Tat gegen eine schwangere Frau erfüllt den Tatbestand nur, wenn die Frau selbst in die Gefahr des Todes oder schwerer Gesundheitsschädigung gebracht wird. Eine allein dem ungeborenen Kind drohende Gefahr reicht nicht.[289] Auch die Herbeiführung einer Frühgeburt mit der Folge, dass das geborene Kind in der konkreten Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung oder des Todes schwebt, vermag den Tatbestand nicht zu erfüllen. Denn die Tatopfertauglichkeit richtet sich nach dem Zustand, in dem sich das künftige Lebewesen befindet, während es erstmalig von den Wirkungen der Tat physisch betroffen ist. Das Opfer braucht keine per se hilflose Person zu sein, obwohl dadurch die Tatbestandsverwirklichung erleichtert wird. Es kommt darauf an, dass das Opfer durch die Tat in eine Lage versetzt wird, in der es hilflos ist. Das ist dann der Fall, wenn es sich nicht selbst aus der konkret gefährlichen Lage befreien bzw. vor der drohenden Gesundheitsschädigung oder dem drohenden Tod schützen kann und fremde Hilfe nicht erreichbar ist.[290] Das Tatbestandsmerkmal „versetzen“ (Nr. 1) ist die Herbeiführung des Hilflosigkeitszustandes. Meistens wird das durch Verbringung des Opfers an einen anderen Ort geschehen.[291] Dabei muss sich das Opfer nicht unbedingt zuvor in einer geborgenen Lage befunden haben. Auch die Verschlimmerung der Situation eines bereits in hilfloser Lage befindlichen Menschen ist tatbestandsmäßig.[292] „Versetzen“ ist auch ohne Ortsveränderung des Opfers möglich, z.B. durch Beseitigung von schutzbereiten Personen (der Täter lockt die Mutter von ihrem im Kinderwagen liegenden Säugling weg) oder gefahrabwendungstauglichen Gegenständen (der Täter entwendet alle lebenswichtigen Medikamente, die der Kranke benötigt).[293] Wer als Garant verpflichtet ist, einen anderen vor der hilflosen Lage zu bewahren, kann das Tatbestandsmerkmal „Versetzen“ dadurch erfüllen, dass er die hilflose Lage nicht verhindert (z.B. die Mutter sieht untätig zu, wie ihre dreijährige Tochter in den dunklen Wald hineinläuft).[294] Schafft oder verschlimmert der Garant die hilflose Lage des Opfers dadurch, dass er sich selbst räumlich entfernt, begeht er ebenfalls Versetzen durch garantenpflichtwidriges Unterlassen, also §§ 221 Abs. 1 Nr. 1, 13 Abs. 1 StGB. Für die 2. Alternative „Im Stich lassen“ bleiben somit nur die Fälle übrig, in denen die – von der konkreten Gesundheits- oder Lebensgefährdung zu unterscheidende[295] – hilflose Lage durch die Untätigkeit des Garanten nicht verschlimmert wird, aber die konkrete Gefahr für Gesundheit oder Leben infolge des Imstichlassens eintritt.[296] Ortsveränderung des Opfers oder des Täters setzt § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht voraus.[297] Die am Krankenbett des schwerkranken Patienten sitzende Krankenschwester begeht Aussetzung, wenn sie die zur Erhaltung des Gesundheitszustandes gebotenen Aktivitäten unterlässt. Taterfolg ist die konkrete Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung oder des Todes.[298] Die Verursachung der hilflosen Lage als solcher ist lediglich ein strafloser Versuch, solange sich das Gefährdungspotential der Hilflosigkeit noch nicht zu einer konkreten Gefahrenlage verdichtet hat. „Schwer“ ist eine Gesundheitsschädigung, wenn sie entweder in eine der Schadensklassen des § 226 Abs. 1 StGB eingeordnet werden kann oder einen gleichen Schweregrad aufweist. Da die Gefahr der schweren Gesundheitsschädigung eine Vorstufe der konkreten Todesgefahr ist, kann der Tatbestand dadurch verwirklicht werden, dass ein bereits in der konkreten Gefahr schwerer Gesundheitsschädigung befindlicher Mensch in eine andere Hilflosigkeitssituation versetzt wird, in der ihm konkrete Gefahr noch schwererer Gesundheitsschädigung oder Gefahr des Todes droht.[299] Zwischen tatbestandsmäßiger Handlung, hilfloser Lage und konkreter Gefahr muss ein durchlaufender Kausal- und Zurechnungszusammenhang bestehen.[300] Die Versetzung in hilflose Lage oder das Imstichlassen in hilfloser Lage muss also eine Risikoerhöhung bewirken. Gerät das Opfer in der neuen hilflosen Lage in eine konkrete Lebensgefahr, die ihm in der ursprünglichen geschützten Lage ebenso zugestoßen wäre, ist die Gefährdung nicht objektiv zurechenbar (nach der Evakuierung eines bombardierten Krankenhauses werden die Patienten in eine Behelfsunterkunft gebracht, die von dem Bombardement gleichermaßen betroffen ist). Der Zurechnungszusammenhang kann dadurch unterbrochen werden, dass das Opfer nach vorübergehender Hilflosigkeit in einen Zustand relativer Geborgenheit gerät und erst jetzt eine konkrete Gefahr schwerer Gesundheitsschädigung oder des Todes entsteht. Hilflose Lage und konkrete Gefahr müssen also koinzident sein.

d) Qualifikationen

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§ 221 Abs. 2 StGB normiert zwei Qualifikationen, die an sehr unterschiedliche Umstände anknüpfen: In der Alternative Nr. 1 ist es die Verletzung einer gesteigerten Fürsorgepflicht des Täters, die den Unrechtsgehalt der Tat erhöht. In der Alternative Nr. 2 bewirkt das Umschlagen der konkreten Gefährdung in eine effektive schwere Schädigung der Gesundheit eine Steigerung des Erfolgsunrechts. Bedenken mit Blick auf das Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG) weckt die Fassung des § 221 Abs. 2 Nr. 1 StGB: Verbrechensstrafe trifft den Vater oder die Mutter, der/die die Aussetzung zum Nachteil des eigenen „Kindes“ begeht. Dass diese Eltern-Kind-Beziehung nicht auf leibliche Kinder beschränkt ist, sondern auch adoptierte Kinder umfasst, ergibt sich aus dem Gesetzeswortlaut mit hinreichender Klarheit.[301] Fraglich ist indessen, ob mit dem Merkmal „Kind“ auch eine Altersgrenze verbunden ist. Die naheliegende Bezugnahme auf § 176 Abs. 1 StGB, wo als „Kind“ eine „Person unter vierzehn Jahren“ definiert wird, findet in der Literatur nur wenig Anklang. Eine einheitliche Eingrenzung des geschützten Personenkreises existiert nicht. Das Spektrum der Vorschläge ist breit und reicht von: „Das Alter des Kindes spielt keine Rolle“[302] über „Jugendliche im Sinne des § 1 Abs. 1 JGG“[303] bis zur Anlehnung an § 176 Abs. 1 StGB.[304] Da die elterliche Personensorgepflicht erst mit Volljährigkeit des Abkömmlings endet, spricht die ratio der Norm für Grenzziehung bei Vollendung des 18. Lebensjahres.[305] Dies müsste allerdings vom Gesetzgeber durch Einfügung des Wortes „minderjähriges“ klargestellt werden. In der jetzigen Fassung spricht der Wortlaut klar für die restriktivere Sichtweise und Übernahme der Legaldefinition des § 176 Abs. 1 StGB. Der Kreis der geschützten Personen der zweiten Alternative des § 221 Abs. 2 Nr. 1 StGB ist altersmäßig nicht begrenzbar.[306]

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§ 221 Abs. 2 Nr. 2 StGB normiert ein erfolgsqualifiziertes Delikt.[307] Da hinsichtlich des qualifizierenden Schädigungserfolges Fahrlässigkeit ausreicht (§ 18 StGB), handelt es sich dem materiellen Unrechtsgehalt nach um einen speziellen Fall der fahrlässigen Körperverletzung. Zwischen der zum Grundtatbestand gehörenden konkreten Gefährdung und der schweren Gesundheitsschädigung muss ein Gefahrverwirklichungszusammenhang bestehen. Da nur die schwere Gesundheitsschädigung „des Opfers“ relevant ist, kommen tatbegleitende Schäden, die z.B. Retter anlässlich der Bergung des Opfers erleiden,[308] erst bei der Strafzumessung zur Geltung. Auch wird die Möglichkeit eines (untauglichen) erfolgsqualifizierten Versuchs an einem vermeintlichen Opfer ausgeschlossen (dazu näher unten Rn. 68).

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Eine graduelle Steigerung des Erfolgsunrechts, das die Qualifikation des § 221 Abs. 2 Nr. 2 StGB trägt, bildet den Strafschärfungsgrund des § 221 Abs. 3 StGB. Auch dieser Tatbestand ist ein erfolgsqualifiziertes Delikt.[309] Der Tod der in hilflose Lage versetzten oder in hilfloser Lage im Stich gelassenen Person muss sich als Verwirklichung der konkreten Lebensgefahr darstellen, die der hilflosen Lage immanent war. In subjektiver Hinsicht genügt fahrlässige Verursachung des Todeserfolges, § 18 StGB.

e) Täterschaft und Teilnahme

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Die Gesamtsystematik der verschiedenen Grund- und Qualifikationstatbestände umfasst Allgemein- und Sonderdelikte. Jedermann kann als Täter die Tatbestände § 221 Abs. 1 Nr. 1, § 221 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 sowie § 221 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 3 StGB verwirklichen.[310] § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB hingegen setzt eine Beschützergarantenstellung voraus und ist daher ein Sonderdelikt. Täter der Qualifikation gemäß § 221 Abs. 2 Nr. 1 StGB können nur Elternteile des Opfers sowie Erziehungs- und Betreuungspflichtige sein. Alle Merkmale, die den besonderen Täterstatus definieren, sind besondere persönliche Merkmale i.S.d. § 28 StGB. Wer als Anstifter oder Gehilfe an einer den § 221 Abs. 2 Nr. 1 StGB verwirklichenden Haupttat mitwirkt, ohne selbst die speziellen Tätervoraussetzungen zu erfüllen, ist nur aus § 221 Abs. 1 i.V.m. §§ 26, 27 StGB strafbar, § 28 Abs. 2 StGB.[311] Umgekehrt kann sich ein Vater oder eine Mutter aus § 221 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. §§ 26, 28 Abs. 2 StGB strafbar machen, indem er/sie das eigene Kind von einem fremden – nur den Grundtatbestand § 221 Abs. 1 Nr. 1 StGB erfüllenden – Täter in eine hilflose Lage versetzen lässt.

 

f) Versuch

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Straflos ist der Versuch der grundtatbestandsmäßigen Aussetzung.[312] Daraus folgt trotz vollständiger Erfüllung des objektiven Tatbestandes Straflosigkeit, wenn die Tat objektiv gerechtfertigt ist, der Täter die Erfüllung der objektiven Merkmale eines Rechtfertigungsgrundes aber nicht erkennt (z.B. Versetzung eines Angreifers durch eine objektiv erforderliche Verteidigung i.S.d. § 32 StGB in eine hilflose Lage[313]). Die Qualifikationen des § 221 Abs. 2 und Abs. 3 StGB sind Verbrechen i.S.d. § 12 Abs. 1 StGB. Gemäß § 23 Abs. 1 StGB folgt daraus die Versuchsstrafbarkeit. Unbestritten ist das in Bezug auf § 221 Abs. 2 Nr. 1 StGB.[314] Sehr kontrovers ist die Position der Strafrechtslehre zur Versuchsstrafbarkeit bei § 221 Abs. 2 Nr. 2 und Abs. 3 StGB. Grund des Streits ist die Straflosigkeit des Grunddeliktsversuchs. Nach h.M. kann die Verursachung einer schweren Folge durch den Versuch des Grunddelikts strafbar nur sein, wenn schon der grunddeliktische Versuch strafbar ist. Denn die schwere Folge müsse Voraussetzung für eine „schwerere Strafe“ sein. Dem Erfolg „schwere Gesundheitsschädigung“ (§ 221 Abs. 2 Nr. 2 StGB) und „Tod“ (§ 221 Abs. 3 StGB) wüchse hingegen strafbarkeitsbegründende Wirkung zu, wenn die Strafbarkeit des erfolgsqualifizierten Aussetzungsversuchs anerkannt würde. Das widerspräche § 18 StGB, wonach die schwere Folge eine „schwerere Strafe“ begründen müsse, was nur möglich sei, wenn schon das Grunddelikt strafbar ist.[315] Diese rechtlichen Konsequenzen lassen sich aus § 18 StGB aber nicht herleiten. Die Formel „Knüpft das Gesetz an eine besondere Folge der Tat eine schwerere Strafe“ hat lediglich gesetzestechnische Verweisungsfunktion und ist Ersatz für die Aufzählung der BT-Vorschriften, auf die § 18 StGB anwendbar sein soll: §§ 176b, 221 Abs. 3, 226 Abs. 1, 227, 235 Abs. 5 StGB usw. Die gesetzliche Festlegung, dass der Eintritt der schweren Folge nicht die Strafbarkeit eines per se straflosen Versuchs begründen dürfe, lässt sich dem § 18 StGB nicht entnehmen. Daher ist die Möglichkeit eines strafbaren Aussetzungsversuchs mit der schweren Folge des § 221 Abs. 2 Nr. 2 oder § 221 Abs. 3 StGB anzuerkennen.[316] Fraglich ist allerdings, ob der bloße Aussetzungsversuch Grundlage des erforderlichen Gefahrverwirklichungszusammenhangs sein kann. Das hängt davon ab, ob sich in der schweren Folge die Aussetzungserfolgsgefahr verwirklicht haben muss oder ob es reicht, wenn sich in der schweren Folge die Aussetzungshandlungsgefahr verwirklicht. Da die schwere Gesundheitsschädigung oder der Tod stets auf einem Kausalverlauf beruht, der das Durchgangsstadium der konkreten Gefahr der schweren Gesundheitsschädigung oder des Todes durchlaufen hat, reduziert sich das Problem auf Fälle, in denen die tatsächliche konkrete Gefahr nicht vom Vorsatz des Täters erfasst war. Hier stellt sich die Frage, ob der Anknüpfungspunkt für den Gefahrverwirklichungszusammenhang vorverlagert werden kann auf die Aussetzungshandlung. Dafür spricht vor allem die frühere Fassung des § 221 Abs. 3 StGB, in der ausdrücklich die „Handlung“ als Ursache von schwerer Körperverletzung oder Tod und zudem das Opfer als „ausgesetzte oder verlassene Person“ bezeichnet wurde. Dies trägt die Deutung, dass schon der Zustand des Ausgesetzt- oder Verlassenseins als relevante Quelle der schweren Folge anerkannt war und es auf den Zwischenerfolg der konkreten Gefährdung nicht ankam. Als strafbarer Aussetzungsversuch mit Todesfolge könnte demnach z.B. der Fall bewertet werden, dass das in hilfloser Lage verlassene, aber noch nicht konkret gefährdete Opfer in Panik durch den finsteren Wald irrt und dabei einen steilen Abhang hinabstürzt.

IV. Fahrlässige Tötungsdelikte

1. Fahrlässige Tötung

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Die allgemeine fahrlässige Tötung ist nach § 222 StGB strafbar. Strafbarkeitsvoraussetzung ist die Verursachung des Todes durch fahrlässiges Verhalten. Das kann aktives Tun oder garantenpflichtwidriges Unterlassen (§ 13 StGB) sein. Das Opfer muss im Zeitpunkt der Tat ein lebender Mensch sein. Bei Eingriffen in eine Schwangerschaft, die zur Folge haben, dass die Leibesfrucht entweder schon im Mutterleib verstirbt oder infolge vorgeburtlicher Schädigung nach der Geburt stirbt, ist der Tatbestand also nicht erfüllt, weil sich die fahrlässige Handlung nicht gegen einen Menschen richtete.[317] Wird dagegen dem Kind während der Geburt durch fehlerhaftes Handeln des Arztes oder der Hebamme ein Körperschaden zugefügt, der alsbald zum Tod führt, liegt fahrlässige Tötung vor.[318] Wie bei §§ 211, 212 StGB sind auch bei § 222 StGB allein Angriffe auf das Leben einer anderen Person tatbestandsmäßig. Beruht der Tod eines Menschen auf eigenem Verhalten des Getöteten, kommt eine Strafbarkeit anderer Personen aus § 222 StGB nur unter der Voraussetzung in Betracht, dass das selbsttötende Verhalten des Opfers nicht eigenverantwortlich war. Dabei sind dieselben Kriterien zugrunde zu legen, die im Bereich der vorsätzlichen Tötungsdelikte den Maßstab für die Unterscheidung strafloser Suizidbeteiligung und strafbarer Fremdtötung bilden. Zudem ist zwischen Beteiligung an eigenverantwortlicher Selbstgefährdung mit tödlichem Ausgang und einverständlicher Fremdgefährdung mit tödlichem Ausgang zu differenzieren.[319] Leitentscheidung zur straflosen fahrlässigen Suizidbeteiligung ist BGHSt 24, 342 ff. In seinem Urteil hat der 5. Strafsenat eine Parallele zur straflosen vorsätzlichen Teilnahme an einem Suizid gezogen: „Wer mit Gehilfenvorsatz den Tod eines Selbstmörders mitverursacht, kann nicht bestraft werden, weil der Selbstmord keine Straftat ist. Dabei gehört zum Gehilfenvorsatz, daß der Gehilfe weiß oder zumindest damit rechnet und billigend in Kauf nimmt, es werde zum Tod des Selbstmörders kommen. Schon dies verbietet es aus Gründen der Gerechtigkeit, denjenigen zu bestrafen, der nur fahrlässig eine Ursache für den Tod eines Selbstmörders setzt. Er ist sich – bei bewußter Fahrlässigkeit – wie der Gehilfe der möglichen Todesfolge bewußt, nimmt sie aber in Gegensatz zu jenem nicht billigend in Kauf. Bei unbewußter Fahrlässigkeit fehlt das Bewußtsein der möglichen Todesfolge. Es geht nicht an, das mit einer solchen inneren Einstellung verübte Unrecht strafrechtlich strenger zu bewerten als die Tat desjenigen, der mit Gehilfenvorsatz dasselbe Unrecht bewirkt, nämlich den Tod eines Selbstmörders mitverursacht.“[320]

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Die Handlung oder Unterlassung des Täters muss den Tod des Opfers verursacht haben. Es gelten die allgemeinen Regeln der Kausalität.[321] Kommen als Ursache des Todeserfolges Handlungen mehrerer Personen in Betracht und lässt sich die Ursächlichkeit einer bestimmten Handlung nicht exakt ermitteln, bleiben alle Verdächtigen nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ straffrei. Anders lautet das Ergebnis nur, wenn die Handlungen der anderen potentiellen Verursacher zurechenbar sind. Das ist nach einer Ansicht, die inzwischen beachtliche Anhängerschaft hat, auf der Grundlage des § 25 Abs. 2 StGB möglich. Eine „fahrlässige Mittäterschaft“ wird von vielen anerkannt. Ein anderer dogmatischer Begründungsweg führt über die „Nebentäterschaft“, die bei fahrlässigen Erfolgsdelikten die dogmatische „Klammer“ ist, mit der die Verantwortlichkeit für das Verhalten anderer begründet werden kann. Wenn zu der verletzten Sorgfaltspflicht gehört, andere nicht zu ihrem pflichtwidrigen Handeln zu motivieren oder dabei zu unterstützen, kann der unmittelbar durch dieses Handeln verursachte Erfolg auch demjenigen zugerechnet werden, der zu diesem Erfolg nur einen mittelbaren Beitrag geleistet hat. Da der Todeserfolg „durch Fahrlässigkeit“ verursacht worden sein muss, ist Teil der Strafbarkeitsvoraussetzungen der fahrlässigen Tötung auch ein „Pflichtwidrigkeitszusammenhang“.[322] Prüfungsmethodisch unterscheidet sich die Feststellung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs nicht von der Kausalitätsprüfung. Entfiele der Erfolg, wenn der Täter nicht sorgfaltspflichtswidrig, sondern sorgfaltspflichtgemäß gehandelt hätte, besteht der Pflichtwidrigkeitszusammenhang. Umgekehrt fehlt es am Pflichtwidrigkeitszusammenhang, wenn derselbe Erfolg auch bei sorgfaltspflichtgemäßem („Alternativ“-)Verhalten eingetreten wäre.

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In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes hat die Entscheidung zum „Radfahrer-Fall“ Berühmtheit erlangt wegen ihrer Ausführungen zum Pflichtwidrigkeitszusammenhang, den der Strafsenat damals noch nicht so bezeichnete, sondern als einen besonderen Aspekt der Kausalität behandelte: „Natürlich war die Fahrweise des Angeklagten eine Bedingung im mechanisch-naturwissenschaftlichen Sinn für den Tod des Radfahrers. Damit ist aber nicht gesagt, daß die in seinem Verhalten steckende Verkehrswidrigkeit, das zu knappe Überholen, für die Herbeiführung des Tötungstatbestandes gemäß § 222 StGB im strafrechtlichen Sinne ursächlich war. Das vom Schuldgrundsatz beherrschte Strafrecht begnügt sich nicht mit einer rein naturwissenschaftlichen Verknüpfung bestimmter Ereignisse, um die Frage nach dem Verhältnis zwischen Ursache und Erfolg zu beantworten. Für eine das menschliche Verhalten wertende Betrachtungsweise ist vielmehr wesentlich, ob die Bedingung nach rechtlichen Bewertungsmaßstäben für den Erfolg bedeutsam war. Dafür ist entscheidend, wie das Geschehen abgelaufen wäre, wenn der Täter sich rechtlich einwandfrei verhalten hätte. Wäre auch dann der gleiche Erfolg eingetreten oder läßt sich das auf Grund von erheblichen Tatsachen nach der Überzeugung des Tatrichters nicht ausschließen, so ist die vom Angeklagten gesetzte Bedingung für die Würdigung des Erfolges ohne strafrechtliche Bedeutung. In diesem Fall darf der ursächliche Zusammenhang zwischen Handlung und Erfolg nicht bejaht werden.“[323] Die Kategorisierung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs als Unterfall der Kausalität hat die Rechtsprechung auch in der Folgezeit aufrechterhalten.[324] In der Literatur wird hingegen zwischen Kausalität und objektiver Zurechnung des Erfolges unterschieden.

 

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Das Erfordernis des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs stellt die Strafrechtsanwendung vor die Herausforderung, Art und Umfang der zurechnungserheblichen Pflichtwidrigkeit exakt zu bestimmen. Dies ist in dem Lebensbereich, wo fahrlässige Tötung trotz Rückgangs tödlicher Unfälle immer noch große praktische Bedeutung hat – dem Straßenverkehr – nur scheinbar eine leichte Aufgabe. Zwar lässt sich am Maßstab der Straßenverkehrsordnung in vielen Fällen mit geringem Aufwand feststellen, dass der Verkehrsteilnehmer gegen eine Sorgfaltspflicht verstoßen hat. Auch ist meistens aufklärbar, dass ohne diese Sorgfaltspflichtverletzung der Geschehensverlauf ein anderer gewesen wäre und der eingetretene Todeserfolg vermieden worden wäre. Aber entscheidend ist immer, dass die festgestellte Sorgfaltspflichtverletzung im Kontext des Straftatbestandes Fahrlässige Tötung überhaupt berücksichtigungsfähig ist. Das hängt von dem Schutzzweck der Sorgfaltsnorm ab, die der Täter übertreten hat. Dieser muss nicht nur die Vermeidung von Todesfällen umfassen, sondern auch die Vermeidung einer bestimmten Klasse tödlicher Geschehensverläufe, zu der der konkrete todesursächliche Verlauf gehört. Da bei Vorsatzdelikten eine generelle Beschränkung relevanter Verhaltenspflichten durch die Versuchsgrenze gewährleistet wird und Verhaltensfehler im Vorbereitungsstadium grundsätzlich keine Strafbarkeit begründen können, ist bei Fahrlässigkeitsdelikten eine ähnliche raum-zeitliche Grenzziehung naheliegend. Die Rechtsprechung setzt diese Idee ohne explizite Bezugnahme auf § 22 StGB um, indem sie allein Sorgfaltspflichtsverletzungen nach „Eintritt der kritischen Verkehrslage“ Beachtlichkeit zuschreibt.[325] „Diese Prüfung scheidet Umstände aus der rechtlichen Bewertung aus, die im naturwissenschaftlichen Sinne zwar auch Bedingungen für den eingetretenen Erfolg sind, die aber für die strafrechtliche Haftung des Täters keine Rolle spielen können. Es kommt danach insbesondere nicht darauf an, ob der Fahrzeugführer irgendwann vor dem Eintritt der kritischen Verkehrslage eine Geschwindigkeitsüberschreitung begangen hatte, welche überhaupt erst dazu beigetragen hat, daß er im Unfallzeitpunkt am Unfallort war.“[326]