Klima|x

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Z serii: Punctum #17
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Wechselnde Schattierungen des Extremismus

Corona und Klima teilen eine strukturelle Eigenschaft, die zum Vergleich einlädt: Die Summe der Todesopfer ist eine Funktion der Summe des Handelns oder Nichthandelns seitens der Staaten. Unbehandelt intensivieren sich beide Übel von selbst – je mehr Menschen infiziert sind, desto mehr werden sich infizieren; je heißer der Planet ist, desto mehr Rückkopplungsmechanismen heizen ihn weiter auf –, und haben sie erst einmal richtig Fahrt aufgenommen, besteht die einzige Möglichkeit, solch um sich greifende Brände abzublocken, darin, den Stecker zu ziehen. Staaten im Globalen Norden haben gerade den Beweis erbracht, dass dies möglich ist. Es wird nicht einfach sein, die Erinnerung daran wieder aus dem Gedächtnis zu tilgen.

Als Klimaaktivist*innen und Wissenschaftler*innen die Reduktion der Emissionen forderten, wurde ihnen gesagt, dass es zu teuer sei: Schließlich könnte es zu einer Verringerung des BIP um 0,1 oder 0,2 Prozent führen. (Die Klimakrise »rechtfertigt keine politischen Verfahren, die mehr als 0,1 Prozentpunkte des Wachstums kosten«, dozierte das Wall Street Journal 2017 in typischer Manier.) Einige Menschen könnten ihre Arbeit verlieren. Konkurse würden angemeldet. Die Menschen würden niemals die Beeinträchtigung ihres wohlvertrauten Lebens akzeptieren, und überhaupt, selbst wenn einige Länder Abstriche bei ihren Emissionen machten, gäbe es immer noch andere – Trittbrettfahrer*innen –, die sich an den Freuden des Kohlendioxids laben würden.

Wie sich herausstellte, waren im März 2020 all diese und noch weitere Bedenken plötzlich nicht mehr der Rede wert. Niemals sah ein Plan für den Ausstieg aus der Nutzung fossiler Energien je die in diesem Monat bewusst ausgelösten Akzentverschiebungen vor: Kein einziger schlug vor, den Weltkapitalismus über Nacht anzuhalten, um das Klima zu retten. Kein einziger empfahl, die Emissionen innerhalb von dreißig Tagen um ein Viertel zu senken – selbst die Forderung nach fünf oder zehn Prozent pro Jahr wurde als völlig inakzeptabler Extremismus abgetan. Kein einziger behauptete, dass eine Ausgangssperre über die Menschheit verhängt werden sollte. Kein Fahrplan, kein Manifest, keine Vision der Klimabewegung – und auch sie hat ihren Anteil an Radikalen – skizzierte jemals etwas Derartiges wie den Meteoritenschauer von Staatsinterventionen, der im März 2020 auf unserem Planeten eingeschlagen hat. Und dennoch wird uns immer und immer wieder gesagt, wir seien unrealistisch, unpragmatisch, Träumer*innen oder Panikmacher*innen. Niemals wieder sollten derartige Lügen Gehör finden.

Sträubten sich die Bürger*innen der Welt gegen die Notfallregelungen? Eine Ende März durchgeführte weltweite Umfrage legte massiven Zuspruch für die Maßnahmen nahe – Unzufriedenheit bestand, wenn überhaupt, darin, dass sie nicht weit genug gingen: Fast die Hälfte der Menschheit, beziehungsweise 43 Prozent davon, war der Meinung, ihre Regierungen würden zu wenig unternehmen, um die Pandemie zu bekämpfen. Lediglich acht der 45 befragten Länder verzeichneten signifikante Minderheiten – rund ein Viertel der Bevölkerung –, die unglücklich über die von ihnen als übertrieben empfundene Reaktion ihrer Regierungen waren (dazu zählten die USA, Heimat des Laisser-faire-Klimaschutzes, wo der Anteil bei 19 Prozent lag). Offensichtlich war es nicht allzu schwierig, der Öffentlichkeit die Idee schmackhaft zu machen, dass manches Bedürfnis zurückgestellt werden muss, sobald viele Leben auf dem Spiel stehen.

Haben Trittbrettfahrer*innen die Maßnahmen untergraben? Sowohl Corona als auch das Klima ließen sich hinsichtlich der von Spieltheoretiker*innen geliebten »Probleme kollektiven Handelns« in den Blick nehmen: Zwar würden alle von den Früchten der Kooperation zehren – eine überwundene Pandemie, ein stabilisiertes Klima –, doch könnte jeder Einzelne ausscheren und an einem Hotspot Urlaub machen, sich nicht mehr die Hände waschen, fünf Zentimeter vom Gesicht seiner Gesprächspartnerin entfernt sprechen oder sich extravaganten Emissionen hingeben, und er stünde damit doppelt so gut da. Er müsste auf keine lieb gewonnene Gewohnheit verzichten und würde dennoch den gleichen Nutzen aus den vereinten Bemühungen ziehen wie alle anderen auch. Würden jedoch alle so handeln, wäre alles vergebens – wie es diejenigen, die hinsichtlich der Klimamitigation zögerten, bereits geahnt haben, würde das kollektive Handeln ins Wanken geraten. Im Fall von Corona jedoch durchschlugen die Staaten den gordischen Knoten, indem sie schlichtweg Regeln verordneten, an die sich die Bürger*innen zu halten hatten. Zwar waren sie weder in der Lage, jedwedes drückebergerische und trittbrettfahrerische Verhalten aus der Welt zu schaffen, noch brachten die Schuldzuweisungen und Repressionen nicht auch eigene Probleme mit sich, aber im Großen und Ganzen erwies sich das von höherer Stelle vorgegebene kollektive Vorgehen angesichts der weitreichenden Anforderungen, die an die Menschen gestellt wurden, als bemerkenswert für seinen Zusammenhalt. Ganz offensichtlich ist das Dilemma also nicht unlösbar.

Und zudem sollte man noch einmal daran erinnern, dass keine Verfechterin radikaler Emissionssenkungen jemals von den Menschen verlangt hat, sich etwas derart Unangenehmem zu unterwerfen wie einem Lockdown. Klimaschutz verlangte von den Menschen niemals, sie müssten zu Eremit*innen in den eigenen vier Wänden werden. Genau genommen käme ein geselliges Leben dieser Unternehmung regelrecht zugute: Mit dem Bus zu fahren, eine Mahlzeit zu teilen, ausgelassene Straßenfeste zu feiern, Zeit mit den Liebsten im Altersheim zu verbringen oder sich anstelle des neuesten technischen Geräts von Amazon ein Konzertticket zu gönnen, stünde im Einklang mit dem Bestreben, ohne fossile Brennstoffe zu leben. Ein Klimanotstandsprogramm wäre nicht nur imstande, die aufgrund rudimentärer Mobilität in den eigenen Räumlichkeiten entstandenen Beeinträchtigungen zu umgehen, es könnte auch zur Steigerung der Lebensqualität beitragen, wie die Klimagerechtigkeitsbewegung mittels jahrelanger Propaganda und Praxis auf subnationaler Ebene gezeigt hat. Solche beidseitigen Gewinne haben, wenn überhaupt, lediglich gegnerische Verluste zur Bedingung.

Als sich das Covid-19 verursachende Coronavirus im Frühjahr 2020 verbreitete, handelte es sich dabei nicht per se um ein Abfallprodukt des Profitstrebens. Es entsprang nicht unmittelbar den Schloten der Akkumulation. CO2 hingegen ist das Abgas des materiellen Substrats der Mehrwertproduktion – der fossilen Energie – und insofern ein Koeffizient der Macht. Es besteht ein Interesse an seiner kontinuierlichen Freisetzung in die Atmosphäre. Und dementsprechend haben Teile des fossilen Kapitals sowie dessen Verbündete Jahrzehnte damit zugebracht, zu predigen, höhere CO2-Konzentrationen seien in Wahrheit gut für die Menschheit – im Namen des Coronavirus hingegen hat bisher niemand ein derartiges Plädoyer gehalten. Das Klima scheint bereits in das nächste Level des Antagonismus aufgestiegen zu sein. Dort gilt es, einen Feind höherer Ordnung zu überwinden, und zwar nicht bloß einen Monat lang oder ein, zwei Jahre: Die Stilllegung des fossilen Kapitals müsste für alle Zeiten erfolgen. Der Notstand selbst wäre selbstverständlich keineswegs ewig; es würde sich um eine Übergangszeit handeln, deren Auswirkungen fortbestehen müssten, um nicht zu scheitern. Der Zeitraum könnte länger sein als bei Covid-19 – auch wenn zum Zeitpunkt der Niederschrift niemand absehen kann, wie lange dieser überhaupt noch andauern wird –, wäre demgegenüber jedoch wahrscheinlich auch wesentlich weniger schmerzhaft. Er würde eine kompromisslose Verteilung des Privateigentums nach sich ziehen. Er würde bestimmte Formen des Kapitals für immer zu Grabe tragen. Er gliche am ehesten dem Kriegskommunismus.

II. Chronischer Notstand

Bei genauerer Betrachtung stellt sich das Bild eines energischen Vorgehens gegen die Pandemie jedoch als nichts als ein fauler Zauber heraus. Der Gegensatz zwischen der Coronavirus-Wachsamkeit und klimatischer Selbstgefälligkeit ist illusorisch. Seit Jahren schon steht die Möglichkeit eines zoonotischen Spillover im Raum, und die Staaten haben ebenso viel getan, um sich mit dieser Gefahr auseinanderzusetzen, wie damit, den anthropogenen Klimawandel zu bekämpfen: nichts. Der bis vor Kurzem kaum geläufige Begriff »zoonotischer Spillover« verweist auf eine Infektion, die zunächst in einem Tier auftritt und dann auf einen Menschen überspringt. Ein Krankheitserreger schwappt sozusagen über, über die Artengrenzen hinaus. Es kann sich dabei um einen Wurm, einen Pilz, eine Bakterie, eine Amöbe oder um ein Virus handeln; doch welcher Form er auch sein mag, letztendlich ist der Erreger eine winzige Kreatur, die ihre Beute von innen her auffrisst. Als Inbegriff des Parasitären infiltriert das Pathogen einen Körper, in dem es sein Dasein fristet, sich ernährt, vermehrt und dabei dem Wirt Schaden zufügt.

Das »Coronavirus« bezeichnet eine Familie von Viren mit diesbezüglich besonderen Fertigkeiten. Und wie so viele andere seiner Familie entwich auch dieses spezielle Coronavirus, das von der WHO offiziell den Namen SARS-CoV-2 erhielt, seinen ursprünglichen Wirten, zu denen Fledermäuse zählen. Weshalb aber sollte es das überhaupt je tun?

Unter normalen Bedingungen fristen Coronaviren und andere zoonotische Erreger ein unauffälliges Dasein in der freien Wildbahn. Zug um Zug rücken sie von einem auf den nächsten ihrer natürlichen bzw. »Reservoir«-wirte voran – einem Tier, das den Parasiten beherbergt, ihn erträgt und kaum oder gar nicht erkrankt. Über Millionen von Jahren haben sich die Viren mit diesen Wirten gemeinschaftlich entwickelt und einen Modus Vivendi mit ihnen erreicht, der es ihnen erlaubt, deren Körper dauerhaft zu bewohnen, ohne Gefahr zu laufen, sich durch dessen Tötung selbst das Leben zu nehmen. Mitunter kann es auch dazu kommen, dass ein paar Affen oder Mäuse erkranken und auf dem Waldboden verenden, doch bevor der Mensch überhaupt Gelegenheit hätte, dies zu bemerken, wären ihre Kadaver bereits von der üppigen Vegetation überwuchert.

 

Tropische Regenwälder beheimaten die größte Artenvielfalt, deren Reihen sich zu den Polen hin lichten. In den hohen Breiten, dort, wo es zu geringer Sonneneinstrahlung kommt, setzten Eiszeiten die Zeiger der Evolution phasenweise zurück auf null. Demgegenüber blieben rund um den Äquator Flora und Fauna von der Vergletscherung verschont und gediehen in der von der Sonne her strömenden Energie geradezu prächtig, sodass die Tropenwälder zu Horten von erstaunlichem biotischem Überschwang werden konnten. Zugleich bilden sie jedoch auch die reichhaltigsten pathogenen Sammelbecken. Je näher am Äquator, desto größer die Anzahl der Wirte und unsichtbaren Treiber, von denen sich manche gelegentlich auf neues Terrain vorwagen. Damit ihnen dies gelingt, müssen eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein: Die Reservoirwirte müssen – etwa indem sie Niesen, Husten oder Bluten – den Erreger auf einen anderen besonders infektionsempfänglichen Wirt abstreifen. Hat der Erreger Glück, handelt es sich dabei um einen »Verstärkerwirt«, in dessen Schoß sich der Krankheitserreger in hohem Maße vermehren, neue Genkombinationen ausprobieren, Eigendynamik entwickeln und sich auf den nächsten Schritt vorbereiten kann, der von ähnlich großem Erfolg gekrönt sein muss. Die meisten Übertragungswege stoßen dabei rasch an ihre Grenzen. Von Zeit zu Zeit aber tun sich Öffnungen auf, und die Pathogene finden ihren Weg bis zur menschlichen Population. Dabei gilt, je kürzer die Distanz, desto geringer der hierfür notwendige Kraftakt.

Es ist eine alte Geschichte: Beulenpest und Tollwut etwa sind zwei berüchtigte Beispiele zoonotischer Spillovers. Sie wirken nicht unbedingt wie besonders moderne Viruserkrankungen, die zwischen nach Parfüm riechenden Spültoiletten hausen, weshalb die von ihnen ausgehende Gefahr erst vor Kurzem als Problem der Vergangenheit abgetan wurde. Im goldensten Zeitalter des Kapitalismus, den auf den Zweiten Weltkrieg folgenden Dekaden, konnte man vernehmen, dass »die westliche Welt den Tod durch Infektionskrankheiten praktisch eliminiert« habe. Solch überschwänglich optimistische Diagnosen wurden auf die eine oder andere Weise noch bis ins letzte Jahr des zweiten Jahrzehnts des Jahrtausends beibehalten. In seinem 2018 erschienenen Bahnhofsbuchhandlungsbestseller Aufklärung jetzt ergötzte sich Steven Pinker, die tonangebende Stimme im Chor des kleinbürgerlichen Optimismus, am »Sieg über Infektionskrankheiten« auf der ganzen Welt – Europa, Amerika, allem voran jedoch die Entwicklungsländer –, der den Beweis darstellen sollte, dass »eine reichere Welt […] eine gesündere Welt« oder, weniger umständlich ausgedrückt, dass eine fest im Griff des Kapitals stehende Welt die beste aller möglichen Welten sei. »›Die Pocken [smallpox] waren eine Infektionskrankheit‹«, las Pinker auf Wikipedia – »genau: ›smallpox was‹«; sie existieren nicht mehr, und die noch nicht ausgerotteten Krankheiten werden genauso rasant dezimiert. Pinker schloss das Buch zu diesem Thema mit der zuversichtlichen Vorhersage, dass die Welt in absehbarer Zukunft von keiner Pandemie heimgesucht würde. Hätte er sich die Mühe gemacht, die wissenschaftlichen Aufsätze darüber zu lesen, hätte er gewusst, dass die Wellen einer steigenden Flut bereits damals gegen jene Festung brandeten, die er von ganzem Herzen zu verteidigen suchte.

Beispielsweise hätte er jene Seiten der Zeitschrift Nature aufschlagen können, auf denen ein Team von Wissenschaftler*innen im Jahr 2008 335 Ausbrüche »neu auftretender Infektionskrankheiten« seit 1940 untersuchte und dabei feststellte, dass ihre Zahl »im Laufe der Zeit erheblich angestiegen« sei. In den meisten Fällen handelte es sich um zoonotische Spillovers, deren Ursprung größtenteils in freier Wildbahn lag. Eine sechs Jahre später veröffentlichte Studie nahm den gleichen Trend zur Kenntnis, registrierte jedoch einen Zuwachs in den 1980ern, dem Jahrzehnt von HIV, des bekanntesten von Tieren übertragenen modernen Virus vor SARS-CoV-2. Seitdem hat sich die Liste der aus anderen Spezies eingeschleppten Erreger gleich einem fortlaufenden Kassenbon immer weiter verlängert: das Nipah-Virus, das 1998 erstmals in Malaysia nachgewiesen wurde; das West-Nil-Virus, das 1999 nach New York gelangte; Ebola, das sich 2014 mit verheerenden Folgen über Westafrika hermachte; das Zika-Virus, das 2015 durch Lateinamerika und die Karibik fegte; jenes Coronavirus, das SARS verursachte und 2002 die Welt erschütterte; jenes, das Auslöser von MERS ist und 2012 im Nahen Osten kursierte; ein Haufen alte Krankheiten, die bisweilen mit neuen Stämmen ihr Comeback feiern – Milzbrand, Lyme-Borreliose, Lassafieber –, und eine Reihe von Influenzaviren, die mit der Regelmäßigkeit von Wirbelstürmen auftreten, aber eher gesichtslose Namen tragen: H1N1, H1N2v, H3N2v, H5N2, H5Nx und so fort. 2019 wies die wissenschaftliche Literatur in regelmäßigen Abständen auf die Tatsache hin, dass »Infektionskrankheiten weltweit mit einer nie dagewesenen Geschwindigkeit auftreten« würden, wobei der geschätzte Anteil von Zoonosen daran zwischen zwei Drittel und drei Viertel liege und bei Pandemien auf fast hundert Prozent ansteigen würde. Für sich genommen handelt es sich also bereits um einen lang andauernden Trend.

Dass seltsame neue Krankheiten aus der freien Natur hervortreten, ist in gewisser Hinsicht logisch: Jenseits des menschlichen Herrschaftsgebiets lauern unbekannte Pathogene. Doch könnte dieses Gebiet auch weitgehend in Ruhe gelassen werden. Ohne die von Menschen betriebene Wirtschaft, die konstant auf die Wildnis einstürmt, sich auf sie stürzt, in sie eingreift, sie zerstückelt und mit einem Eifer zerstört, der an Ausrottungslust grenzt, würden diese Dinge nicht geschehen. Die Krankheitserreger würden nicht auf den Gedanken kommen, auf uns überzuspringen, sie wären bei ihren natürlichen Wirten sicher. Werden ebendiese Wirte jedoch in die Enge getrieben, gestresst, vertrieben oder getötet, bleiben den Erregern zwei Optionen: aussterben oder springen. In seinem momentan unbedingt lesenswerten, 2012 veröffentlichten Buch Spillover. Der tierische Ursprung weltweiter Seuchen vergleicht David Quammen diesen Effekt mit dem Abriss eines Lagerhauses. »Wenn Bäume gefällt und die darin lebenden Tiere abgeschlachtet werden, fliegen die zugehörigen Erreger davon wie der Staub«, der durch die Bulldozer aufgewirbelt wird. Die Wissenschaft ist sich einig: Der fortdauernde Trend hat eine sehr allgemeine Ursache in der Ökonomie, die von menschlicher Seite her immer weiter in die Wildnis vordringt. Es führt daher zunächst kein Weg daran vorbei, einen weiteren Umweg über die nichtmenschliche Welt zu machen. Und dieser nimmt seinen Ausgang mit der Ordnung der Chiroptera.

Von Fledermäusen und Kapitalist*innen

Die Welt beheimatet mehr als 1200 Fledertierarten (Stand 2020). Mit einer seit mindestens 65 Millionen Jahren andauernden Speziation stellen sie eine der ältesten Säugetierordnungen dar, insgesamt die zweitvielfältigste – lediglich Nagetiere weisen eine größere Varietät auf –, verantwortlich für ein Fünftel aller rezenten Säugetierarten. Fledertiere sind zugleich die ungeschlagenen Überträger von Krankheitserregern. Während Nagetiere aufgrund ihrer schieren Menge in absoluten Zahlen eine etwas größere Anzahl an Viren fassen dürften, beherbergen Fledertiere weitaus mehr solcher Gäste pro Spezies – und doch scheint es ihnen nichts auszumachen. Sie sind unentwegt infiziert, ohne Anzeichen von Beschwerden. Es liegen keine Berichte über massenhaftes Sterben kranker Kolonien vor. Infolgedessen haben Chiropterolog*innen postuliert, dass Fledertiere über eine einzigartige Toleranz gegenüber Viren, über ein außergewöhnlich starkes Immunsystem verfügten, das aus einem aufgrund der Millionen von Jahren ihrer Evolution erwachsenen gemeinsamen Merkmal entsprungen sei. Worum könnte es sich dabei handeln?

Allen Fledertieren ist eine charakteristische Fähigkeit zu eigen: Sie können fliegen. Während manche Eichhörnchen und Lemuren in der Lage sind, kurze Strecken segelnd oder gleitend zu bewältigen, stellen Fledertiere die einzigen Säugetiere dar, die es mittels frenetischen Flügelschlags zu einem anhaltenden Flug bringen. Derlei Aktivität ist jedoch nicht ohne Einschränkungen zu haben. Um in der Luft zu bleiben, müssen Fledertiere ungeheure Mengen an Energie aufwenden, wodurch ihre Stoffwechselraten an jenen Punkt gelangen, an dem ihre Körpertemperatur mehrere Stunden lang 40 Grad Celsius erreicht – vergleichbar Marathonläufer*innen. Weniger rüstige Säugetiere würden diesen Zustand als Fieber erleben. Wie man weiß, handelt es sich bei Fieber vorrangig um einen Abwehrmechanismus krankheitsgeplagter Körper, was darauf hinzudeuten scheint, dass Fledertiere – für die dies vielmehr einen natürlichen Zustand darstellt – eigentlich dazu imstande wären, ein Fieber auszubilden, um einen Erreger abzuschütteln. Umgekehrt bedeutete es aber auch, dass sich Viren, die sich auf Fledertieren ansiedeln, den fieberähnlichen Temperaturen anpassen müssen. Die Theorie besagt also, dass Fledertiere zu Trägern von Krankheitserregern geworden sind, die zwar ihre körperliche Verfassung nicht beeinträchtigen, dafür aber das schwächere Immunsystem anderer Säugetiere überwältigen können. Die Fähigkeit zu fliegen zeitigt aber auch noch andere Dinge: Sie erlaubt es Fledertieren, weite Strecken zurückzulegen – Dutzende Kilometer pro Nacht zur Nahrungsbeschaffung, Hunderte zwischen Schlafplätzen, mehr als eintausend Kilometer zwischen Sommer- und Winterquartieren – und dabei Pathogene aufzunehmen und zu verbreiten. Fledertiere verbringen wenig Zeit auf dem Boden und dafür aber viel in der Luft, auf Bäumen, unter Dächern, in Positionen, von denen aus sie Speichel und Kot auf alles fallen lassen können, was sich unter ihnen befindet. Wenn Anlass dazu besteht, schrecken sie auch nicht davor zurück, sich Menschen zu nähern, in ihre Obstgärten, Häuser und Ställe, auf ihre Felder vorzudringen.

Darüber hinaus weisen Fledertiere eine zweite wesentliche Eigenschaft auf. Sie drängen sich in ungewöhnlich dichten und diversen Clustern zusammen. Manche Fledertiere pferchen sich zu 3000 Individuen auf einen Quadratmeter und zu mehreren Millionen pro Schlafplatz; einige tummeln sich in Ensembles multipler Spezies und tauschen Viren untereinander aus – ein Paradies für Krankheitserreger und deren Entwicklung sowie ein ideales Rezept für Herdenimmunität. Mit anderen Worten leben Fledertiere, indem sie gegen die beiden wichtigsten Regeln der Lockdowns 2020 verstoßen: nicht zu reisen und keine Zusammenkünfte zu bilden. Dies würde auch erklären, warum sie so überaus kompetente Reservoirwirte sind und weshalb ihre Viren in anderen Umgebungen dermaßen virulent werden können, wie die Welt wiederholt feststellen musste.

Das Nipah-Virus übertrug sich in einem Waldgebiet im Norden Malaysias auf den Menschen, als Fledermäuse von den Obstbäumen rund um eine Schweinefarm angelockt wurden. Die Tiere koteten oder entleerten sich anderweitig auf die Schweine, die wiederum als Verstärkerwirte dienten und das Virus an den Menschen weiterreichten; es verursachte Fieber, Husten und Atemnot, was sich, bei einer Mortalitätsrate von nahezu 40 Prozent, zu Verwirrtheit, Koma und Gehirnentzündung ausweiten konnte. Ungefähr 110 Menschen starben, bevor der erste Ausbruch des Virus eingedämmt werden konnte. Auch Tollwut lagert sich in Fledertierreservoiren ab. Und Gleiches gilt für Dutzende anderer Erreger von gut dokumentierter Malignität, einschließlich, vermutlich, Ebola.

Spezialisiert haben sich die Chiroptera jedoch im Wesentlichen scheinbar auf Corona. SARS war das erste Coronavirus, das im neuen Jahrtausend eine Pandemie auslöste und die überrumpelten Wissenschaftler*innen in die Höhlen Südchinas reisen ließ, um Hufeisennasen als Reservoirwirte zu identifizieren, von denen aus das Virus auf Zibetkatzen als Verstärker überwechselte, bevor es schließlich den Menschen erfasste. Die Entdeckung von Corona in Fledertieren geht auf die ersten Jahre des Jahrtausends zurück, und kaum war sie gemacht, da schlug das Virus bereits erstmals zu: MERS sprang von Fledermäusen über Kamele auf den Menschen über. Mit solch Massensterben konfrontiert, schwärmten weitere Wissenschaftler*innen aus, um eine Vorstellung davon zu bekommen, was die Tropen noch für sie bereithielten. Ein mit dem treffend benannten PREDICT-Projekt affiliiertes Team – das größte seiner Art – fing in zwanzig tropischen Ländern rund 12 000 Fledertiere, sammelte Tupferproben, bevor es die Tiere wieder in die Wildnis entließ, und fand heraus, dass die Anzahl der Coronaviren pro Spezies annähernd bei drei lag. (Tausende von Nagetieren und Primaten wurden ebenfalls getestet, wobei mehr als 98 Prozent der positiv getesteten Individuen Fledertiere waren.) Dies veranlasste das Team, die wahrscheinliche Zahl eigenständiger, innerhalb der gesamten Welt der Chiroptera zirkulierender Coronaviren auf 3000 zu schätzen. Zwar wären bei Weitem nicht alle in der Lage, Menschen zu infizieren – so warf 2016 etwa eine Fledermauskolonie in Südchina ein Coronavirus auf Schweine ab, das diese an akutem Durchfall sterben ließ, jedoch nicht bis zum Menschen vordrang –, jedoch verfügen mehrere Hundert über ein solches Potenzial, und viele weitere sind möglicherweise bereits auf dem Weg.

 

Sobald es eine Zelle gekapert hat, verhält sich das Coronavirus wie ein Lebewesen, und tatsächlich unterliegen Coronaviren der natürlichen Selektion. Sie sind bestrebt, sich ihrer jeweiligen Umgebung anzupassen – sich am Wirt zu weiden, Angriffe zu überleben, den Wirt zu wechseln, sich zu vermehren, ihr Fortbestehen zu sichern –, und haben einzig Bestand, insofern sie diese Aufgaben ordentlich bewältigen. Darüber hinaus können sich Coronaviren schneller als die meisten anderen entwickeln. Ihre genetische Information ist nicht innerhalb der komplexen Doppelhelix der DNA gespeichert, sondern innerhalb der einfacheren RNA, einem Molekül mit einem Einzelstrang, das in fantastischem Tempo zu mutieren imstande ist – man denke an Staffelläufer*innen, die einen schweren Wagen überholen – und beständig neue genetische Kombinationen produziert, um sie gegen die Umwelt in Stellung zu bringen.

SARS-CoV-2 war ein ganz besonders brillanter Vorteil zu eigen: Es konnte von Wirt zu Wirt springen, noch bevor es Schaden anrichtete. Ein Mensch gab es an den nächsten weiter, bevor dieser Symptome entwickelte. Infolgedessen erstreckte sich die Übertragungskette weitaus effektiver über die Kontinente hinweg als bei SARS, welches das gegenläufige Erscheinungsbild aufwies – zuerst Symptome, dann maximale Infektiosität – und relativ leicht eingegrenzt werden konnte. Wieder einmal stammte das Virus von Fledertieren ab, und sicherlich brüten sie bereits weitere Coronavirus-Stämme aus. Weshalb also töten wir sie nicht einfach alle? Der Ausbruch von Covid-19 in China führte zu der Forderung, die Fledermaus-populationen gänzlich auszurotten. Dies stellt eine häufige und scheinbar sinnvolle Reaktion auf Spillover dar – Nipah, um nur ein minderschweres Beispiel zu nennen, hatte die Schlachtung von mehr als einer Million Schweinen nahe dem Ursprung zur Folge. Es ließen sich aber auch noch absurdere Schlüsse ziehen: Warum pflastern wir nicht den ganzen Rest an freier Natur zu? Sähe der ganze Planet aus wie Manhattan, gäbe es mit Sicherheit nicht so viele uns belästigende Parasiten.

So verrückt die Idee auch klingen mag, entbehrt sie doch nicht einer gewissen Logik. Die allgemeine Biodiversität dürfte in etwa mit der Vielfalt der Krankheitserreger korrelieren. Wenn Erstere drastisch reduziert würde, sollte man davon ausgehen können, dass ganze monophyletische Gruppen von Reservoiren, Verstärkern und Parasiten ausgeschaltet würden. Doch kann es auch die entgegengesetzte Wirkung zeitigen. Biolog*innen haben die Hypothese eines »Verwässerungseffekts« aufgestellt, wonach der Artenreichtum ipso facto einen Spillover hemmt. Ist innerhalb eines Ökosystems – etwa einem Wald – eine Fülle an Tieren vorhanden, werden sich manche davon als ungeeignete Wirte erweisen, in denen die Parasiten kaum auf Nahrung und Replikationsgelegenheit stoßen; werden die Tiere also gebissen, laufen die Übertragungsversuche ins Leere. Gibt es in einem Wald beispielsweise viele Eichhörnchen, bekommen diese einen Teil der Zeckenbisse ab, die andernfalls Menschen gegolten hätten. Die unangenehme, mitunter kräftezehrende Lyme-Borreliose – die im schlimmsten Fall chronische Müdigkeit und kognitive Störungen verursacht – wird von Zecken weitergegeben, die nachweislich viele ihrer Bisse an eine in den artenreichen Wäldern Nordamerikas vorkommende Opossumart vergeuden. Das Opossum tötet die Zecken. Aber in durch Degradation verschlechterten Wäldern verschwindet es, wohingegen die Weißfußmaus, ein äußerst qualifizierter und duldsamer Zeckenwirt, weiterhin gedeiht – und zwar mehr denn je, zumal sie ihrer Konkurrenz entledigt ist. Der Biodiversitätsschwund beseitigt die Puffer.

Auch wenn der Verwässerungseffekt nach wie vor primär Gegenstand theoretischer Kontroverse ist, liegt mittlerweile doch auch ein allgemeiner empirischer Beleg über seine Gesetzmäßigkeit vor: Eine höhere Artenvielfalt bedeutet ein geringeres Risiko eines zoonotischen Spillover. Bei denjenigen Spezies, die Angriffe auf ihre natürlichen Lebensräume überstehen, handelt es sich in der Regel um Opportunisten und Generalisten – man denke an Mäuse oder Unkraut –, die Krankheitserreger problemlos beherbergen können, sich schnell vermehren und sich in den Zwischenräumen menschlicher Siedlungen zu Hause fühlen. Das Lagerhaus kann abgerissen werden, der Staub aber wird sich deshalb nicht verflüchtigen. Noch während der Zerstörung wird er geradewegs in unsere Richtung geweht werden.

Es wäre nicht das erste Mal, dass Menschen auf eine Infektion reagierten, indem sie ihren Unmut an Fledertieren ausließen. So wurden in Australien Flughunde von verärgerten, grimmigen Männern drangsaliert und gejagt (»Die scheißen auf die Leute! Das ist völlig falsch – lasst doch die Leute auf sie scheißen!«, zitiert Quammen einen Befürworter der Jagd. »Die Fledermäuse verursachen die Krankheit und sind sonst zu nichts nütze. Wir müssen sie beseitigen! Warum passiert das nicht? Weil die sentimentalen Grünen dagegen sind!«). In Brasilien wiederum wurden Fledermausquartiere systematisch mit Sprengstoff in die Luft gejagt. Doch in allen untersuchten Fällen, bei denen es zur Erlegung der Tiere kam, entsprach das Resultat dem genauen Gegenteil der Intention: Die Unmengen an Pathogenen verstreuten sich bloß in immer größerem Umkreis. Die Ausrottung von Fledertieren wäre lediglich eine weitere Möglichkeit, die Artenvielfalt zu schmälern, schließlich übernehmen sie wichtige Funktionen bei der Pflanzenbestäubung, indem sie deren Samen verbreiten und Schadinsekten in Schach halten. Bislang stellt der Wunsch, Pandemien zu rächen, jedoch ohnehin eine vernachlässigbare Bedrohung dar. Weitaus ratsamer scheint es daher, sich zunächst mit der Entwaldung zu beschäftigen.

Bei der Entwaldung handelt es sich nicht nur um einen Motor des Biodiversitätsschwunds, sondern auch des zoonotischen Spillover selbst. Werden Schneisen durch tropische Wälder geschlagen, Flächen gerodet, Außenposten tiefer und tiefer ins Landesinnere verlegt, kommt der Mensch mit all den wimmelnden Lebensformen in Kontakt, die bisher unbeeinträchtigt ihr Dasein fristeten. Menschen besetzen oder fallen in Gebiete ein, in denen sich Krankheitserreger in Hülle und Fülle tummeln. Die häufigsten Zusammenstöße tragen die beiden Parteien an den Rändern fragmentierter Wälder aus, wo das Innere des Waldes entschlüpfen und auf die äußersten Ränder menschlicher Ökonomie treffen kann; und wie es der Zufall so will, neigen Generalisten wie Mäuse und Moskitos, die es verstehen, sich als »Brückenwirte« anzubieten, dazu, sich in diesen Zonen prächtig zu entwickeln.

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