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Z serii: Punctum #17
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Unterschiede zwischen Corona und Klima: erster Schnitt

Innerhalb dieser Echo- und Analogiekammer musste eine Frage unweigerlich zutage treten: Wie kam es, dass die Staaten des Globalen Nordens auf das Coronavirus reagiert haben, nicht aber auf die Klimakrise? Oder genauer gesagt: Warum legten sie hinsichtlich des Ideals, etwas gegen die Emissionen zu tun, allenfalls Lippenbekenntnisse ab, während sie im nächsten Moment keinerlei Maßnahme scheuten – nicht einmal ihre Bevölkerungen unter Hausarrest zu stellen –, um der von der WHO offiziell als Covid-19 bezeichneten und mit dem Coronavirus einhergehenden Krankheit Einhalt zu gebieten? Diese Frage wurde in den Onlineforen, auf die sich die Menschheit im März beschränkt fand, eingehend diskutiert. Reihenweise Erklärungen hinsichtlich dieses Missverhältnisses wurden gepostet. Sie alle aber – die Unwirklichkeit der Klimakrise, ihr vergleichsweise ungefährlicher Charakter oder ihre Ungewissheit, Nichtgreifbarkeit, Komplexität, ihre Verstiegenheit oder ihr Mangel an Frontlinien – sollten in der Rubrik Ideologie verbucht werden. Sie beziehen sich nicht auf die faktischen Eigenschaften des Phänomens, sondern auf dessen verzerrte Wahrnehmung. Ihr Wahrheitsgehalt besteht darin, Facetten jener Ideologie zur Sprache zu bringen, die bereits an sich jegliche Aktion wider den Klimanotstand erschwert: Es ist keineswegs so, dass es keinen Feind gibt, doch der Glaube an seine Abwesenheit trägt zur Passivität bei. Gleiches gilt für die Ansicht, »die Zukunft wird übel sein, unabhängig davon, welche Schritte wir nun unternehmen, um den Klimawandel anzugehen. Dies kann Gefühle der Hilflosigkeit hervorrufen. Beim Coronavirus fühlt es sich hingegen so an, als zeitigten die heutigen Maßnahmen reale und nachweisbare Konsequenzen« – ganz offensichtlich handelt es sich hier um das Resultat der Maßnahmenergreifung, nicht um ihre Ursache. Denn hätten die Regierungen zugunsten des Klimas entschlossener gehandelt, wäre die Hoffnung noch groß; hätten sie das Virus Amok laufen lassen, wäre mit Sicherheit Verzweiflung eingetreten. Die aus der historischen Abdankung von Staaten im Angesicht der Gefahr resultierende Hoffnungslosigkeit speist sich dann aus sich selbst und muss sich ihrem Schicksal fügen – jedoch nur, wenn immer wieder aktiv bejaht und bekräftigt wird, dass man nichts tun könne. Jahrzehnte harter Arbeit der gegnerischen Seite haben zu diesen Eindrücken geführt.

Dann wiederum finden sich aber auch Hypothesen, die es wert sind, einer näheren Betrachtung unterzogen zu werden, etwa jene, dass der Klimawandel graduell sei, wohingegen sich Covid-19 gleich einer überraschenden Explosion vollzogen habe, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Diese Erklärung zählte zu den populäreren im März 2020, dem Monat der großen Divergenz. An dieser Stelle sei eine faktische Eigenschaft der globalen Erwärmung angemerkt: Sie erscheint nicht aus heiterem Himmel, um sich anschließend wieder still und heimlich in irgendein Loch zurückzuziehen, wie es von Covid-19 zunächst zumindest erwartet wurde. Gradualität mag sich für dieses Charakteristikum jedoch nicht unbedingt als geeigneter Begriff erweisen. Eher ließe sich der Klimakollaps als ein Erdrutsch begreifen, der durch das gesamte Erdsystem rollt, Material aufwirbelt und an Geschwindigkeit gewinnt, und jedes Mal, wenn er auf Menschen trifft, die ihm im Weg stehen, sind seine Auswirkungen alles andere als graduell – sofern wir unter »graduell« eine langsame, stufenweise Zunahme von Faktoren verstehen, die es erschweren, auf einer Zeitachse den Moment X vom Moment Y zu unterscheiden. Folgt man dieser Definition, dann hat ein Hurrikan, der die gesamte Infrastruktur einer Insel niederwalzt, nichts Graduelles an sich. Und auch ein australisches Feuerinferno oder der Angriff von Heuschrecken in Kenia fühlen sich nicht so oder so ähnlich wie jeder andere Tag an. Die Unvermitteltheit kann regelrecht erschütternd sein. Und auch wenn manche Aspekte der Erderwärmung, etwa der Anstieg des Meeresspiegels, im oben dargelegten Sinn häufig als graduell erscheinen mögen, machen sie sich nicht selten gleich einer Wasserbombe bemerkbar. So wurde beispielsweise im November 2019 Venedig von einem fast zwei Meter hohen Hochwasser heimgesucht, das sich in Szenen »apokalyptischer Verheerung« durch Marmor und Ziegelstein, Piazzas und Basiliken fraß, was der Bürgermeister der Stadt – wie jede andere Person, die sich nicht der Leugnung verschrieben hat – auf den Klimawandel zurückzuführen wusste. Dementsprechend scheint die allgemeine Gestalt des Prozesses folgendermaßen auszusehen: eine Lawine an Sprengstoff, die sich von einem singulären Ereignis wie Covid-19 nicht dadurch unterscheidet, dass sie graduell auf uns zurollt, sondern dadurch, dass sie einen lang anhaltenden Trend konstituiert, der über Jahrzehnte und Jahrhunderte andauert, sofern ihm kein Einhalt geboten wird.

Gradualismus – die Erwartung, die globale Erwärmung folge den Gesetzen linearer Kausalität, ticke gleichmäßig wie ein Uhrwerk, reihe, gemäß dem steinalten Dogma des natura non facit saltum, einen infinitesimalen Stressor an den nächsten – war lange Zeit eine schädliche ideologische Brille, die Wissenschaftler*innen längst schon abgelegt haben. Diese Entwicklungen überschlagen sich mittlerweile dermaßen rasch, dass allein innerhalb weniger Tage im März 2020 mehrere neue Entdeckungen veröffentlicht wurden: Beispielsweise stellte sich heraus, dass die Rekordhitze des letzten Sommers in nur zwei Monaten 600 Milliarden Tonnen des grönländischen Eises in den Ozean hat brechen lassen. Diese eine Ladung führte zu einem Anstieg des globalen Meeresspiegels um 2,2 Millimeter – so viel mehr Munition für die nächsten Sturmfluten. Eine andere Untersuchung ergab, dass die polaren Eiskappen mittlerweile um ein Siebenfaches schneller schmelzen als noch in den 1990er-Jahren. Und am 10. März präsentierte die Zeitschrift Nature Communications mit einer empirischen Modellstudie einen weiteren Nagel im Sarg des Gradualismus: Darin wurde gezeigt, wie rapide der Zusammenbruch regionaler Ökosysteme, etwa der Amazonas-Regenwald oder die karibischen Korallenriffe, vonstattengehen könnte – über wahrnehmbare menschliche Zeiträume von Jahren und Jahrzehnten hinweg –, und dazu aufgerufen, sich auf Veränderungen einzustellen, die »sich schneller ereignen, als bisher durch unser traditionelles lineares Verständnis der Welt angenommen«. Dies wirkt, gelinde gesagt, eher wie das Gegenteil von graduell: vielmehr wie eine kaskadenartige Reihe abrupter Zerstörungen.

Und dennoch scheint den jeweiligen zeitlichen Profilen von Covid-19 und Klimawandel etwas innezuwohnen, was die antithetischen Reaktionen einigermaßen erklärt. Doch was genau? Wenn man über diese Frage nachdenkt, sollte man keinesfalls vergessen, dass es sich beim Explanandum nicht um die unterschiedlichen von der Bevölkerung ausgehenden Reaktionen handelt: Es waren weder die Französ*innen, Brit*innen oder Australier*innen, die sich zusammenfanden und den Lockdown beschlossen – dieser ereignete sich viel zu schnell, als dass demokratisch darüber beratschlagt hätte werden können –, noch waren sie es, die die Entscheidungen getroffen hatten, wesentliche Emissionssenkungen in eine nichtssagende Zukunft hinauszuzögern, eine politische Entscheidung, die nebenbei bemerkt für Massenproteste in etwa so empfänglich ist wie diejenige der Austerität. Wie also konnte es dazu kommen, dass die Staaten in den entwickelten kapitalistischen Ländern durch das Virus derart übermäßig in Aufruhr versetzt wurden? Indem – wie ein Beobachter nahelegte – zumindest zu Beginn der Pandemie die Opfer von Covid-19 tendenziell der Kernwählerschaft der im Aufstieg begriffenen Rechten anzugehören schienen: alte »weiße« Menschen. »Anders als die Klimakrise bedroht das Virus vorwiegend ältere Menschen – den Kern der Unterstützer*innen rechter Parteien – und weniger Millennials«, und keine Regierung würde die nächste Wahl überleben, wenn sie gerade diese ins offene Messer laufen ließe. Dies zumindest scheint ein Teil der Geschichte zu sein.

Doch natürlich ist es komplizierter, schließlich sind auch alte »weiße« Menschen bisher keineswegs von der globalen Erwärmung verschont geblieben. So kochte Europa im Jahr 2003 regelrecht im bis dahin heißesten Sommer; auf dem Höhepunkt der Hitzewelle kamen schätzungsweise 30 000 Menschen ums Leben, die Hälfte davon in Frankreich. Im Laufe von zwanzig Augusttagen fiel ihr ein bestimmter Teil der französischen Bevölkerung geradezu scharenweise zum Opfer – nämlich die über 65-Jährigen mit Vorerkrankungen, die zu den Opfern eines Mortalitätsvorgangs wurden, der eindeutig auf den zugrunde liegenden Trend zurückzuführen ist. Im Sommer 2019 wiederum beendeten zwei Hitzewellen das Leben von rund 1500 Französ*innen, ebenfalls hauptsächlich ältere Menschen. In ganz Ostaustralien drang der Rauch von den Buschbränden in die Lungen; innerhalb von 19 Wochen tötete er in den vier am schlimmsten betroffenen Bundesstaaten mehr als 400 Menschen, viele davon im Seniorenalter mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die nicht mehr in der Lage waren zu atmen. Und dann ist da noch die Sache mit dem gesundheitsschädlichen Feinstaub, der anderen Ursprungs ist. Als sich im Februar 2020 die Schadstoffdecke über Städten wie Wuhan und Shanghai lichtete, wurde es in einem solchen Maße leichter, die Luft zu atmen, dass nach den Berechnungen eines Wissenschaftlers der Universität Stanford das Leben von 4000 Kindern unter fünf Jahren sowie von 73 000 erwachsenen Personen über 70 Jahren verschont blieb. Im Vergleich hieße das, dass in etwa zwanzig Mal mehr Leben durch die Luftverbesserung gerettet wurden, als bis zum aktuellen Stand Menschen in diesen Städten an Covid-19 starben. Bei dem unbeabsichtigten Nebeneffekt handelte es sich also um die weitaus größere Rettungsaktion. Streng darauf bedacht, der Interpretation zuvorzukommen, Pandemien seien Allheilmittel, wollte der Forscher lediglich »die oftmals verborgenen gesundheitlichen Folgen des Status quo« aufzeigen – »unsere normale Art, Dinge zu tun, bedarf womöglich einer Störung«. Und auf ein gewisses Maß an Absurdität wiesen manche hin, als sie die gleiche Ausgewogenheit – mehr gerettete Leben aufgrund der Vermeidung von Luftverschmutzung als durch die Vermeidung von Infektionen – innerhalb der europäischen Länder voraussagten, darunter Frankreich, wo ein Wissenschaftler nüchtern feststellte, dass »dies ziemlich faszinierende Zeiten« seien.

 

Aber gerade auch die Eindämmung der Pandemie hielt die Sterblichkeitsrate niedrig. Selbstverständlich wusste niemand, wie tödlich sie noch werden konnte. Eine Schätzung von Ende März ging davon aus, dass Covid-19 ohne Interventionen allein 2020 40 Millionen Menschen das Leben kosten würde – wahrlich eine erschreckende Zahl (mehr als fünfmal so hoch wie die jährliche Anzahl an Todesopfern aufgrund von Luftverschmutzung). Die Regierungen sahen sich mit der Aussicht konfrontiert, dass Hundertausende, wenn nicht sogar Millionen Menschen in ihren Betten dahinsiechen und verenden würden. Anfang April war es schließlich offensichtlich geworden, dass das Potenzial für solch ein Massensterben am größten im Globalen Süden war – an Orten wie Dharavi –, wo das volle Ausmaß von Covid-19 erst noch bevorstand. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits mehrere Tausende in Italien, Spanien, Großbritannien und den USA gestorben. Und genau hierin könnte ein Schlüssel für die Divergenz liegen, nämlich in dem, was wir die Zeitachse der Betroffenheit nennen wollen. Wie Bill McKibben bereits bemerkte, fordert der vom fossilen Kapital geführte Krieg, der mithilfe der Atmosphäre als Medium tötet, seine ersten Opfer unter denjenigen, »die am wenigsten zur Krise beigetragen haben« – also unter den Armen im Globalen Süden. Zwar mag es sich dabei letztlich um »einen Weltkrieg [handeln], der gegen uns alle gerichtet ist«, doch werden die Reichen die Letzten sein, die ihr Leben lassen müssen. Für Covid-19 verlief die Zeitachse zumindest anfangs weitgehend in die genau entgegengesetzte Richtung: Die Ersten, die nicht nur vereinzelt durch das Virus zu Tode kamen, waren Menschen im reicheren Norden. So können wir etwa den Zeitpunkt mit großer Genauigkeit bestimmen, an dem das Virus zu einer wirklich globalen Krise mutierte – und es war nicht, als es durch den Iran fegte: Es geschah, als in Italien, genauer gesagt in der wohlhabenden nördlichen Region Lombardei, Hunderte Menschen zu sterben begannen. Das war der Moment, in dem die westlichen Regierungen in Panik gerieten. Und zu allem Überfluss erkrankte auch noch eine Reihe an Prominenten und Politiker*innen – Tom Hanks und seine Frau, Plácido Domingo, Kristofer Hivju, Patrick Devedjian, Rand Paul, Harvey Weinstein, Prinz Charles, Prinz Albert II. von Monaco, der Generalsekretär der rechtsextremen spanischen Partei Vox und, selbstredend, der Premierminister des Vereinigten Königreichs –, nicht zu vergessen die Luxuskreuzfahrtschiffe, deren Passagieren und Crews ein besonders fiebriges Plätzchen in der Hölle vorbehalten war. Keine dieser Personen oder Instanzen war durch die Klimakrise einem hohen Risiko ausgesetzt. Und ebenso wenig hatte der IPCC Europa je zu ihrem »Epizentrum« erklärt, wie es die WHO Mitte März in Bezug auf Corona tat. Nun gibt es einen ganz bestimmten Grund dafür, weshalb Covid-19 unter anderem Mitglieder der Führungsschicht und Einwohner*innen der entwickelten kapitalistischen Länder zu ihren ersten Opfern erkoren hatte, und wir werden darauf noch zu sprechen kommen. Die Frage, die sich an diesem Punkt stellt, ist jedoch eine andere: Welchen Unterschied machte es?

Ziehen wir eine kontrafaktische Zeitachse der Betroffenheit in Betracht, die jener der Klimakrise näherkommen würde. Stellen wir uns vor, Covid-19 wäre im Februar 2020 vom Iran in den Irak gehüpft, hätte ein paar Tausende in Basra und Bagdad getötet, wäre dann nach Haiti übergesprungen, wo es 5000 weiteren Menschen das Leben gekostet hätte, bevor es dann nach Bolivien und Mosambik abgebogen wäre und ein paar zusätzliche Trupps der gleichen Größenordnung aus dem Weg geräumt hätte, während in London, Paris und New York die Zahl der Patient*innen in den unteren Hunderten verblieben wäre. Es stellt keine sonderlich abwegige Vermutung dar, dass die Regierungen des Globalen Nordens das Virus in diesem Fall schlichtweg hätten gären lassen. Sie hätten vielleicht Hilfspakete geschickt, womöglich sogar einen an Bedingungen geknüpften Schuldenerlass angeboten, doch den Kapitalismus hätten sie nicht unter Quarantäne gestellt, selbst wenn eine Fortführung in gewohntem Gang die weitere Übertragung begünstigt hätte – und weshalb sollten sie? Es wäre nicht ihre Bevölkerung gewesen, die stirbt, zumindest nicht am Anfang. Hinsichtlich des Klimas hatte der Norden Jahrzehnte, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass er zwar hin und wieder von extremen Wetterereignissen heimgesucht werde und es wahrscheinlich sei, dass die Beeinträchtigung sich zuspitze, es sich vorerst jedoch primär um ein Problem auf der anderen Hälfte des Planeten handle, von dem vornehmlich das ständige Hintergrundrauschen der jüngsten Nachrichten über eine Katastrophe irgendwo an der armseligen Peripherie berichten würde. Solch ein Gedanke bringt wahrlich andere Prioritäten mit sich.

Die zehn Länder mit den meisten Todesfällen durch Covid-19 in den letzten Märztagen waren – in absteigender Reihenfolge – die USA, Italien, China, Spanien, Deutschland, Frankreich, der Iran, Großbritannien, die Schweiz und die Niederlande. Zufälligerweise schafften es – mit Ausnahme des Irans und der Schweiz – alle diese Länder auf die Top-Ten-Liste der für den größten Anteil an kumulativen CO2-Emissionen seit 1751 verantwortlichen Gebietseinheiten. Jene Länder, die im März 2020 am schlimmsten von der Pandemie betroffen zu sein schienen, waren somit dieselben Länder – allen voran die USA –, die am stärksten zum Klimanotstand beigetragen hatten: Und es scheint, als näherten wir uns damit einer möglichen Erklärung. Ein deutscher Liberaler drückte es folgendermaßen aus:

Dass Intensivstationen aus den Nähten platzen und keine hinreichende Zahl von Beatmungsgeräten verfügbar sein könnte [!], kam in unserer Vorstellungswelt nicht vor. Die Fantasie, mit hohem Fieber und Atemnot auf dem Flur einer überfüllten Klinik zu landen, ist der Horror. Bisher dachten wir: Das mag Alltag in Entwicklungsländern sein, vielleicht auch in Russland, aber doch nicht bei uns!

Und das änderte sozusagen alles. In Bezug auf Corona und Klima stellte die Zeitachse der Betroffenheit Reich und Arm an entgegengesetzte Enden: Im ersteren Fall veranlasste sie die Regierungen des Nordens, das Richtige zu tun; in letzterem, sich in einer Weise zu verhalten, die man wohl nur als bösartig bezeichnen kann. Vielleicht sollte die Menschheit Covid-19 dankbar sein, dass es sich seine Bahn zuerst durch Europa geschlagen hat.

Dies macht jedoch nur einen Teil der Erklärung aus, schließlich zeitigten die unterschiedlichen Zeitlichkeiten auch Konsequenzen für die Schuldtragenden. Als Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre die Parameter der Klimakrise festgelegt wurden – also zu jenem Zeitpunkt, da die Wissenschaft den Kinderschuhen entwachsen war, die Vereinten Nationen ihre Mitgliedstaaten anwiesen, die Emissionen zu senken, das Problem im öffentlichen Bewusstsein des Nordens verankert wurde und die ersten extremen Wetterereignisse, insbesondere die Hitzewelle 1988 in den USA, mit dieser Tendenz in Verbindung gebracht wurden –, setzte das fossile Kapital einen Präventivkrieg in Gang. Es scheute keine Mühen, die Mitigation zu sabotieren. Gleich, ob es schlichtweg an buchstäblicher Leugnung festhielt oder sich auf allerlei beschwichtigende Formen des grünen Kapitalismus verlagerte, begegnete es jedweder Initiative zugunsten einer tatsächlichen Reduktion mit Widerwillen. Seither wurden Maßnahmen zur bedarfsgerechten Emissionssenkung fehlgeleitet, zurückgewiesen, wurden durch unzählige Weisen nachjustiert, verloren ihren Fokus oder erschienen zunehmend als aussichtslose, bald schon wieder versandende Unterfangen – ja, ein Labyrinth voller vom Feind aufgestellter Fallgruben und -stricke.

Da es sich bei der globalen Erwärmung um einen lang andauernden Trend handelt, boten sich den Täter*innen nebst einer zunächst die Ärmsten treffenden Zeitachse der Betroffenheit ausgedehnte Möglichkeiten zur Obstruktion. Covid-19 erlaubte nichts dergleichen. Dermaßen überraschend trat das Virus auf den Plan, dass kein kapitalistisches Interesse zeitlich in der Lage war, Apparaturen ins Werk zu setzen, um der Aussetzung des business as usual entgegenzuwirken. Die Verbreitung des Virus erfolgte über den Reiseverkehr, und insofern ließe sich leicht vorstellen, dass von Ölgesellschaften gestützte Fluggesellschaften, Kreuzfahrtunternehmen und die Autoindustrien – die im Übrigen einen großen Anteil am fossilen Kapital besitzen – sich dazu bewogen gesehen hätten, den Stilllegungen zuvorzukommen oder sie zumindest abzumildern, so wie sie es bereits zuvor an der Klimafront getan hatten. Doch der Überraschungsangriff des Virus überwältigte selbst sie. Anstelle eigener Maßnahmen verbarrikadierten sie sich im Ausnahmezustand und warteten darauf, dass die Pandemie endlich besiegt würde, damit alles wieder zur alten Ordnung zurückkehren könnte. Zugegeben, es gab ein paar müde Versuche aus dieser Ecke, der Wirtschaft neuerlich Vorrang vor der Gesundheit einzuräumen, doch zumindest in der Anfangsphase wurden diese geflissentlich beiseitegewischt – eine Lektion in Sachen Politik als Kunst des Erstschlags oder, wenn man so will, des Manöverkriegs.

Covid-19 trat als eine allumfassende, augenblickliche und vollständige Sättigung aller Bereiche zutage. Wie ein Windstoß, der die getönten Scheiben eines Wolkenkratzers sprengt, entblößte es den Staat bis auf seine schmuckloseste, relative Autonomie. Die Regierungen im Norden waren in der seltenen Position, das Wohlergehen der kapitalistischen Volkswirtschaften zugunsten des Lebens ihrer älteren und allenfalls auch jüngeren Kohorten zu opfern. Dieser Moment brachte womöglich das Beste des modernen bürgerlichen Staates zum Vorschein – die Achtung vor dem Leben, die die Achtung vor dem Eigentum übertrumpft: ein Sieg für die egalitäre Prämisse, zu der sich die Demokratie verpflichtet (um der Selbstgefälligkeit nördlicher Demokratien jedoch den Wind ein wenig aus den Segeln zu nehmen, muss gesagt werden, dass China und der Iran schon weitaus früher ähnlich reagierten).

Wohin auch immer wir also blicken, stoßen wir stets auf zeitliche Differenzen: globale Erwärmung als lang andauerndes und stetiges Ereignis, Covid-19 als Schock. Das aber wirft zugleich die Möglichkeit auf, die Frage sei von Anfang an völlig falsch gestellt. Lassen sich die beiden denn überhaupt vergleichen? Ist das nicht ein bisschen so, als stellte man einer Stunde im Leben eines Menschen die gesamte Biografie eines anderen gegenüber? Wir werden in Kürze wieder auf dieses Problem zu sprechen kommen, wollen das Ganze zunächst jedoch noch um die räumliche Dimension ergänzen. Schließlich fügt sich die Zurückdrängung von Covid-19 in das übergeordnete Paradigma, welches die Politik des Nordens in den letzten Jahren erfasst hat: den Nationalismus. Dieser ließe sich durch Grenzschließungen, die Entsendung des Militärs zum Schutz vor Übertritten (Dänemark ließ sich diese Gelegenheit nicht entgehen), durch Förderung der Autarkie und die Abschottung vom Rest der Welt umsetzen. Die Vorteile solcher Maßnahmen kämen, soweit sie sich als effektiv erweisen würden, unmittelbar der nationalen Bevölkerung zugute. Ginge es jedoch um Emissionssenkungen, würden sich die Vorzüge über den ganzen Globus verbreiten – Kenianer*innen würden von starken Einschnitten in Deutschland genauso profitieren wie die Deutschen und noch einige andere. Die Suppression von CO2 ist nicht von Natur aus im Regelwerk des Nationalstaats enthalten. Der Krieg gegen Covid-19 ließe sich demnach gewissermaßen als klassischer Krieg begreifen, der sich all der Paraphernalien des patriotischen Stolzes bedient – eine Nation, die sich wie in früheren Zeiten der Gefahr selbst schützt; ein Volk, das sich im Rücken des staatlichen Bollwerks versteckt –, wohingegen ein Krieg gegen CO2 solch einen Rahmen tendenziell zu sprengen drohte. Es wäre ein Krieg zum Nutzen der eigenen und fremder Bevölkerungen. Doch zuallererst wäre es ein Krieg zugunsten der Armen.