Der Fortschritt dieses Sturms

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DAS ENDE DER NATUR?





Im Jahr 1990, ein Jahr nach der Veröffentlichung von Jamesons

Postmodernism

, verkündete Bill McKibben in dem gleichnamigen, heute als das erste populäre Buch über den Klimawandel geltenden Buch »das Ende der Natur«. Er war einer der Ersten, die das Gefühl hatten, dass die veränderte Zusammensetzung der Atmosphäre alles auf den Kopf stellte, angefangen mit der Bedeutung des Wetters. Denn ein plötzlicher Wolkenbruch ließ sich nicht länger ignorieren und ein Nachsommer nicht mehr als Laune der Natur genießen.

Alles

 Wetter müsse mittlerweile als ein Artefakt »unserer Lebensweise« beargwöhnt werden, selbst noch auf einem Spitzbergener Berggipfel oder auf einer Sanddüne in der Atacama-Wüste, in Gebieten also, die als abgeschiedene Wildnis gälten: Aufgrund des Kohlenstoffdioxids finde sich der menschliche Fingerabdruck überall. »Wir haben das CO2 produziert – wir machen der Natur ein Ende« – oder:



Indem wir das Wetter verändern, machen wir jeden Fleck auf der Erde zu etwas Künstlichem, zu Menschenwerk. Wir haben die Natur ihrer Eigenständigkeit beraubt, und das hat verhängnisvolle Folgen für ihr Wesen. Das Wesen der Natur

ist

 ihre Eigenständigkeit; ohne sie gibt es nur noch uns.

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Innerhalb welcher Definition aber ist die Natur verschwunden? Auf den ersten Blick mag es den Anschein haben, als bediente sich McKibben einer Definition, die derjenigen Sopers nicht unähnlich ist – mit »Eigenständigkeit« bzw. »Unabhängigkeit« als Schlüsselbegriff –, doch geht er noch einen entscheidenden Schritt weiter. Er bezieht sich nicht auf die Natur als eine Reihe an materiellen Strukturen und Prozessen mit eigenen kausalen Kräften, nicht auf das Ende der Fotosynthese, der Atmung oder der Wolkenformation; all diese Dinge, beteuert er, bestünden auch weiterhin. Vielmehr

»haben dem ein Ende gemacht, was zumindest in der Neuzeit Natur für uns definiert hat … ihrer Trennung von der menschlichen Gesellschaft«

, das heißt ihre Reinheit, ihr vollkommen ursprünglicher, unberührter, vom Menschen unbeeinträchtigter Zustand.

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 Nur unter Anerkennung dieser Definition ließe sich behaupten, die Natur sei an ihr Ende gelangt. Aber handelt es sich dabei überhaupt um eine vernünftige Definition?



Wenn ich Zucker in meinen Kaffee mische, folgere ich daraus nicht, dass der Kaffee sein Ende gefunden hat. Ich nehme eher an, er hat den einen Zustand abgelegt und dafür einen anderen angenommen: Es ist nicht länger nur schwarzer Kaffee, sondern süßer schwarzer Kaffee. Normalerweise, in unserem Alltag und unserer Sprache, bestehen wir nicht darauf, dass, sobald A mit B in Berührung kommt, A aufhört zu existieren – ein privates Unternehmen bleibt während der Verhandlungen mit dem Staat ein privates Unternehmen; ein See bleibt ein See, selbst wenn Tonnen an Sedimenten hineingeschüttet werden. Besonders für jene, die mit der marxistischen Dialektik vertraut sind, sollte es sich hierbei um einen banalen Gedanken handeln – kapitalistische Eigentumsverhältnisse verschwinden nicht in dem Moment, in dem sie mit feudalen oder sozialistischen vermengt werden; Kapital kann sich nur durch ständige Bezugnahme auf seine Erzfeindin Arbeit und dergleichen vermehren, und zwar lediglich innerhalb einer Welt, in der ein Gefüge aus Gegensätzen keinen überraschenden Umstand darstellt. Sollten wir mit der Natur also anders verfahren? Gibt es irgendeinen Grund, eine bestimmte Bedingung – namentlich die Abwesenheit sozialen Einflusses – in die Definition dieser speziellen Sache als Prüfstein gerade ihrer Existenz zu integrieren?



Wir wollen dies die

puristische

 Definition nennen. McKibben präsentiert keinerlei Begründung für sie; er nimmt sie schlichtweg als gegeben hin. Betrachten wir Natur jedoch in einem etwas kleineren Maßstab, erscheint es schwierig, diese Definition aufrechtzuerhalten. Man nehme etwa die Ozeane: Mittlerweile sind sie entstellt – aufgrund des Plastikmülls, der in gigantischen Wirbeln seine Bahnen zieht, aufgrund von Versauerung, Überfischung und anderen menschlichen Einflüssen, die bis in die tiefsten, dunkelsten Winkel hinabreichen. Können wir also sagen, dass Ozeane

ipso facto

 nicht mehr existieren? Wohl kaum. Sie befinden sich in einer anderen Verfassung, aber vorhanden sind sie nach wie vor – und wenn das auf die Ozeane zutrifft, die doch einen ziemlich bedeutenden Teil dessen ausmachen, was wir als »Natur« verstehen, warum dann nicht auch auf die maßgebliche Gesamtheit? Es scheint hierfür zwei mögliche Umgangsweisen zu geben. Entweder speist man Heiligkeit, also eine Art (paradoxerweise) übernatürliche Wertigkeit, in die Definition der Natur ein, oder man hält an einer extremen Form des Dualismus fest, was die Überzeugung erlauben würde, die Essenz der Natur sei ihre

vollständige Absonderung

 von der menschlichen Gesellschaft.

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Wenn wir nun zu Recht zu dem Schluss kommen, dass die puristische Definition analytisch unhaltbar ist, soll damit keineswegs gesagt sein, dass McKibben nicht gut daran tut, das Ende eines

bestimmten Zustands

 der Natur zu beklagen.

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 So, wie ich schließlich einen Grund haben könnte, vor Widerwillen aufzuschreien, wenn jemand Zucker in meinen Kaffee kippt, dürften sich noch weitaus überzeugendere Gründe dafür finden lassen, den Verlust eines jeden unberührten Ortes der Welt zu betrauern. Im Hinblick auf unsere Absichten, und darum geht es, gereicht McKibbens traurige Kunde analytisch jedoch zu keinerlei Nutzen. Denn laut der puristischen Definition gehörte die Kohle, die von den Briten an entlegenen Küsten entdeckt wurde, vor deren Ankunft zwar der Natur an, doch als diese Briten (oder vielmehr diejenigen, die für sie arbeiteten) zu graben und die Kohle zu fördern anfingen, fiel das Material irgendwie aus der Natur in die Sphäre des Menschen. Wenn nun aber die Kohle bereits kein Teil der Natur mehr war, wie kann sich das CO2 dann überhaupt noch tödlich auf sie ausgewirkt haben? Die Antinomien des Dualismus würden auf allen Ebenen einer solchen Geschichte erneut zum Vorschein kommen.







IST JEDE UMWELT GEBAUTE UMWELT?





Sollte der Klimawandel tatsächlich das Ende der Natur bedeuten, müssten wir wohl oder übel den Schluss ziehen, dass der postmoderne Zustand damit in Stein gemeißelt ist. Veröffentlicht hatte McKibben sein Buch, um eine weitere zeitliche Markierung zu nennen, ein Jahr, nachdem Francis Fukuyama seinen Essay »Das Ende der Geschichte?« verfasst hatte. Verkam Fukuyamas These seither jedoch zur Lachnummer der Theorie, wird der oben genannten auch weiterhin größtmöglicher Respekt gezollt. Zwar ist McKibben selbst, als der wohl bedeutendste Anführer der globalen Klimabewegung, inzwischen zu aussichtsreicheren Aktivitäten übergegangen, sein Nachruf auf die Natur aber ist im intellektuellen Klima haften geblieben, obwohl die ihm zugrunde liegende Argumentation, wie wir gesehen haben und auch weiterhin sehen werden, mehr als fragwürdig erscheint. So dient der Nachruf nun sowohl als Ausgangspunkt für Wapners Diskussionen über die Dilemmata des Umweltschutzes als auch für die jüngste Variante des philosophisch weit fortgeschrittenen und etwa von Steven Vogel unternommenen Versuchs, den die Natur betreffenden Konstruktionismus zu verteidigen.



In seinem ersten Buch

Against Nature. The Concept of Nature in Critical Theory

 entspinnt Steven Vogel ein aus einer eigenwilligen Lektüre des Kanons der Frankfurter Schule gespeistes konstruktionistisches Programm. Dabei zeigt er vier Einsichten auf, aufgrund derer Natur als »eine soziale Kategorie« zu verstehen sei: Man könne niemals in eine Natur außerhalb des menschlichen Vorverständnisses treten; die Natur, die Forscher:innen zu untersuchen vorgeben, sei ein Produkt ihrer eigenen Praktiken – so weit alles postmoderner Grundstock –; natürliche Objekte seien in das Gesellschaftsleben integriert; und würden durch Arbeit hergestellt.

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 Nur die letzte Auffassung, die originellste der vier, wird auch in

Thinking like a Mall. Environmental Philosophy after the End of Nature

 beibehalten. Darin vertritt Vogel, obwohl er ein wenig von seinem früheren Idealismus zurückrudert, den Konstruktionismus stärker denn je. Als Ausgangspunkt dafür dient ihm die Annahme, dass McKibben recht hatte: Die Natur sei tatsächlich an ihr Ende gelangt, am offensichtlichsten aufgrund der steigenden Temperaturen. Die puristische Definition bejahend, hebt Vogel McKibbens These jedoch auf die nächste Stufe und behauptet, dass, wenn die Natur in dem Moment erlösche, in dem der Mensch mit ihr in Berührung komme, sie schon tot und begraben gewesen sein müsse, lange bevor irgendwelches CO

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 aus Schornsteinen gebauscht gekommen sei.

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 Ohne eine ausdrückliche Verbindung zur globalen Erwärmung zu ziehen, heißt es bei ihm, dass es sich bei dem »Ende der Natur um etwas handeln könnte, das in der Formulierung Heideggers, die hier relevant erscheint,

immer schon geschehen

 ist.« Kraft axiomatischer Notwendigkeit habe die Natur »in dem Moment aufgehört zu existieren, als der erste Mensch in Erscheinung trat« – »vor so langer Zeit, dass wir außerstande sind, dafür ein Datum zu ermitteln«.

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Was also ist es, was uns heute zu umgeben scheint? Keinesfalls Diskurse oder der Schlamm epistemischer Gemeinschaften; auf dergleichen hat es Vogel längst nicht mehr abgesehen. Umgeben seien wir vielmehr von einer soliden realen Umwelt, bei der es sich jedoch um eine

gebaute

 Umwelt handele, eine, die der Mensch buchstäblich von Grunde auf physisch konstruiert habe. Da es für den Menschen keine Möglichkeit gebe, »auf irgendeine Landschaft zu stoßen, ohne sie zu verändern«, müsse jedwede mit Menschen in Berührung gekommene Landschaft als gebaut klassifiziert werden, entlegene Inseln genauso wie Ballungsräume, die Wüsten ebenso wie Autobahnen und – hierin liegt der Kern des Buches – die Atmosphäre mindestens genauso wie das Einkaufszentrum.

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 Nicht unbedingt die Schlussfolgerung, die McKibben vorgeschwebt sein dürfte, folgt sie dennoch einer kompromisslosen, wenn auch verschrobenen Logik. In Anlehnung an Aldo Leopolds zeitlose Aufforderung, »wie ein Berg zu denken«, um dem Land so näherzukommen, empfiehlt Vogel Umweltschützer:innen, vermehrt wie ein Einkaufszentrum zu denken, da ein Kaufhaus schließlich genauso Teil der Umwelt sei wie ein Berg und nicht weniger Schutz und Ehrfurcht verdiene.

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Die Variante des hier herausgearbeiteten Konstruktivismus weicht offenbar vom Idealtypus ab: Wie Vogel mehrfach betont, verwendet er das Wort »Konstruktion« im wörtlichen Sinn, nicht anders also, als er es angesichts der Pyramiden gebrauchen würde. Folglich können wir zwischen einem idealistischen und einem buchstäblichen Konstruktionismus der Natur unterscheiden; Vogel und Smith sind beide von ersterem zu letzterem übergegangen, wohingegen Castree sich in die entgegengesetzte Richtung hat treiben lassen.

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 Wichtig dabei ist es anzumerken, dass keiner von ihnen als Strohmann fungiert. Vogel meint wirklich, was er sagt. »In unserer Umwelt gibt es nichts, bei dessen Produktion wir nicht auf die eine oder andere Weise unsere Finger im Spiel hatten«, nichts Physikalisches oder Chemisches rings um uns, das fernab der Arbeit entstanden sei, »keine Rohstoffe, keine ›natürlichen Ressourcen‹, die nicht bereits selbst Gegenstand vorangegangener Konstruktionspraktiken gewesen« seien – Äußerungen, die sich in Dauerschleife durch sein aktuellstes Werk ziehen.

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 Und alle Anzeichen deuten darauf hin, dass Vogel wirklich will, dass wir das ernst nehmen. Tun wir das also. Wahr wird, was er sagt, dadurch dennoch nicht, wie sich an Kohle als hinreichendem Gegenbeweis zeigt: Wir wissen, dass sie sich gebildet hat, als Vegetation in Sümpfen absank, deren Wasser die Vegetation vor der Oxidation bewahrte. Als die abgestorbenen Pflanzen tiefer sanken, stiegen der Druck und die Temperaturen an; langsam und graduell verhärtete sich das Material zu Kohle, überwiegend während des Karbons vor etwa 286 bis 360 Millionen Jahren, als noch kein Mensch bei dem Prozess überhaupt hätte behilflich sein können. Kohle in einem Dschungel Borneos zu entdecken bedeutet also, eine Passage zu dieser Vergangenheit zu öffnen und das in unsere Zeit zu holen, was nicht von Menschenhand geschaffen wurde. Das Gleiche gilt für die Gewinnung jedes bisschen aus den Eingeweiden unseres Planeten geborgenen fossilen Brennstoffs.

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Dermaßen einfach – so einfach, dass sich der Spott geradezu aufdrängt, aber so ist sie nun mal, die Beschaffenheit dieser Theorie – lässt sich zeigen, dass der buchstäbliche Konstruktionismus empirisch falsch ist. Fossile Brennstoffe stellen in unserer Umwelt keine Kleinigkeit dar; ebenso wenig die Sonne, die Erdkruste, der Sauerstoff, das Element des Feuers … Man müsste schon einiges an Wortklauberei auffahren, um zu beweisen, dass etwas davon in irgendeinem Sinne vom Menschen »konstruiert« oder »gebaut« wurde, konstituieren doch gerade diese Dinge die

Mise en Scène

 und

Conditio sine qua non

 und was weiß ich noch alles der sich erwärmenden Welt. Die einzige Möglichkeit, den Konstruktionismus davor in Schutz zu nehmen, wäre es, auf eine Extremvariante der puristischen Definition zu bestehen: Bei jeglichem Kontakt mit den Menschen – sei es, auf sie zu fallen, sie zu tragen oder ihre Lungen zu durchströmen – würden dann Sonneneinstrahlung und Sedimentgesteine, Luft und alles andere auf magische Weise zu deren Produkten. Und wenn Vogel von »Bauten« und »Konstruktion« spricht, wirkt es, als setzte er eine derartige Metamorphose tatsächlich voraus. Etwas zu affizieren hieße dann, es zu bauen. »Es gibt nichts, was wir tun, das die Umwelt nicht irgendwie verändert

und also baut«

, behauptet Vogel in einer großzügigen Ausdehnung des Begriffs.

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 So verwendet, wäre es mir möglich, rechtmäßig zu behaupten, eine Pyramide in Gizeh allein mittels Skalierung und schwarzer Farbe gebaut zu haben.



Sobald der Mensch mit einer Landschaft in Berührung komme, verändere er diese zwangsläufig; indem er sie verändere, baue er sie; insofern habe der Mensch jedwede Landschaften gebaut (und logischerweise sollte das auch für den Mond und den Mars und alle weiteren Himmelskörper gelten). Der offensichtliche Schwachpunkt dieses Syllogismus, der doch das ganze Argument stützt, besteht in dem Gebrauch des Wortes »Bauen« als Synonym für »Affekt« oder »Veränderung«. Vogel verteidigt die Gleichsetzung dieser Wörter, indem er beteuert, »etwas zu bauen

heißt

, ein Material ›zu affizieren‹ und es dadurch in etwas Neues umzuwandeln – Holz in ein Bücherregal, Ton in ein Gefäß, Silikon in einen Speicherchip«.

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 Gewiss, wobei gerade das keineswegs auf dem Spiel steht. Schneide ich Holz zurecht und gestalte damit ein Bücherregal, habe ich dieses Bücherregal zweifellos gebaut – wenn ich jedoch einen Zweig vom Baum absäge, habe ich diesen Baum dann ebenso gebaut? Darauf läuft Vogels Argumentation hinaus: Nicht indem man etwas baue, affiziere man Materie, sondern

indem man Materie affiziere, baue man sie

. Im allgemeinen Sprachgebrauch meint man mit diesem Wort etwas anderes. Würden wir uns Vogels vorgeschlagener Neudefinition anschließen, hätte dies enorme Konsequenzen: Schauen Sie sich die Markierung an, die ich in meiner Wohnung hinterlassen habe – sehen Sie, ich bin es, der diese Eigentumswohnung gebaut hat. Oder wie Val Plumwood angemerkt hat: Ich affiziere die mir nahestehenden Personen, verändere ihre Leben tatsächlich durch und durch; folglich könnte ich behaupten, sie gebaut, produziert oder konstruiert zu haben.

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 An dieser Stelle läuft der Konstruktionismus wahrlich völlig aus dem Ruder.



Was bedeutet es also, etwas gebaut oder produziert – buchstäblich konstruiert – zu haben? Auch diesmal liefert Kate Soper die überzeugendste Antwort: Das ausschlaggebende Kriterium bestehe darin, »ein Produkt einzuführen, das zuvor noch nicht existiert hat«.

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 Wenn wir davon sprechen, dass der Pharao Cheops die Große Pyramide von Gizeh erbaut hat, wollen wir damit ausdrücken, dass es sie zunächst nicht gab und es dieser Mann war, der vor etwa 4600 Jahren einen Konstruktionsprozess in die Wege leitete, der das Bauwerk an genau jener Stelle hervorbrachte, an der es auch heute noch steht. Es ist die menschliche Erbauerin, die eine Entität hervorbringt. So etwas wie eine Uhr oder ein Computer werden durchaus gebaut oder produziert, schließlich verdanken sie ihre Existenz menschlichen Handlungen – indem sie ausgewählte Materialien auf eine bestimmte Art affizieren, erschaffen die Menschen diese Dinge

de novo

 –, Kohle und Ozeane und der Kohlenstoffzyklus fallen jedoch in eine andere Kategorie. Und mit dem Klima verhält es sich allem Anschein nach ähnlich. Denn die Erde wies ein Klima auf, lange bevor sie überhaupt Menschen aufwies.







WAS KONSTRUIERT IST UND WAS NICHT





In der Tat sollte die Konstruktionsmetapher beim Wort genommen werden: Wenn man etwas baut, verändert oder affiziert man es nicht nur, sondern man ruft das Bauwerk ins Leben.

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 Paradoxerweise stellt Bauen jedoch genau jene menschliche Praxis dar, um die herum Vogel seine Argumentation errichtet, ohne sie auch nur im Ansatz zu begreifen. Besser wäre es also, sich William H. Sewell zuzuwenden, der den wahren Nutzen der Metapher in seinem Buch

Logics of History. Social Theory and Social Transformation

 präzise schildert. Im Gegensatz zu dem für die Postmoderne so charakteristischen synchronen Denken



impliziert die Konstruktionsmetapher eine ganz andere, durchaus diachrone Zeitlichkeit. Konstruktion ist ein Substantiv, das aus einem Verb gebildet wird; es bezeichnet einen

Prozess

 des Bauens, der von menschlichen Akteuren vollzogen wird und sich über einen Zeitraum erstreckt. (Rom, wie das Sprichwort besagt, wurde nicht an einem Tag erbaut.) Die gesellschaftliche oder kulturelle Konstruktion von Bedeutung ist implizit also auch ein zeitlich ausgedehnter Prozess, der die kontinuierliche Arbeit menschlicher Akteure erfordert. Zudem setzt soziale Konstruktion voraus, dass, sobald eine Bedeutung aufgebaut worden ist, sie stark dazu tendiert, auf Dauer bestehen zu bleiben: Sozial konstruierte Geschlechterverhältnisse oder wissenschaftliche Wahrheiten werden oftmals naturalisiert, akzeptiert und zu beständigen Eigenschaften der Welt, im gleichen Maße wie einmal gebaute Gebäude als beständige Eigenschaften der physischen Umwelt fortbestehen.

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In keinem Sinn würde das Klima die Voraussetzung für diese Art von Metapher erfüllen – die fossile Ökonomie hingegen mit Bravour.

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Soll der Begriff »soziale Konstruktion« sinntragend sein, muss er laut Ian Hackings

Was heißt »soziale Konstruktion«?

 auf ein X Bezug nehmen, das »infolge einer Reihe sozialer Ereignisse« entstanden ist. Eine Konstruktionistin nimmt normalerweise an, das fragliche X »hätte nicht existieren müssen«, wären diese Ereignisse nicht eingetreten.

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 Überträgt man diese Überzeugung auf den Bereich der Natur, erscheint sie in höchstem Maß absurd. Drei Erzählstränge verfügen jedoch über das Potenzial, den buchstäblichen Konstruktionismus in intelligible Aussagen zu transformieren. Erstens: Die Menschen wurden auf einen leeren Planeten (oder in ein leeres Universum) gebeamt, wo sie in der Rolle der göttlichen, nicht-produzierten Produzent:innen die Natur von Grund auf konstruierten. In diesem Fall würde es tatsächlich den Anschein haben, dass das X mittels sozialer Ereignisse entstanden ist. (Die Frage, woher die Rohstoffe stammen sollten, bliebe freilich unbeantwortet.) Zweitens: Die Menschen gingen aus einer bereits vorhandenen Natur hervor, doch in dem Moment, da sie auftauchten und anfingen, auf dem Planeten umherzustreifen, annullierten sie sie. Von dieser Glanzleistung beflügelt, gingen sie dazu über, jedwede Umwelt auf der Erde zu bauen. Dies entspricht Vogels Logik, die ein paar Fragen aufwirft, etwa, wie die Menschen zugleich direkte Nachkommen als auch augenblickliche Beseitiger:innen der Natur sein könnten (ein allein auf Basis der puristischen Definition nachvollziehbarer Handlungsstrang). Oder drittens: Lange Zeit lebten die Menschen inmitten der bereits vorhandenen Natur, und erst in den letzten Jahren haben sie einen dermaßen schädlichen und tiefgreifenden Einfluss darauf ausgeübt, dass die Natur nicht mehr als das gelten kann, was sie einst war. Das gleicht eher einer der Konstruktion gegenläufigen Aktivität – der Destruktion –, jedoch lässt diese Erzählung die Erde und alles auf ihr zumindest zum Ergebnis sozialer Ereignisse werden. Sogleich tauchen aber andere Fragen auf. Wenn die Natur durch den jüngsten menschlichen Einfluss – sprich: anthropogener Klimawandel – an ihr Ende gelangt ist, welche Mächte und kausalen Kräfte bestimmen dann die möglichen Formen, die dieser Einfluss annehmen kann? Woher stammen sie? Wurden die Kanäle, in welche die CO2-Emissionen eingespeist werden, soeben erst von den Menschen erbaut?



Die Absurdität erstreckt sich auf beide Varianten des Natur-Konstruktionismus.

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 Das ist vielleicht auch der Grund, weshalb dessen Befürworter:innen – die keineswegs auf den Kopf gefallen sind – immer wieder Schnitzer unterlaufen. So erwähnt Castree etwa aus heiterem Himmel »eine biophysikalische Welt, die auf irgendeiner Ebene existiert« und »nichts weiß von den Werten und Zielen, denen zufolge wir diskutieren, auf sie reagieren und in sie eingreifen«.

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 Smith wiederum gibt gerade jene Unterscheidung preis, die er aufzulösen angetreten war: »Anders als die Gravitation weist das Wertgesetz nichts Natürliches auf; keine Gesellschaft hat je gelebt, ohne das Wirken der Gravitation zu erfahren, wohingegen viele auch ohne das Wertgesetz existiert haben« – Natur auf der einen Seite, Gesellschaft auf der anderen.

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 Und Vogel, der doch vorgibt, der unerbittlichste Feind jedweder Verwendung des Naturbegriffs zu sein, gibt Äußerungen von sich wie »wir Menschen sind selbst natürlich«. De facto bringt er in der Mitte seines Buches sogar ein ganzes Kapital damit zu, über das Schicksal jener Artefakte nachzudenken, die der Natur ausgeliefert sind. Jedes Gebäude sei dem Niederschlag und der Oxidation, der Entropie und der Hitze sowie anderen »Prozessen ausgesetzt, deren grundlegender Charakter – ich wäre sogar versucht zu sagen, deren

Natur

 – uns nicht in vollem Maße bekannt ist und es auch nicht sein kann«, da sie »momentan von den Menschen unabhängig agieren« und »nichts sind, was wir

produzieren«

.

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 Aussagen wie diese können dazu dienen, Argumentationen eine nuancierte Stoßrichtung zu verleihen, an der es sonst vollends mangeln würde. Tatsächlich aber fördern sie bloß erdrückende Inkonsistenzen zutage.

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 Und an manchen Stellen scheinen Konstruktionist:innen sie sogar als Vorbehalte des allgemeinen Menschenverstandes einzusetzen, um sich dadurch geflissentlich die Hände von den Implikationen ihrer eigenen Argumentationen reinzuwaschen – aber selbstverständlich glauben wir nicht, die Erde sei lediglich ein Märchen! Wer käme auf so eine verrück