Grundlagen der Psychiatrie

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IEinführung

K. Paulitsch

1Begriffsbestimmung

Als Psychiatrie, abstammend von Seele (griech. psyche) und ärztliche Heilkunde (griech. iatreia), bezeichnet man die Lehre vom Erforschen, Diagnostizieren und Behandeln psychischer Störungen und Erkrankungen. Das früher auch als Seelenheilkunde bezeichnete medizinische Fach wird von ÄrztInnen praktiziert und steht in Beziehung zu anderen Disziplinen, wie Neurologie, Biologie, Genetik, Psychologie, Soziologie, Verhaltensforschung, Psychotherapie, Pflegewissenschaften etc. Die Berücksichtigung sowohl von biologischen als auch von psychosozialen Faktoren ist für das Wesen der Psychiatrie kennzeichnend. Dieser Ansatz wird u. a. als „mehrdimensional“, „biopsychosozial“ oder „pluridimensional“ bezeichnet. Jede „unidimensionale“ Arbeitsweise hat dennoch ihre Berechtigung und dient dazu, die verschiedenen Dimensionen und deren Beziehungen zueinander zu erfassen, statt sie zu verleugnen.

Folgende methodische Ansätze, Teilbereiche und Forschungsgegenstände können differenziert werden:

Die Psychopathologie ist die Lehre von der Beschreibung des gestörten Erlebens, Befindens und Verhaltens. Ihre Aufgaben sind das Erkennen, Ordnen und Beschreiben von psychischen Erkrankungen (deskriptive Psychopathologie), bezogen auf die inneren Zusammenhänge und zwischenmenschlichen Vorgänge (verstehende, dynamische Psychopathologie). Methoden der Psychopathologie sind das fachliche Gespräch und die genaue Verhaltensbeobachtung von Personen mit psychischen Störungen.

Die biologische Psychiatrie beschäftigt sich mit den biologischen Grundlagen von psychischen Störungen und bedient sich u. a. biochemischer, anatomischer, neurophysiologischer, psychophysiologischer, genetischer und chronobiologischer Ansätze. Dieser Teilbereich der Psychiatrie hat durch die Entdeckung der Neurotransmitter, die Entwicklung von Psychopharmaka und durch neue radiologische Darstellungen des Zentralnervensystems außerordentliche Fortschritte erzielt und gilt derzeit als größter psychiatrischer Forschungsbereich.

Die Sozialpsychiatrie befasst sich mit der Häufigkeit psychischer Störungen sowie deren soziokulturellen Bedingungen und richtet ihr Augenmerk auf die Beziehung zwischen Krankheit und Gesellschaft. Im besonderen Blickfeld des Interesses stehen die Auswirkungen von Familienstrukturen, Gewalt oder sozioökonomischen Verhältnissen auf die seelische Entwicklung.

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie ist mit der Erforschung und Therapie von psychischen Störungen von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen befasst und unterscheidet sich in deren Ansätzen nicht von jenen der übrigen Psychiatrie. Als mittlerweile selbstständiges medizinisches Fachgebiet wird sie in einem eigenen Kapitel dargestellt (siehe Kapitel XVI).

Die Gerontopsychiatrie (Alterspsychiatrie) ist die ärztliche Seelenheilkunde des höheren Lebensalters und beschäftigt sich mit den in diesem Alter besonders häufig auftretenden psychischen Krankheiten, wie demenzielle und delirante Syndrome oder depressive Störungen. Durch die gesteigerte Lebenserwartung des Menschen ist die Bedeutung dieses Teilbereichs in den letzten Jahren gestiegen.

Die forensische Psychiatrie gilt als Grenzgebiet zwischen Psychiatrie und Rechtsfragen und befasst sich mit juristischen Aspekten psychischer Erkrankungen. Im Zentrum stehen Fragen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, Geschäfts- und Testierfähigkeit, freien Willensbestimmung (Erwachsenenvertretung, Vollsorgevollmacht, Sachwalterschaft) und der Unterbringung in eine psychiatrische Abteilung ohne Zustimmung des Betroffenen.

Die Neurologie ist die Lehre von organisch fassbaren Erkrankungen des Nervensystems, wie beispielsweise Schlaganfälle, Tumore des Gehirns, Multiple Sklerose oder Wurzelkompressionssyndrome nach Bandscheibenvorfällen. Neurologie und Psychiatrie fasste man bis vor wenigen Jahren als „Nervenheilkunde“ zusammen, da das Nervensystem des Menschen als der wesentliche Forschungsgegenstand verstanden wurde. Durch die Fülle der neuen Erkenntnisse und anderer Zugänge wurden die Fächer voneinander differenziert und zu eigenen medizinischen Bereichen.

Die Psychosomatik ist kein selbstständiges Fach, sondern eine ganzheitliche Betrachtungsweise, welche die körperlichen und seelischen Faktoren aller Erkrankungen des Patienten in ihrer Entstehung, Aufrechterhaltung und Behandlung umfasst. Neuere Erkenntnisse haben die Vorstellung von „psychosomatischen“ Erkrankungen relativiert, da seelische und biologische Faktoren bei allen Erkrankungen untrennbar miteinander verbunden sind.

Die Psychologie ist die Lehre von normalen seelischen Vorgängen, wie dem Erleben und Handeln des Menschen unter unterschiedlichen körperlichen, biografischen, soziologischen, ökologischen und kulturellen Bedingungen. Für die Psychiatrie sind Entwicklungspsychologie, Tiefenpsychologie und Psychodiagnostik von besonderem Interesse. Der Beruf der Psychologin/des Psychologen erfordert ein eigenes akademisches Studium.

Die Psychotherapie kann als Teilbereich der psychiatrischen Behandlung betrachtet werden und stellt eine Therapie von psychischen Störungen mit psychologischen Mitteln dar. Als ein bewusster und geplanter interaktiver Prozess zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen oder Leidenszuständen aller Art hat sich die Psychotherapie in vielen Bereichen des Gesundheitswesens als wichtige Behandlungsform etabliert. Die Ausübung ist an eine spezielle Ausbildung gebunden und gesetzlich geregelt. Zu den einzelnen Verfahren und Schulen zählt man u. a. die Psychoanalyse, die Verhaltenstherapie oder die systemische Familientherapie (siehe Kapitel III, 3).

Die Epidemiologie beschäftigt sich als Grundlagenwissenschaft mit der Häufigkeit und den soziologischen Bedingungen von psychischen Störungen. Unter Prävalenz versteht man die Gesamtzahl aller Krankheiten oder Störungen einer definierten Gruppe zu einem bestimmten Zeitpunkt. Inzidenz definiert die Häufigkeit von neu aufgetretenen Krankheiten innerhalb eines bestimmten Zeitraums. Moderne Epidemiologie versucht, Untersuchungsergebnisse und Ansätze aus unterschiedlichen Forschungsgebieten zu integrieren.

2Historische Aspekte

Die ersten Aufzeichnungen über psychische Krankheiten reichen bis in die Antike zurück. Der griechische Arzt Hippokrates (460–370 v. Chr.) beschrieb bereits Krankheitsbilder, die mit heutigen psychischen Störungen vergleichbar sind, und gilt als Begründer der Vier-Säfte-Lehre. Diese humoralpathologische Vorstellung beschreibt beispielsweise bei Depressionen ein Überwiegen der „schwarzen Galle“. Die damaligen therapeutischen Maßnahmen beschränkten sich auf Diätvorschläge, Veränderung der Lebensgestaltung, Massagen etc., was einer materialistisch-biologischen Sichtweise von psychischen Störungen entspricht. Obwohl wenige Aufzeichnungen über die anschließenden Jahrhunderte vorliegen, geht man davon aus, dass psychische Krankheit häufig als Folgeerscheinung von Sünde oder Besessenheit von Teufeln, Hexen oder bösen Geistern angesehen wurde. Diese religiöse oder mystische Sichtweise bestimmte im Mittelalter die Vorstellung über psychische Auffälligkeiten und erforderte entsprechende Behandlungsformen. Exorzismus oder schwarze Magie waren bis in die Zeit der Aufklärung Bestandteil der „Therapie“ von psychiatrischen Krankheitsbildern, wobei die katholische Tradition in Hinblick auf Exorzismus in manchen Regionen Europas bis heute noch lebendig ist. Obgleich schon Paracelsus (1493–1541) biologische Ursachen von psychischen Krankheiten vermutete, wurden noch im 17. und 18. Jahrhundert psychisch auffällige Menschen weder als „krank“ angesehen noch ärztlich behandelt, sondern Verbrechern, Landstreichern und Prostituierten gleichgestellt, um sie in Zuchthäusern und Gefängnissen zu verwahren. Eine humanisierte Behandlung entwickelte sich vermutlich erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch die Aufklärung und eine veränderte christliche Haltung, die zunehmend durch Nächstenliebe bestimmt war. Philippe Pinel (1745–1826) und Jean-Etienne Esquirol (1772–1840) gelten als Begründer der klinischen europäisch orientierten Psychiatrie, die sich damals vorwiegend mit der Schilderung und Beschreibung von psychischen Auffälligkeiten befasste. Pinel gilt auch als „Befreier der Irren von ihren Ketten“, da er für humane Formen der psychiatrischen Unterbringung kämpfte, sein Schüler Esquirol begründete die französische Psychiatrie, gekennzeichnet durch psychohygienische Ideen. Angewendet wurden beispielsweise Kuren, Heilbäder, die Verabreichung von Kampfer oder Opium. Die bis dahin übliche Praxis der körperlichen Züchtigung, Zwangsmaßnahmen oder religiöse Riten wurden von Pinel und Esquirol und deren Anhängern abgelehnt. Im 18. Jahrhundert wurden Irrenanstalten im Sinne der Aufklärung gegründet, die aus heutiger Sichtweise eher skurrilen Gefängnissen als Heilstätten glichen, wie etwa der „Narrenturm“ in Wien (1784). Nach den Reformbewegungen von Pinel und Esquirol für eine Humanisierung der Behandlung von psychischen Erkrankungen gab es auch Rückschritte, wie etwa in der romantischen Epoche in Deutschland, in der man sich wieder mehr der religiösen bzw. Gefühlswelt zuwandte. Johann Christian Heinroth (1782–1862) etwa vertrat die spekulativ-psychologische Sichtweise, dass geistige Störungen die Folge von Sünde oder Schuld seien oder die Krankheit durch Freiheitsberaubung entstehe. Neben den psychologischen Hypothesen entwickelten sich auch nicht minder unausgereifte somatische Konstruktionen, welche die damalige Psychiatrie in zwei Gruppen spaltete: Die „Psychiker“ definierten Geisteskrankheiten als Krankheiten der Seele, hingegen favorisierten die „Somatiker“ – die als Vorläufer der biologisch orientierten PsychiaterInnen gelten – naturwissenschaftliche Ansätze. Eine eindeutige Trennlinie gab es auch damals nicht, so waren viele „Somatiker“ nicht frei von mystischen und naturphilosophischen Ansätzen, wie umgekehrt viele „Psychiker“ auch seelisches Leiden als körperliche Regelstörung verstanden. Dennoch durchziehen diese zwei Sichtweisen bis heute die Psychiatriegeschichte: Somatisch orientierte PsychiaterInnen sehen eine psychische Erkrankung als Störung oder Defekt, hingegen erscheint Vertretern der „romantischen“ Psychiatrie von einst bis heute die psychische Krankheit als Kehrseite der „Normalität“ bzw. als deren Verständnis. So leitete Sigmund Freud seine Vorstellungen des psychischen Apparats von neurotisch erkrankten PatientInnen ab. Die Erkenntnisse von naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen stärkten aber biologische Ansätze, mit denen zunehmend erhärtet werden konnte, dass Geisteskrankheiten mit direkten Organfunktionsstörungen des Gehirns einhergehen. Ein Vertreter dieser Richtung war Wilhelm Griesinger (1817–1868), der auch den diagnostischen Begriff der Einheitspsychose prägte. Er erlaubt keine klare Grenzziehung zwischen den einzelnen psychischen Krankheiten. Mit der neuropathologischen und anatomischen Erforschung bestimmter Hirnregionen beschäftigten sich Franz Nissl (1860–1919), Alois Alzheimer (1864–1915), Theodor Meynert (1833–1892) oder Carl Wernicke (1848–1905).

 

Emil Kraepelin (1856–1926) richtete sein Hauptaugenmerk auf die Zuordnung und Verlaufsbeobachtung bei psychiatrischen Erkrankungen, weswegen er als Begründer der nosologischen Klassifikation und Diagnostik gilt. Er unterschied exogene, endogene und psychogene Krankheiten („triadische Anordnung“, siehe Kapitel V, 3.1) und führte das dichotome System ein, das zwischen schizophrenen Störungen (von ihm „Dementia praecox“ genannt) und manisch-depressivem Kranksein differenziert. Eugen Bleuler (1857–1940), der den Begriff „Schizophrenie“ prägte, beschrieb dieses Krankheitsbild als eine Störung, die sich in verschiedenen Ausdrucksformen („Gruppe der Schizophrenien“) präsentiert und unterschiedliche Verläufe annehmen kann. Die Systematik von Kraepelin und Bleuler beeinflusste nachhaltig die weitere Entwicklung der psychiatrischen Krankheitslehre.

Karl Jaspers (1883–1962) gilt als psychopathologisch-beschreibender Phänomenologe, der 1913 mit der Veröffentlichung der „Allgemeinen Psychopathologie“ eine neue Schule psychopathologisch orientierter Psychiater prägte. Neben der Phänomenologie betonte er auch die lebensgeschichtliche Genese von psychischen Erkrankungen. Kurt Schneider (1887–1967) beschrieb charakteristische Krankheitssymptome, die Grundlage der modernen deskriptiven psychopathologischen Diagnostik sind. Besondere Bedeutung liegt in der Schizophreniediagnostik, wo Schneider „Symptome 1. Ranges“ und zusätzlich die weniger charakteristischen „Symptome 2. Ranges“ beschrieb. Sigmund Freud (1856–1939) entwickelte zeitgleich das psychoanalytische Denkmodell, welches großen Einfluss auch auf die Psychiatrie hat. Die Psychoanalyse etablierte sich als Erklärungsansatz für neurotische Störungen (u. a. Zwangsstörungen, Angststörungen und dissoziative Störungen) und stellt bis heute eine differenzierte Therapiemethode dar (siehe auch Kapitel III, 3.3.1). Iwan Petrowitsch Pawlow (1849–1936) und Burrhus Frederic Skinner (1904–1990) entwickelten die Lerntheorie, aus der die Verhaltenstherapie hervorging. In dieser Zeit wurden auch moderne Heil- und Pflegeanstalten („Nervenheilanstalten“) meist außerhalb von Ballungsräumen in großen Parkanlagen geschaffen, die psychisch Erkrankten aus damaliger Sicht eine fortschrittliche und humane Behandlung ermöglichten. Ein Beispiel ist die 1907 in Wien errichtete Nervenheilanstalt „Am Steinhof“. Sie galt als eine der weltweit modernsten Institutionen dieser Art.

Im 20. Jahrhundert ermöglichte ein besseres Verständnis der biologischen Krankheitsursachen wesentliche Fortschritte in den somatischen Behandlungsmethoden. Julius Wagner von Jauregg (1857–1940) entwickelte die Malariatherapie zur Behandlung der progressiven Paralyse (Syphilis) und erhielt dafür 1927 den Nobelpreis. Ihre Wirkung beruhte auf der Übertragung des Bluts von Malaria-Patienten auf an progressiver Paralyse Erkrankten. Die dadurch ausgelösten Fieberschübe bewirkten eine Besserung der psychischen Symptomatik. Ugo Cerletti (1877–1963) und Lucio Bini (1908–1964) führten 1938 die noch heute praktizierte Elektrokrampftherapie (EKT) für schwere psychischen Störungen ein (siehe Kapitel III, 2.1). Die Elektrokrampftherapie, auch früher „Elektroschocktherapie“, wurde ebenso wie die obsolete Insulinschocktherapie in den darauffolgenden Jahrzehnten teilweise undifferenziert und überschießend angewandt. Gemeinsam mit zweifelhaften neurochirurgischen Verfahren („Lobotomie“) haben diese Methoden dem Image der Psychiatrie als medizinisches Fach sehr geschadet.

Die Zeit des Nationalsozialismus ist ein besonders dunkles Kapitel der deutschen Psychiatrie, bei der es zu Verbrechen und Gräueltaten, u. a. systematische Ermordungen geistig behinderter und psychisch kranker Menschen und Zwangssterilisationen, kam. Die Psychiatrie war oft Dulder oder willfähriger Unterstützer solcher „Behandlungen“ und schwieg bis in die Nachkriegszeit nicht selten zu den Vorwürfen (siehe auch Kapitel II, 1). Der ideologische Hintergrund lässt sich teilweise auf die Degenerationslehre des 19. Jahrhunderts zurückführen, die eine fortschreitende Verschlechterung des menschlichen Erbguts für psychische Erkrankungen verantwortlich machte. Dieses Denken führte direkt zur Eugenik und Rassenhygiene der Nationalsozialisten, wobei die Rasse der „Arier“ als genetisch wertvoller als andere Rassen angesehen wurde. Anzumerken ist, dass neben den verbrecherischen Auswüchsen (z. B. die „T4-Aktion“ zur Tötung von behinderten und missgebildeten Kindern) die Degenerationslehre auch andere eigentümliche Theorien nach sich zog, wie die Annahme von „endogenen“ Störungen oder die Lehre von „degenerativen Charakteren“. Was in der derzeitigen Nomenklatur als „Persönlichkeitsstörung“ bezeichnet wird, erfuhr seine ersten Ansätze in der Lehre der abnormen Persönlichkeiten infolge von Degeneration.

Den Beginn der Entwicklung der Psychopharmaka setzt man ca. mit dem Jahr 1950 an, obwohl in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Morphium, Brom oder Barbituraten bereits psychisch wirksame Pharmaka zur Verfügung standen. Die „psychopharmakologische Revolution“ begann 1949 mit der Entdeckung des antimanischen Effekts von Lithium durch John Cade. 1952 wurde Chlorpromazin als erstes Neuroleptikum (Antipsychotikum) von Jean Delay (1907–1987), Pierre Deniker (1917–1998) und Henri Laborit (1914–1995) entwickelt. Damit war eine Substanz gefunden, mit der erstmalig schizophrene Psychosen nachhaltig behandelt werden konnten. 1954 kam es zur Entdeckung von Meprobamat und 1957 des ersten Antidepressivums (Imipramin) durch Roland Kuhn. Ab 1960 wurden verschiedene Benzodiazepine synthetisiert, die auch außerhalb der Psychiatrie weitere Verbreitung fanden. Auch hier soll nicht unerwähnt bleiben, dass durch die hochdosierte und unkritische Verabreichung – insbesondere der ersten Generation der Psychopharmaka – PatientInnen oft unter starken Nebenwirkungen litten, die den eigentlichen Nutzen wieder zunichte machten.

In den 1970er-Jahren kam es durch die Entdeckung der Psychopharmaka, neuen gesellschaftspolitischen Strömungen (u. a. Anti-Psychiatrie) und finanziellen Überlegungen zu längst fälligen Reformen in der psychiatrischen Versorgung, die zur Psychiatriereform (siehe Kapitel II, 1) mit einer Verbesserung der Behandlung von psychisch Erkrankten und einem menschlicheren Umgang mit ihnen führte. Ab diesem Zeitpunkt ist neben der Pharmakotherapie auch die Psychotherapie zu einem zentralen Anliegen der Psychiatrie geworden, was sowohl die Behandlung als auch die Facharztausbildung grundlegend veränderte.

Obwohl sich die Psychiatrie als ein pluridimensionales Fach auszeichnet, gewinnt der biologische Forschungsansatz vor allem im universitären Bereich in den letzten Jahrzehnten mehr an Bedeutung. Neben der begrüßenswerten ständigen Weiterentwicklung von neuen Psychopharmaka und neuen molekularbiologischen und -genetischen Erkenntnissen besteht die Gefahr, dass die Auseinandersetzung im geisteswissenschaftlichen (philosophisch-anthropologischen) Kontext seitens der Psychiatrie kaum mehr stattfindet. Derzeit lehnt sich die universitäre Psychiatrie (unterstützt von wirtschaftlichen Interessen der Pharmaindustrie) an die Theoriebildung der Neurowissenschaften und der Hirnforschung an und richtet nur geringes Augenmerk auf medizinische Anthropologie, psychodynamische Psychotherapieforschung oder sozialpsychiatrische Fragestellungen.

Ein Problem, mit dem das Fach Psychiatrie trotz aller Fortschritte noch immer zu kämpfen hat, sind die zahlreichen Vorurteile und negativen Attribuierungen zu diesem Thema. Stigmatisiert werden vor allem psychisch kranke Menschen, die oft noch als „Irre“, „Verrückte“ oder „Depperte“ bezeichnet werden. Auch Begriffe wie „Klapsmühle“ oder „Irrenhaus“ sind üblich und fördern die Stigmatisierung. Dabei zählen psychische Störungen zu den häufigsten Krankheiten überhaupt und können alle Menschen betreffen. Man sollte klarstellen, dass psychische Störungen oft einen guten Verlauf haben, sich die Behandlungsmöglichkeiten (Psychopharmaka, Psychotherapie) stark verbessert haben und psychiatrische Krankenhäuser mittlerweile hochspezialisierte Therapieeinrichtungen sind.

IIVersorgungsstrukturen in der Psychiatrie

K. Paulitsch

1Reformen in der Psychiatrie
1.1Voraussetzungen

Bis in die 60er- und 70er-Jahre des vorigen Jahrhunderts fand psychiatrische Behandlung vorwiegend in Großkrankenhäusern statt. Die psychiatrischen PatientInnen wurden, von körperlich Erkrankten getrennt, in Heil- und Pflegeanstalten untergebracht, die man in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts meist am Rande von Großstädten errichtete. Es handelte sich um mächtige, von Grünanlagen umgebene Gebäude. Die Umgebung soll von überdimensionierten kahlen Krankenzimmern geprägt gewesen sein, von Pflegepersonen, die eher den Charakter von Gefängniswärtern hatten, und von PatientInnen in formloser Anstaltskleidung. Diese verhielten sich ruhig, apathisch oder ängstlich oder zeigten stereotype Bewegungsmuster oder innere Unruhe. Die geografisch großen Distanzen zum Heimatort, die Isolierung und das fehlende psycho- und soziotherapeutische Angebot der Spitäler führten zum Hospitalismus der PatientInnen, mit der Konsequenz, dass lange Krankenhausaufenthalte den Betroffenen mehr Schaden als Nutzen brachten. Eine Rehabilitation konnte in vielen Fällen nicht erreicht werden und die Betroffenen fristeten ein oft jahrzehntelanges Dasein an diesen unansehnlichen Orten. Die psychiatrischen Anstalten entwickelten sich immer mehr zu einem Problem im modernen Sozialstaat. Sowohl MitarbeiterInnen im Gesundheitswesen als auch PatientInnen und deren Angehörige konnten sich glücklich schätzen, wenn sie mit dieser „Psychiatrie“ nicht in Kontakt kamen. All dies führte zu gesundheitspolitschen Überlegungen von PatientInnen- und Angehörigengruppen, PsychiaterInnen, KünstlerInnen, JournalistInnen und PolitikerInnen und in den 1970er-Jahren schließlich zu Reformbewegungen in der Psychiatrie.

Folgende Voraussetzungen lagen vor:

1.Anti-Psychiatrie: In dieser Bewegung, die keine einheitliche war, ging es um eine Erweiterung der bislang praktizierten Psychiatrie. Sie wurde von verschiedenen philosophischen Strömungen, wie Existenzialismus, Strukturalismus und Phänomenologie, mitgetragen. So wurden beispielsweise soziale Ursachen psychischer Störungen in den Vordergrund der Betrachtung gestellt, was als Reaktion auf die von den Nationalsozialisten wieder entdeckte Degenerationslehre und die Eugenik zu verstehen ist. In den Augen der Vertreter der Anti-Psychiatrie wurde die traditionelle Psychiatrie allerdings auch als Ausdruck einer repressiven, „krank machenden Gesellschaft“ gesehen, mit der Aufgabe, abweichendes Verhalten zu sanktionieren oder zu pathologisieren. Krankheitsbilder wie etwa Schizophrenie wurden geleugnet und psychiatrische Diagnosen als Nachteil bringende Etikette betrachtet. Obwohl diese radikalen Ansichten heutzutage kaum mehr vertreten werden, bewirkte die Bewegung, dass viele strukturelle und personelle Verbesserungen vor allem in der Anstaltspsychiatrie durchgesetzt werden konnten und sich eine grundsätzliche Diskussion über den Umgang mit psychiatrischen PatientInnen in Gang setzte.

 

2.Psychopharmaka: Obwohl die Verabreichung von Psychopharmaka – allem voran Neuroleptika (Antipsychotika) – von Anhängern der Anti-Psychiatrie heftig kritisiert wurde, ist es gerade diese Medikamentengruppe, die wesentlich zur Erneuerung der Psychiatrie beigetragen hat. Mit ihrer Einführung in den 1950er-Jahren wurde es möglich, akute schizophrene Episoden zu therapieren und PatientInnen durch Langzeitverordnungen auch außerhalb einer geschlossenen Anstalt zu behandeln.

3.Ökonomische Gründe: Die veralteten Großanstalten mit ihren vielen LangzeitpatientInnen bedeuteten auch in finanzieller Hinsicht ein Problem für den Staat. Radikaler Bettenabbau, kürzere Aufenthaltszeiten und berufliche Wiedereingliederung von PatientInnen sollten sich vorteilhaft auf das Budget des Gesundheitswesens auswirken. Dies überzeugte die PolitikerInnen, einer Reform zuzustimmen, die finanzielle Vorteile brachte.