Tourismus in Wirtschaft, Gesellschaft, Raum und Umwelt

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Polarization Reversal Ansatz von Richardson

Das Konzept des Polarization ReversalPolarization Reversal Ansatz von RICHARDSON (1980) versucht regionale Wachstumstheorien und Polarisationstheoretische Ansätze zu verknüpfen. Ursprünglich am Beispiel der sog. Entwicklungsländer formuliert, geht die grundsätzliche Beobachtung davon aus, dass zu Beginn eines Entwicklungszyklus zunächst Konzentrationsprozesse stattfinden mit der räumlichen Konzentration auf wenige Standorte. Erst wenn Agglomerationsnachteile (z. B. durch eine zu große Nachfrage in Destinationen) auftreten, werden zentrifugale Kräfte wirksam und bislang periphere Standorte von der Entwicklungsdynamik erfasst, bis sich am Ende ein ausgeglichenes Raumgefüge einstellt (vgl. Abb. 129 in Kap. 7.3).

Die Zielsetzung von RICHARDSON war, aufzuzeigen, dass dieser Prozess des Ausgleichs von Polaritäten durch gezieltes staatliches Handeln beeinflusst werden kann. Damit wurde er zu einem der wichtigen Ansätze für den staatlichen Anspruch des Ausgleichs von Disparitäten und der Entwicklung von peripheren Räumen. Mangels anderer ökonomischer Potentiale wird für periphere ländliche Räume oftmals die touristische Inwertsetzung als Option zur Stimulierung der Regionalökonomie angesehen.

Das Grundprinzip der Entwicklung peripherer Regionen durch touristische Investitionen wurde vom VORLAUFER 1996 veranschaulicht (vgl. Abb. 6). In der Anfangsphase (gedacht als erste Hotelinvestition) kommt der Großteil der benötigten Ressourcen für den Bau und Betrieb (von den Lebensmitteln bis hin zu Klimaanlagen und deren Wartung) von außerhalb der Destination (je nach nationalem Entwicklungsstand auch von außerhalb des Landes). Die zunehmende Nachfrage (gedacht als Ausbau der Hotelkapazitäten) führt dazu, dass sich nach und nach Zulieferbetriebe – zunächst für einfachere Leistungen, wie z. B. Lebensmittel und sukzessive auch für höherwertige Bedarfe – in der Destination ansiedeln. In der Folge entsteht eine eigenständige, sich selbst tragende wirtschaftliche Entwicklung von ehemaligen PeripherregionenPeripherregion.

Abb. 6:

Schema der Ausbildung von Linkage-EffektenLinkage Effekte bei der touristischen Erschließung von Peripherregionen (Quelle: eigene Darstellung nach VORLAUFER 1996, S. 166)

Auch wenn es sich hier um ein idealtypisches Schema für den Entwicklungsländertourismus handelt (genauer in Kap. 7.3) das in der Realität auch von weiteren Rahmenbedingungen abhängt, folgen diesen Grundüberlegungen auch viele Ansätze zur Förderung des Tourismus im ländlichen RaumTourismus im ländlichen Raum der Industriestaaten (vgl. z. B. REIN & SCHULER 2012).

Destinationslebenszyklusmodell von Butler

Der britische Tourismusgeograph Richard BUTLER übertrug 1980 ein vorher im Bereich der Industriegüter verwendetes Modell zum Produkt-Lebenszyklus auf die Entwicklung von Destinationen. Ausgangshypothese ist hierbei, dass touristische Regionen – ähnlich wie Industrieprodukte auch – einem regelhaft verlaufenden Innovations-Reife-Niedergang-Zyklus unterliegen. Dabei werden folgende Stufen unterschieden (vgl. auch Abb. 7).

Abb. 7:

Grundprinzip des Destinationslebenszyklus (Quelle: eigene Darstellung nach BUTLER 1980)

1 ErkundungErkundung: In einer ersten Phase wird eine Region nur von einer geringen Zahl von Touristen besucht, die eine Art Pionierfunktion übernehmen und das Gebiet wegen bestimmter Anziehungspunkte aufsuchen. In dieser ersten Phase verfügt das Zielgebiet nur über eine unzureichende, lediglich gering ausgebildete touristische Infrastruktur.

2 ErschließungErschließung: In einer zweiten Phase werden (oftmals motiviert durch die bereits vorhandene Nachfrage) mit der systematischen Schaffung touristischer Infrastruktur die Rahmenbedingungen für die weitere Entwicklung verbessert.

3 EntwicklungEntwicklung: Vergleichbar einer Phase des Take Off, setzt nun eine boomartige Entwicklung ein, die auch von einem verstärkten Engagement externer Investoren gekennzeichnet sein kann. Dabei machen sich gelegentlich auch Anzeichen einer Übernutzung der Ressourcen bemerkbar.

4 KonsolidierungKonsolidierung: Geringer werdende Zuwachsraten, d. h. eine rückläufige Entwicklungsdynamik und wenig neue Impulse, kennzeichnen die Konsolidierung.

5 StagnationStagnation: Sind trotz kleinerer Oszillationen der Nachfrage keine generellen Zuwächse mehr zu verzeichnen, ist die Tourismusregion in die Phase der Stagnation eingetreten. Häufig treten ökologische und soziale Probleme der touristischen Inwertsetzung jetzt stärker in den Vordergrund.

6 ErneuerungErneuerung oder NiedergangNiedergang: Während die Phasen 1 bis 5 empirisch an einer Reihe von Fallbeispielen nachvollzogen werden können, ist bislang noch relativ unklar, welche weitere Entwicklung touristisch intensiv erschlossene Regionen nunmehr nehmen können. Abgesehen von der prinzipiell denkbaren Stagnation auf hohem Niveau, ist eine weitere mögliche Option die Annahme eines Niedergangs und damit des Endes eines Entwicklungszyklus. Als weiteres Szenario sind aber auch die Antizipation des Niedergangs und ein aktives Gegensteuern hin zu einer Erneuerung (Rejuvenation), d. h. dem Einstieg in einen neuen Produkt-Lebenszyklus ohne vorherigen Niedergang, denkbar.

Der wirtschaftliche Ertrag nimmt idealtypisch von Phase 1 bis 4 kontinuierlich zu und bleibt auch in der Phase der Stagnation und sogar des Niedergangs noch auf hohem Niveau. Angesichts einer zufriedenstellenden Ertragslage werden Diversifizierungsanstrengungen zur Einleitung einer Produkterneuerung oftmals erst sehr spät (möglicherweise zu spät) eingeleitet.

Das DestinationslebenszyklusmodellDestinationslebenszyklusmodell von BUTLER hat gleichzeitig auch die Überlegungen zur Tragfähigkeit von Destinationen befördert. Wenn die (natürlichen) Grundlagen bzw. die Tragfähigkeit einer Destination als Y-Achse gedacht werden, kann anhand dieser Überlegungen – um zu vermeiden, dass durch ein Überschreiten der Tragfähigkeitsgrenze bzw. eine Übernutzung der Ressourcen eine Degradation (= Niedergang) ausgelöst wird – auch die Entwicklung entsprechend gesteuert werden.

Gleichzeitig wird die Position eines Produkts oder einer Destination im Lebenszyklus auch als relevante Basis für die Stimulierung von Innovationen zum Antizipieren von Stagnation oder dem Relaunch als Analysemodell eingesetzt (vgl. hierzu auch das Portfoliomodell in Kap 3.2.2).

Abb. 8:

Entwicklung der Zahl der Multiplexkinos in Deutschland von 1990 bis 2005 (Quelle: eigene Darstellung nach FFA div. Jg.)

Fast idealtypisch dem LebenszyklusmodellLebenszyklusmodell folgt die Entwicklung der MultiplexkinosMultiplexkinos in den 1990er Jahren (vgl. Abb. 8). Nachdem 1990 vom amerikanischen Kinokonzern UCI in Hürth bei Köln das erste Multiplexkino Deutschlands eröffnet worden war, ist die zweite Hälfte der 1990er Jahre von einem regelrechten Boom gekennzeichnet, bei dem knapp 150 Multiplexkinos eröffnet worden sind. Bereits nach fünf Boomjahren ist allerdings seit 2000 eine deutliche Marktsättigung zu erkennen, sodass die Zahl der Multiplexe bis heute auf diesem Niveau stagniert (genauer bei FREITAG & KAGERMEIER 2002).

Grenzen des Modells des Destinationslebenszyklus liegen – wie am Beispiel der Multiplexkinos deutlich wird – darin, dass sich in der Anfangsphase weder die Höhe der, sich in der Reifephase einstellenden Nachfrage noch die Zeitspanne ableiten lassen. Ob ein Produkt in einer Destination nur einen kurzen touristischen Hype erfährt und dann nach kurzer Zeit wieder verschwindet, lässt sich mit diesem simplen Modell nicht prognostizieren. Hierzu sind differenzierte Ansätze, auch unter Einbeziehung von nachfrageseitigen Aspekten notwendig, wie sie im nächsten Abschnitt behandelt werden.

1.2.2.2 Nachfragebezogene Konzepte

Entsprechend dem Blickwinkel der Tourismusgeographie sowohl auf die Angebotsseite und deren räumliche Aspekte als auch die, mit den Angeboten im Wechselspiel stehende Nachfrageseite ist dieser Abschnitt einigen ausgewählten Konzepten und Ansätzen zur Analyse der Nachfrageseite gewidmet. Dabei werden behandelt

1 die Bedürfnispyramide nach MASLOW,

2 das Konzept der Lebensstile und

3 die Ansätze zur Erlebnisorientierung.

Die Bedürfnispyramide nach Maslow

Bedürfnispyramide nach MaslowAusgangspunkt des sozialpsychologischen Konzepts der Bedürfnispyramide von MASLOW (1943) ist, dass Bedürfnisse der Ausgangspunkt menschlichen Handelns sind. Dabei gibt es eine klare hierarchische Abfolge von (physiologischen) Grundbedürfnissen, Sicherheitsbedürfnissen, sozialen Bedürfnissen, Wertschätzungsbedürfnissen und Selbstverwirklichungsbedürfnisse (vgl. Abb. 9). Priorität haben die grundlegenden Bedürfnisse. Erst wenn die Subsistenz gesichert ist, wird versucht, höhere Bedürfnisse zu befriedigen.

Abb. 9:

Bedürfnispyramide nach MASLOW und Entsprechungen im Tourismus (Quelle: eigene Darstellung nach MASLOW 1943 & FREYER 2011a, S. 72)

Bei der Übertragung des Konzepts der Bedürfnispyramide auf den Tourismus ist es zwar prinzipiell möglich, auch Reisen zur Befriedigung von Grundbedürfnissen (z. B. Handelsreisen) oder zur Sicherstellung der Sicherheitsbedürfnisse (z. B. Kuraufenthalte zur Wiederherstellung bzw. Erhaltung der Arbeitskraft) anzusprechen. Größere Bedeutung erhält das Konzept aber bei den drei oberen Bedürfnisebenen. Grundprinzip von freizeittouristischen Aktivitäten ist, dass diese erst dann – sei es mit Blick auf die (ökonomische) Entwicklung der Gesellschaft oder der Situation eines Individuums – als Bedürfnisse realisiert werden, wenn die Grund- und Sicherheitsbedürfnisse befriedigt sind. Dabei können die drei oberen Stufen einerseits als Entwicklungspfad von gesellschaftlich verankerten Werten aber auch als individuelle Stufen verstanden werden. Das Reisen zum Pflegen von sozialen Kontakten (sei es zusammen mit anderen oder zum Besuch von Bezugspersonen) ist offensichtlich ein relevantes Reisemotiv. Da Reisen lange Zeit als Privileg von kleineren Gruppen galt und nur für einen – wenn auch im Zeitverlauf zunehmenden – Teil der Bevölkerung erschwinglich war, spielte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das über Reisen vermittelte Renommee oftmals eine Rolle bei der Auswahl von Reisezielen. Reisen in Destinationen mit einem hochwertigen Image als eine Form des demonstrativen Konsums, der dann in der Folge – sei es über den Versand von Postkarten oder das Zeigen von Urlaubsdias im Bekanntenkreis – auch entsprechend kommuniziert wurde, kann als Handeln zum Erlangen von Prestige oder Anerkennung interpretiert werden. Solche Verhaltensmuster spielen wohl auch heute noch eine Rolle beim Posten von Fotos auf Social-Media-Plattformen oder entsprechenden digitalen Reiseberichten.

 

Ende des 20. Jahrhunderts rückt dann das (aktuell) höchste Bedürfnis stärker auch in den Fokus von (freizeit-)touristischen Aktivitäten. Reisen, das nicht mehr primär außenorientierte Motive und Zwecke aufweist, sondern stark auf die Selbstverwirklichung des Individuums orientiert ist, gewinnt in den letzten Jahren mehr und mehr an Bedeutung. Die Angebote von inszenierten Freizeitwelten in den 1990er Jahren können als Antwort auf die Bedürfnisse der als „Spaßgesellschaft“ apostrophierten Phase von touristischen Trends angesehen werden (vgl. ROMEISS-STRACKE 2003). Seit der Jahrtausendwende ist zu beobachten, dass mehr und mehr auf die Persönlichkeit des Reisenden ausgerichtete Angebote an Bedeutung gewinnen (vgl. LEDER 2007). Dieser Trend bedeutet gleichzeitig, dass nicht nur andere Tourismusformen, in denen das persönliche Erlebnis eine neue Bedeutung bekommt (von Wellness- und Wandertourismus bis hin zum Klosterurlaub) an Bedeutung gewinnen. Mit dem Slogan „Destination Ich“ wird ausgedrückt, dass sich auch der Stellenwert der Destinationen verändert. Das früher wichtigere Renommee und Image eines Urlaubsortes oder einer Urlaubsregion zur Vermittlung von Prestige tritt gegenüber den auf die Persönlichkeit des Touristen ausgerichteten Urlaubserlebnissen in den Hintergrund. Damit ergeben sich unter dem Blickwinkel des Destinationsmanagements (vgl. Kap. 4) auch neue Perspektiven für Regionen, die bislang eher als nachrangig eingestuft wurden, wenn es ihnen gelingt, die auf die persönliche Selbstverwirklichung ausgerichteten Bedürfnisse anzusprechen.

Lebensstilansatz zur Zielgruppensegmentierung

LebensstilansatzIm Zuge der Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung der (touristischen) Bedürfnisse kommt auch der ZielgruppensegmentierungZielgruppensegmentierung zur adäquaten zielgruppenspezifischen Adressierung eine zunehmende Bedeutung zu. So lange touristische Orientierungen Teil eines relativ fest gefügten sozialen Kontext waren, bzw. das durch die Reisen vermittelte Prestige eine große Rolle spielte, konnten die Orientierungen relativ leicht aus der sozialen Stellung der potentiellen Reisenden abgeleitet werden. Der Besuch von bestimmten Destinationen hat sich stark danach ausgerichtet, ob sich jemand „etwas leisten konnte“ bzw. welche Destinationen innerhalb der Peer-Group als „In“ und „Chic“ galten. Mit der zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft und dem Zunehmen von auf die Selbstverwirklichung ausgerichteten Reisemotiven hat die Unterscheidungskraft des bis in das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts in den Sozialwissenschaften verwendeten sog. Schichtenmodells (mit der Haupteinteilung in Grund-, Mittel- und Oberschicht) abgenommen.

Während der fordistischen Moderne galt die Zugehörigkeit zu sozialen Klassen oder Schichten als prägendes Moment für die Orientierung von Verhaltensweisen. Mit der zunehmenden Inhomogenität und Auflösung traditioneller Klassen im Übergang zur Postmoderne verlieren diese Konstrukte ihre prägende Funktion für das (Freizeit- und Tourismus-)Verhalten. Analytisch wird versucht, die Heterogenisierung und Individualisierung der Lebens- und Konsummuster mittels sog. Lebensstilgruppen abzubilden.

Der Soziologe HRADIL definiert: „Ein Lebensstil ist […] der regelmäßig wiederkehrende Gesamtzusammenhang der Verhaltensweisen, Interaktionen, Meinungen, Wissensbestände und bewertenden Einstellungen eines Menschen“ (HRADIL 2005, S. 46). Nach BOURDIEU sind Lebensstile Ausdruck einer strukturellen Vielfalt (BOURDIEU 1987), wobei sozio-ökonomische und sozio-kulturelle Aspekte teilweise entkoppelt sind. Dabei wird zwischen ökonomischem, kulturellem (z. B. Bildung, Wissenskompetenz) und sozialem (z. B. Kommunikationsfähigkeit, Zugehörigkeit) Kapital (BOURDIEU 1983) unterschieden. Allerdings sind Lebensstile nicht ganz unabhängig von der materiellen Basis, sondern mit dieser in der Weise rückgekoppelt, dass sie bestimmte Verhaltensdispositionen begünstigt.

Lebensstile können als Grundhaltungen aufgefasst werden, die sich in bestimmten Präferenzen (z.B. konsum- oder freizeitbezogen) niederschlagen. Lebensstile können von anderen abgrenzen oder mit diesen verbinden. Dabei kann ein Lebensstil Ausdruck einer politisch-weltanschaulichen Einstellung sein oder starke Bezüge zu bestimmten Konsummustern aufweisen. Der starke symbolische Gehalt von Lebensstilen hat Rückwirkungen auf die Art der Konsumentenansprache im Rahmen des Marketings, das zielgruppenspezifisch Elemente der Lebensstile aufgreift.

Auch im Urlaub wird nicht mehr quasi automatisch das nachgefragt und konsumiert, was man sich leisten kann. Vielmehr treten individuelle Grundhaltungen als Hintergrundmotive für Konsumpraktiken in den Vordergrund. Dementsprechend gewinnt die Identifizierung von sog. Lebensstilen für die Konsumforschung und auch die Tourismuswissenschaften an Relevanz, um entsprechend konditionierte Angebote entwickeln zu können.

Eine der im deutschsprachigen Raum bekanntesten Einteilungen in Lebensstilgruppen ist die vom Markt- und Sozialforschungsinstitut Sinus entwickelte Einteilung in die sog. „Sinus-MilieusSinus-Milieus“. Auch wenn die traditionelle Schichtendifferenzierung (und damit auch die Kaufkraftunterschiede) in das Lebensstilmodel mit einfließen werden drei Grundorientierungen zur Ausdifferenzierung von sog. „Milieus“ unterschieden:

1 Tradition (mit den Milieus der „Traditionellen“ und der „Konservativ-Etablierten“)

2 Modernisierung/Individualisierung (mit den Milieus der „Prekären“, der „Bürgerlichen Mitte“, dem „Sozial-ökologischen“ und dem „Liberal-Intellektuellen“ Milieu sowie

3 Neuorientierung (mit den „Hedonisten“, den „Adaptiv-Pragmatischen“, den „Expeditiven“ und den „Performern“; Reihenfolge der Milieus jeweils in der Reihenfolge zunehmender Kaufkraft; vgl. Sinus 2014, siehe auch Abb. 131 in Kap. 7.3.1).

Grundprinzip der von Sinus nicht genau offen gelegten Vorgehensweise ist bei allen Einteilungen in Lebensstilgruppen auch eine Berücksichtigung von sog. „Stated Preferences“, d. h. Aussagen der Individuen über Präferenzen hinsichtlich von Werthaltungen oder Verhaltensmustern. Die Erfassung erfolgt meist mit sog. Likert-Skalen, bei denen zu einzelnen Items positiv oder negative formulierte Aussagen zu Konsum- und Freizeitverhaltensmustern bzw. -präferenzen abgefragt werden. Dabei können die Probanden ihre Zustimmung oder Ablehnung in mehreren, vorgegebenen Abstufungen – z. B. von „stimme voll zu“ bis „stimme überhaupt nicht zu“ – angeben. Auf der Basis der Einzelaussagen werden dann mit einer Clusteranalyse Teilstichproben relativ ähnlicher Merkmalsausprägungen zu einstellungs- und verhaltensähnlichen Gruppen abgegrenzt. Die Bezeichnung der Cluster erfolgt anschließend anhand der typischen Merkmalsausprägungen innerhalb der Cluster.

Diese Verfahrensweise erklärt auch, warum die Festlegung von Lebensstilgruppen je nach einbezogenen Variablen und den Parametern der Clusteranalyse so gut wie nie zu identischen Gruppierungen führt. Es zirkuliert daher eine Vielzahl von – oftmals zwar ähnlichen, aber im Detail dann doch etwas unterschiedlichen – Zuordnungen (und auch die von Sinus festgelegten Milieus haben sich im Laufe der Jahre verändert).

Die Relevanz der Einteilung in Milieus oder Lebensstile soll anhand des nachfolgenden Beispiels kurz veranschaulicht werden. Bei einer Befragung zur Freizeitmobilität wurden Freizeitstilgruppen über ein breites Spektrum von Aussagen zu Präferenzmustern der Freizeitgestaltung gebildet (genauer bei GRONAU & KAGERMEIER 2007). Bei einer Gegenüberstellung der unterschiedlichen Freizeitstilgruppen mit der diese bei der Wahl des Verkehrsmittels auf funktionale Aspekte (Sicherheit, Zuverlässigkeit, Preiswürdigkeit) oder spaß-orientierte Aspekte (Freude am Fahren, Autofahren als Selbstzweck) Wert legen, zeigt sich deutlich, dass unterschiedliche Freizeitstilgruppen den funktionalen und den spaß-orientierten Aspekten verschieden großes Gewicht beimessen (vgl. Abb. 10).

Abb. 10:

Spaß- und Funktionsorientierung bei Verkehrsmittelwahl in der Freizeit für unterschiedliche FreizeitstilgruppenFreizeitstilgruppen (Quelle: eigene Darstellung nach GRONAU & KAGERMEIER 2007, S. 129)

Dementsprechend weisen sie auch eine unterschiedliche Affinität zur Inanspruchnahme von relativ umweltverträglichen Verkehrsmittelalternativen auf. Eine solche Analyse im Vorfeld der Einführung von z. B. ÖPNV-Angeboten zur Erschließung einer Freizeiteinrichtung kann mit dazu beitragen, das konkrete Potential genauer einzugrenzen. Vereinfacht ausgedrückt ist es schwieriger, „spaß-orientierte Autofreunde“ für den Besuch einer Motorsportveranstaltung durch ein entsprechendes Zubringerbusangebot anzusprechen als z. B. familienorientierte Besucher eines Freizeitparks.

Die Segmentierung der Lebens- und Konsumstile weist dabei eine gewisse Beliebigkeit auf. Je nachdem, welche Ausgangsparameter in die Clusteranalysen eingespeist und mit welchen Vorgaben diese durchgeführt werden, entstehen teilweise voneinander abweichende Gruppen ähnlicher Ausprägungen, die dann anhand ihrer Gemeinsamkeiten mit schlagkräftigen Bezeichnungen versehen werden. Teilweise entsteht dabei der Eindruck, dass manchmal mehr Kreativität und Energie in die Generierung von Begriffen verwendet wird als in die methodisch sauberere Ermittlung. Ähnlich ist es auch bei der stark umworbenen Gruppe der sog. 50plus-Generation, die als mit so schillernden Metaphern wie Silver Consumer, Best Ager, Generation Gold, Golden Ager oder Master Consumer bezeichnet wird, ohne dass dahinter eine große analytische Substanz steht.