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VI

»Zu Solei und Bulette Gibt’s gleich am Tresen vorn Ganz ohne Etikette ’ne Molle und ’nen Korn. Am Morgen kratzt der Kater, Am Abend tränkst du ihn. Das gibt es nicht am Prater, Das gibt’s nur in Berlin!« Drei Schwestern, »Berlin, Berlin«

In blassblauen Boxershorts und weißem Unterhemd wirkte Wolter verwaschen und schwammig. Er stand in der Stubentür, als ich aus dem Badezimmer kam, und nickte mir verschlafen zu. »Morgen!« Ich hielt ihm wortlos ein Handtuch hin und ging in die Küche, um Kaffee zu brühen. Normalerweise hätte ich mich um diese Zeit stöhnend zur Wand gedreht und gehofft, dort noch ein wenig Schlaf zu finden. Wenn ich meinem Gast nun also auch diese vage Aussicht opfern musste, durfte er keine überschwängliche Begrüßung erwarten. Ich öffnete das Fenster und blies den Rauch meiner ersten Zigarette in das Morgengrauen über dem noch immer makellos weißen Schnee. Die Kälte tat gut und erfrischte die abgestandene Luft in den Zimmern. Langsam sah ich wieder klarer.

An Wolter hingegen schien das Gelage der vergangenen Nacht folgenlos vorübergegangen zu sein. Als er aus dem Bad kam, hatte er mit dem Anzug auch seine Beredsamkeit wieder angelegt. Er umklammerte den Becher mit beiden Händen und pustete ein Loch in die Schicht aus schwarzem Pulver, das ich reichlich bemessen hatte. »Ah, das tut gut! Wissen Sie, Hagen, ich habe nachgedacht. Diese ganze Geschichte mit dem Dorf und den Baggern, mit den Nestflüchtern und Sitzenbleibern … das ist genau das, was wir Werber ein perfektes Branding nennen. Die Story weist über sich selbst hinaus, sie ist leicht zu erzählen und hat eine Moral. Simpel gesagt: Damit die einen in Licht und Wärme leben können, müssen andere Haus und Hof verlassen. Die im Dunkeln sieht man nicht … Das ruft nach Gefühlen, das versteht jeder sofort. Und es passt in unsere Zeit, weil es schlechtes Gewissen weckt – das beste Argument für jeden Verkäufer. Verstehen Sie? Wir trinken Bier, um den Regenwald zu retten, wir vergeuden Benzin auf dem Weg zu Umwelt-Demos, wir trennen Müll und kippen ihn wieder zusammen … lauter gut gemeinte Versuche, uns selbst zu beruhigen!«

Was wollte Wolter von mir? Viel hätte ich in diesem Moment für eine Kopfschmerztablette oder etwas Hochprozentigeres gegeben.

»Im Grunde ist das ein Ablasshandel, von dem alle Seiten gut leben können. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Auch in unserem Fall lässt sich damit ein Geschäft aufziehen. Die Story haben wir schließlich schon, jetzt fehlt uns nur noch das Produkt.« Er zwinkerte mir zu. »Und da kommen Sie ins Spiel. Sie haben es gestern doch selbst gesagt: Veredlung des Einfachen, ein bisschen Alchemie.« Verwundert rieb ich mir die noch immer leicht verklebten Augen. Wolter missverstand die unwillkürliche Geste offenbar als Zeichen meines erwachten Interesses. »Die Eier! Sie können hier vielleicht kein nachhaltiges Gewerbe mehr treiben, aber ein paar Hühner dürfen Sie gewiss noch halten. Und wenn es uns gelingt, die Ware auf den Bartresen von Berlin zu platzieren, haben wir gewonnen.«

War es mein Fehler, dass ich das Ganze für eine ausgesprochene Schnapsidee hielt? Oder wirkte bei ihm der Obstbrand immer noch nach? »Soleier? Als mitternächtlicher Absacker für die bessere Gesellschaft? Absurd!«

»Natürlich klingt das absurd.« Wolter nickte. »Aber gerade darum hat es ja eine Chance. Die Gier nach Neuem ist in der Hauptstadt ein ungeschriebenes Gesetz. Ständig werden Trends gesucht und gesetzt, das Tempo ist atemberaubend, und wer stehen bleibt, fällt zurück. Nehmen Sie zum Beispiel Gin Tonic. Das war vor ein paar Jahren bloß ein Longdrink, mit dem sich gut betuchte Witwen in Straßencafés den Vorabend schön tranken. Inzwischen finden Sie Barkeeper, die erschöpfende Vorträge über die Flavours und Ingredients halten können, während sie den Schnaps über die Eiswürfel fließen lassen und mit der bitteren Limonade auffüllen. Es gibt Gin mit Koriandersamen und Kubebenpfeffer, mit Zimtrinde und Sauerampfer, mit Brennnesseln und Fichtenspitzen. Brennereien aus Bayern und von der Ostseeküste werben wie Winzer mit Kopf- und Körpernoten, als würden sie erste Lagen und große Gewächse anbieten. Dazu der Wettbewerb der Botanicals, bei dem schierer Überfluss mit bewusster Beschränkung konkurriert, was wiederum Rückschlüsse auf die Wesenszüge des Trinkers gestattet – purer Luxus oder Less is more. Und schließlich die Garnitur: Limettenzeste oder Gurkenscheibe, Grapefruit oder grüner Apfel. Von den Tonics ganz zu schweigen, die dem Gin in vollmundig beschriebenen Charakteren längst ebenbürtig sind – mit Chinarinde von argentinischen Bergen oder aus indischen Wäldern, mit Quellwasser aus den Alpen oder aus Lappland. Man kann sich mit den Highballs an einem Abend um die ganze Welt saufen, von Norwegen über Spanien bis nach Südafrika und zurück nach Japan. Aber man kann natürlich auch Urlaub vor der Haustür machen – mit Gins aus Berlin und aus Brandenburg. Wer es mondän mag, wählt die Flasche mit den Flocken aus Blattgold. Wer lieber die Schöpfung retten will, spendet mit jedem Schluck für einen guten Zweck.«

Ich wollte ihn unterbrechen, doch er ließ mich nicht zu Wort kommen. »Woher ich das alles weiß? Ich habe einen alten Freund, der sich selbst Flaschensammler nennt – auch wenn er natürlich nicht im Müll nach altem Glas stochert, sondern im Netz nach neuen Sorten sucht. Der lädt mich gelegentlich zum Tasting ein … dekadent, aber sehr lehrreich. Anyway: Wichtig ist die Story, Hagen! Dazu ein Name, der die Geschichte spannend erzählt. Und den kann man auch für die Eier aus Schwarzmühl erfinden.«

Er hob die Hand und hämmerte mit seinen gekrümmten Fingern eine unsichtbare Schlagzeile in die wirbelnden Rauchschwaden, die von meiner Zigarette über dem Tisch aufstiegen: »The Egg from the Edge!« Wolter sah mich triumphierend an, mir aber hatte es die Sprache verschlagen. »Verstehen Sie denn nicht, Hagen? Sie werden es lieben, all die Influencer und Early Adopters. Genauso, wie sie die Hard Seltzer und Power Bowls geliked haben, bis aus der Behauptung eine echte Bewegung wurde. Wir hatten in der Agentur ein Wandtattoo, das uns den Sinn unserer Arbeit immer wieder vor Augen hielt: ›Die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.‹ Kennen Sie das? Ist von Karl Marx, aber trotzdem gut. Wie, sagten Sie, muss man die Eier einlegen?«

Ich hatte meine Fassung wiedergefunden und räusperte mich: »Nun, man braucht Zwiebeln und Salz, Pfeffer und Senfkörner, Lorbeer und Kümmel. Dann kocht man die Eier zehn Minuten und schlägt ihre Schale leicht an …«

Konrad unterbrach mich. »Das ist doch ein guter Anfang, aber das lässt sich sicher noch verfeinern. Und dann natürlich die Art der Zubereitung. Damit lässt sich hervorragend spielen, weil der Kunde selbst über Basics und Extras entscheiden kann. Auch aus hygienischen Gründen sind die Eier perfekt: Die Schale schützt den harten Kern, eine saubere Angelegenheit – und ein Perfect Pairing für die Hipster, die ihr Craft Beer am liebsten aus der Flasche trinken. Man muss es bloß richtig präsentieren … lassen Sie mich nur machen, Hagen. Sie liefern das Produkt, ich kümmere mich um den Verkauf. Minimaler Wareneinsatz, maximaler Gewinn. Was meinen Sie? Sind wir im Geschäft?«

Schon wieder wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Einerseits klang dieser Plan – falls es denn überhaupt einer war – nach einer ausgemachten Narretei, einem verrückten Schildbürgerstreich. Andererseits war das Risiko relativ gering, die Hühner legten ihre Eier ohnehin, und dem absehbaren Scheitern konnte man aus sicherer Entfernung zuschauen. »Ich will das nicht allein entscheiden, das muss im Rat beschlossen werden.«

Wolter zückte seine Brieftasche und legte eine Visitenkarte auf den Tisch. »Gut, ich verstehe. Überlegen Sie es sich, rufen Sie mich an. Und glauben Sie mir, Sie werden es nicht bereuen.« Dann sah er auf die Uhr und stand auf. »Höchste Zeit! Gelbe Engel darf man nicht warten lassen. Es war mir ein ausgesprochenes Vergnügen, Herr Siegfried! Hoffentlich können wir das bald wiederholen.«

Ich war mir nicht sicher, ob ich diesen Wunsch teilte.

VII

»Wie leer ist das hier. In der Stadt. Und in mir! Wie still sind die nächtlichen Stunden! Kein Mensch ist noch wach. Nirgends Licht unterm Dach. Alles hat längst zur Ruhe gefunden.« Drei Schwestern, »Schlaflied«

Wolter stapfte mit hochgeschlagenem Mantelkragen durch den Schnee davon, ich blickte ihm nach und drückte mir die Handballen auf die pochenden Schläfen. Ein Schnaps würde jetzt helfen, obwohl es eigentlich gegen meine Regeln verstieß, schon so früh am Morgen zu trinken. Ich goss den letzten Rest aus der Flasche in ein Glas und stürzte ihn hinunter, ehe die Schärfe sich im Mund ausbreiten konnte. The Egg from the Edge? Was für ein dubioser, was für ein verrückter Vorschlag! Doch selbst wenn sich dieser begnadete Verkäufer in seinen Visionen total verrannt hatte, konnte ich in dem Wahnsinn Methode erkennen. Was wäre denn gewesen, wenn die letzten Hornoer ihr Obst vermostet und auf Flaschen gezogen hätten? Bagger-Boskop oder Kipper-Kirsche? Warum nicht gleich Abriss-Birne? Das hätte sich bestimmt bestens verkauft, als bittersüßer Protest aus vollreifen Früchten. Und ich hätte natürlich darüber berichtet, anklagend oder werbend – je nach Bedarf, aber selbstverständlich immer originell. Schon schwirrten mir passende Sprachspiele durch den Kopf – von der letzten Lese bis zum finalen Fallobst, vom drohenden Ende der Haltbarkeitsdauer bis zu fehlenden Konservierungsstoffen. Mit solchen Metaphern kannte ich mich aus, auf diesem Terrain konnte mir auch Wolter nicht das Wasser reichen. Aber wäre das weniger zynisch als seine Idee gewesen?

 

Ich spürte, wie mir die angenehme Wärme aus dem Magen allmählich zu Kopf stieg und die Sinne benebelte. Der kurze Moment der absoluten Hellsichtigkeit, für den ich den ersten Schluck so liebte, war vorüber. Vielleicht würde ich mich doch noch einmal hinlegen. Ich hatte ja sonst nichts zu tun.

Zugleich mit dem schläfrigen Blick zur vergilbten Decke des Schlafzimmers schlingerten auch meine Gedanken rückwärts. Was hatte mich nur dazu bewogen, dieses Vermächtnis anzunehmen? Als ich das Anwaltsschreiben im Briefkasten fand, waren nur wenige Wochen vergangen. Die alte Dame sei still und allein gestorben – »friedlich eingeschlafen«, wie mir der Überbringer der Nachricht später in seiner klinisch kühl möblierten Kanzlei versicherte. Da es keine anderen Ansprüche Dritter gäbe, stünde mir der gesamte Besitz der Frau Hanka Reimer, geboren 1936 als Hanka Müller in Schwarzmühl, uneingeschränkt zu. Nach diesem leicht verunglückten Satz schnaufte der korpulente Verwalter des fremden Eigentums vernehmlich und tupfte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. Es war noch immer Sommer und sehr schwül, obwohl ein Ventilator die Luft in diesem Reinraum des Rechts verwirbelte. »Wollen Sie das Erbe annehmen?« Mein Zögern ließ ihn unruhig zappeln, wobei die Uhrkette über seinem Wanst und die Fliege am Kehlkopf bebten. »Haus und Grundstück können Sie natürlich veräußern, Sie kennen die Lage ja. Außerdem ist da noch ein Bankkonto … ein erkleckliches Sümmchen, wenn ich das so sagen darf. Frau Reimer hat ausgesprochen sparsam gelebt. Das Testament hat übrigens einen seltsamen Nachsatz: Die Erblasserin bittet Sie, auf die Lutki aufzupassen.«

Dieser letzte Satz war es, der meine Entscheidung herbeiführte. Wie konnte ich einen solchen letzten Willen ausschlagen? Zwar wusste ich noch immer nicht, wer diese rätselhaften Lutki sein sollten, aber meine Neugier war geweckt. »Ja! Ich akzeptiere! Und ich werde nach Schwarzmühl ziehen.« Der Anwalt sah mich verwundert an, dann nickte er knapp. »Gut. Aber das Dorf steht auf der Kippe. Falls Sie also einmal rechtlichen Beistand brauchen … Sie wissen ja, wo Sie mich finden können. Viel Glück – oder besser: Glück auf!«

Ich reiste mit leichtem Gepäck, meine Wohnung in der Stadt war immer nur ein Stützpunkt gewesen. Zwei Fahrten mit einem Kleintransporter sollten genügen, um Möbel und Bücher in das alte Haus zu bringen. Auf dem Rückweg wollte ich entsorgen, was mir im neuen Heim überflüssig schien: die akkurat gefaltete Wäsche aus dem Kleiderschrank, die Batterie von Einweckgläsern aus dem Keller und das Doppelbett mit den durchgelegenen Matratzen. Einigen Erinnerungsstücken gönnte ich eine Gnadenfrist, über ihr Schicksal sollte erst nach Ablauf der Trauerzeit entschieden werden. Denn traurig war ich tatsächlich – auf eine seltsame, dankbare Weise, die sich mit stiller Heiterkeit mischte. Frau Reimers Ersparnisse würden – zusammen mit meinen eigenen Rücklagen – für eine längere Auszeit genügen, die ich dringend benötigte. Jahrelang war ich Ereignissen hinterhergelaufen und hatte mich durch fremde Leben gegraben, um meine selbst auferlegte und gut bezahlte Chronistenpflicht zu erfüllen. Dabei war ich stets scheinbar bescheiden im Hintergrund geblieben oder hatte mich bestenfalls als »Autor dieser Zeilen« zu erkennen gegeben – eine aufgeschminkte Maske mit eingefrorener Miene, hinter der man sein Gesicht wahren und seine Eitelkeiten verstecken konnte. Für Kommentare und Meinungen mochten andere zuständig sein, ich gefiel mir in der Rolle des Reporters an der Front.

Dafür hatte anfangs schlicht meine Jugend als Voraussetzung genügt: Ich war recht flink und einigermaßen verständig, hatte gerade mein Abitur bestanden und wollte mich noch nicht für ein Studium entscheiden. Also kellnerte ich abends und schrieb am Tag für die Lokalseiten der Neuen Ruhr Nachrichten – ein zielloses Treiben, dem erst der Fall der Mauer seine Richtung gab. Plötzlich wollte jedes Provinzblättchen exklusive Geschichten aus dem fernen Osten drucken, aber kaum jemand der älteren Blattmacher mochte dafür seinen angewärmten Platz in der Redaktion verlassen. Ich stürzte mich in das Abenteuer und fand, aus dem Pott kommend, die besten Geschichten schon bald in mitteldeutschen Revieren. Dass die Arbeit hier noch schwerer und schmutziger, ihr Ertrag geringer und die Technik hoffnungslos veraltet war, las man im tiefen Westen natürlich gern. Und als die Anteilnahme am Schicksal der wiedergewonnenen Brüder und Schwestern allmählich nachließ, weil man die wachsenden Kosten dieser Familienzusammenführung addierte, konnte ich erste Skandale aus diesen neuen Ländern gut verkaufen. Singende Baggerfahrer und alte Seilschaften, gehetzte Ausländer und verschollene Millionen … Mit meinem alten Volvo erregte ich zu dieser Zeit längst kein Aufsehen mehr, bei Presseterminen fuhren die einheimischen Kollegen in glänzenden Karossen vor und schraubten teure Objektive vor ihre Kameras. Mein Vorteil blieb der fremde Blick und der Tonfall, den sie als Betroffene einfach nicht treffen konnten – neugierig staunend und trotz aller Zuneigung immer ein wenig abgewandt. Dass ich so aber auch der alten Heimat abhandengekommen war, bemerkte ich bei seltenen Besuchen: Meine Eltern fragten mich ungeduldig, wann ich mich denn nun endlich an der Universität einschreiben würde, meine alten Freunde kauten die immer gleichen Anekdoten wieder und hörten meinen Geschichten eher reserviert zu. Als sich auch noch Kathrin von mir trennte, weil sie unsere Beziehung nicht länger aus Fernwärme speisen wollte – ein Wort, das sie von mir gelernt hatte –, sah ich keinen Grund mehr, weiterhin in den Westen zu fahren.

Ich nistete mich in meiner Zwei-Zimmer-Platte ein, in der ich die Tapete mühsam vom Beton gekratzt und dabei auf nackter Wand den Vermerk »Nicht zum Wohnungsbau geeignet« entdeckt hatte – eine Warnung, die ich wenig später als Menetekel in einem Artikel über sterbende Neubausiedlungen verwendete. Die Räume meiner Wohnung waren kahl und roh geblieben, ich warf mich in die Pose des unbehausten Einsiedlers, der hinter schlierigem Glas auf die leeren Fenster gegenüber starrte. Mein einziger Luxus in dieser Zeit war eine ständig wachsende Sammlung von Computerspielen, mit denen ich mir die einsamen Abende vertrieb, sobald ich meine Texte an die Redaktion gefaxt hatte. Während draußen vor der Tür die Stadt schrumpfte, türmte ich auf dem Bildschirm futuristische Wolkenkratzer oder trieb als weitsichtiger Staatenlenker längst vergangenen Fortschritt voran – lauter virtuelle Erfolge, die schon bald auf meine Geschichten abfärbten. Immer öfter verglich ich nun wirkliche Entwicklungen mit den komplexen Abläufen in den fiktiven Metropolen, betrachtete die Straßen aus der Vogelperspektive und bevölkerte sie mit winzigen Menschen. Dass ich mir damit den Blickwinkel jener Entscheider zu eigen machte, die tatsächlich am Rechner über die Zukunft der Häuser und ihrer Bewohner bestimmten, brachte mir irgendwann meinen ersten großen Journalistenpreis ein – und wenig später die schriftliche Kündigung meines Pauschalvertrags, die ich einer missgünstigen Intrige gegen den Emporkömmling zuschrieb. Stärker als der Verlust der regelmäßigen Einnahmen aber schmerzte mich, dass ich nun kein »Fester Freier« mehr war – eine Beschreibung, die ich immer als Anspielung auf das Huren-Milieu verstanden hatte, in das entblößte Politiker unsere Zunft gern verwiesen.

Beim Wechsel der Fronten kam mir dann aber doch dieser schlechte Ruf zupass, den ich mir redlich erarbeitet hatte. In der Landespolitik war man offenbar froh, einen missliebigen Beobachter durch Umarmung ausschalten zu können. Dass ich den Job als Pressesprecher im Ministerium zudem dringenden Empfehlungen aus der Wirtschaft zu verdanken hatte, erfuhr ich erst später durch Zufall an einer Hotelbar, als ein betrunkener Referatsleiter seinen Arm um meine Schultern legte und mich mit glasigen Augen anstarrte: »Sehen Sie, Siegfried, am Ende finden doch alle den Weg zu uns – selbst die größten Brunnenvergifter, nicht wahr? Oder glauben Sie etwa, wir hätten Ihnen die Stelle wegen besonderer Eignung angeboten? Sie erfüllen ja nicht mal die Voraussetzungen der Ausschreibung … aber die Vattenfaller hatten noch was gut bei uns! Alles nur eine Frage der Kohle! Verstehen Sie – Kohle?« Sein schmutziges Lachen über den billigen Witz bestärkte mich in meiner Absicht, erneut zu desertieren – sowohl aus dieser Rolle als auch aus der Beziehung, die sich inzwischen eher zufällig ergeben hatte.

Sie hieß Manuela, war Sekretärin in der Energie-Abteilung, alleinerziehend mit dem fünfjährigen Malte und ebenso hübsch wie naiv – blonde Locken und adrettes Kostüm, Zuchtperlenkette über straffen Brüsten. Wir hatten uns auf einem Sommerfest kennengelernt und waren danach in ihrer Wohnung gelandet. Als ich meiner Mutter am Telefon davon erzählt hatte, war ihre Antwort prompt und giftig gekommen. »Bratkartoffelverhältnis, noch dazu mit einem Kuckuckskind. Das hat doch keinen Wert. Werd endlich erwachsen, Junge.«

Ich hatte es ja versucht – morgens mit dem Jungen zur Kita, danach ins Büro, mittags Kantine, abends mit einer Flasche Bier und Schnittchen vor dem Fernseher. Ich hasste diesen Trott inzwischen wie die Krawatten, die mir die Kehle abschnürten, oder die endlosen Sitzungen mit den eitel aufgeblasenen Referenten und dem schlechten Kaffee aus Thermoskannen. Natürlich hätte das ewig so weitergehen können. Den Kleinen mochte ich ja, und Manuela war keine schlechte Liebhaberin. Aber immer häufiger ertappte ich mich bei Fluchtreflexen und beneidete die einstigen Kollegen, deren kritische Fragen ich nun mit dürren Floskeln und windigen Prognosen abspeiste.

Schließlich stellte abermals ein vorsätzlich herbeigeführter Zufall die Weichen: Bei der Fahrt auf eine Kraftwerks-Baustelle wurde die Limousine des Ministers von einer Mahnwache gestoppt, die gegen die drohende Vernichtung von Existenzen durch neue Technologien protestierte. Irgendwie verbreitete sich die Nachricht, dass ich den eigentlich streng vertraulichen Ortstermin an die Gewerkschaft durchgestochen hatte, wie ein Lauffeuer. Ich rechtfertigte mich halbherzig, sprach von ungewolltem Überraschungseffekt und spontan genutztem Gesprächsangebot … doch als ich in einem Artikel auch noch ironisch als »Held der Arbeit« gefeiert wurde, legte man mir eine Versetzung nahe. Ich handelte stattdessen eine Abfindung aus – und stand wieder da, wohin ich eigentlich auch gewollt hatte: am Anfang und auf der Straße.

Dass auch Manuela die politische Affäre als privaten Verrat wertete, weil man im Büro ja von unserem Verhältnis wusste, war mir recht. Den Begriff für meine neue Stellung aber hatte ich von einem der Demonstranten gelernt. Ich war jetzt ein doppelt freier Lohnarbeiter, abgesehen von meinem Computer und meinem Adressbuch besaß ich keine Produktionsmittel, konnte aber meine ganze Leistungskraft meistbietend zu Markte tragen. Wie gut sich diese alte Theorie doch auf die neue Zeit anwenden ließ!

Selbst wenn mir frühere Informanten auf beiden Seiten fortan meist mit Misstrauen begegneten, weil ich im öffentlichen Streit über die Zukunft des Landes als eine Art Doppelagent galt, fasste ich bald wieder Fuß. Ich konnte mir Zeit für ausführliche, sorgfältig recherchierte Geschichten nehmen, die in seriösen Magazinen das Flickwerk aus hektisch zusammengerafften Meldungen ersetzten. Mir blieb Muße für beharrliche Nachfragen und für beiläufige Begegnungen am Wegesrand, die ich zu einem großen Ganzen verwob. Und so war ich schließlich auch nach Schwarzmühl und zu Hanka Reimer gekommen – in der Hoffnung, hier ein paar Sätze, vielleicht sogar einen ganzen Absatz für meine nächsten Nachrichten aus dem Niemandsland zu finden. Dass mich ausgerechnet in diesem schlichten Haus hinter dem verwitterten Gartenzaun die Schwermut übermannen und eine plötzliche Sehnsucht nach einfachem Leben ergreifen würde, hatte ich nicht geahnt. Vielleicht war es eine Art spontaner Auflehnung gegen mein unstetes Dasein, eine trotzige Hoffnung auf Dauer im Angesicht des Flüchtigen …

Das alles hätte ich Wolter in der vergangenen Nacht im Austausch gegen seine Geschichte erzählen können, aber ich bezweifelte, dass er mich verstanden hätte. Ich konnte es mir ja selbst kaum erklären – auch an jenem hellen Herbsttag, an dem ich auf der holprigen Dorfstraße vorfuhr. Ich zögerte kurz, dann stieg ich aus, öffnete die Heckklappe und zog die erste Bücherkiste heran, als ich hinter mir eine seltsam hohe Stimme hörte. »Brauchen Sie Hilfe?« Ich zuckte zusammen und drehte mich um. So lernte ich Liebig kennen.

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