Eiland

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III

»Und immer ist es hektisch, Hier gibt man niemals Ruh, Die Menschen sind elektrisch Und mit der Nacht per du.« Drei Schwestern, »Berlin, Berlin«

»Da muss ich ein wenig ausholen. Geboren im Berliner Westen, dann über die offene Grenze in den Osten abgehauen. Wilde Zeiten waren das, Nächte im Tacheles auf Stühlen aus geklauten Mercedes-Radkappen, Tage auf einer abgewetzten Matratze in der Mainzer Straße. Irgendwann haben mir meine Eltern ein Ultimatum gestellt – Zehlendorf oder Friedrichshain, Lacoste oder Lederjacke. Ich bin zu Kreuze gekrochen, erst nur zum Schein, dann aus wachsender Überzeugung. Als Anwalt wollte ich meine alten autonomen Freunde gegen das System verteidigen, dem Rad der Geschichte in die Speichen greifen … aber als ich mit dem Studium schließlich fertig war, hatte es sich längst weitergedreht. Ich flüchtete mich in eine Agentur – zunächst als Justiziar, später dann als Texter. Denn was ist schließlich ein Plädoyer gegen einen Slogan? Leben im Lift und im Loft, aufwärts immer, abwärts nimmer. Alle machten irgendwas mit Medien, after work traf man sich zur Party … die alten Besetzer, die inzwischen längst Besitzer waren. Verzeihen Sie, wenn das ein bisschen zu sehr nach Klischee klingt, aber genauso ist es gewesen.« Konrad hatte sich in Hitze geredet, er lockerte seine Krawatte und beugte sich vor. »Könnte ich jetzt vielleicht doch eine Zigarette …? In Erinnerung an die alten Zeiten?«

Ich reichte ihm das Etui und gab Feuer. »Irgendwann bin ich dann wieder falsch abgebogen. Es gab keinen Grund, aber immerhin einen Anlass: Angelique, Tänzerin aus Frankreich, die mir bei einem Event in einer malerischen Industrie-Ruine über den Weg lief. Wir hatten den Abend für einen großen Kunden ausgerichtet, buntes Licht auf nackten Ziegelmauern, Cocktails und Canapés, Smooth Jazz und ein paar Testimonials – das gewohnte Programm, natürlich ganz exklusiv. Zwischen den üblichen Verdächtigen, den Windigen und Wichtigen wirkte sie wie ein Fremdkörper, der seinen Platz sucht. Und ich wollte, dass sie ihn bei mir findet – diese dunkle Gazelle, ungezähmt und flink, gelenkig und … aber ich will Sie nicht mit Altherren-Fantasien langweilen. Angelique war nach Berlin gekommen, um als Performerin Karriere zu machen. Ihre makellose Erscheinung erwies sich dabei allerdings eher als Hindernis. Ihr fehlte der Defekt, der Riss in der spiegelglatt polierten Fassade. Brüchig wurde diese perfekte Glasur nur dann, wenn sie nach irgendwelchen Castings schluchzend in meiner Wohnung saß, mit bebenden Schultern und verlaufenem Lidstrich. Schließlich ließ ich mich von ihrer zunehmenden Verzweiflung zu einem Fehler verleiten: Ich wollte sie mit einer eigenen Compagnie zur exquisiten Marke aufbauen, zum neuen strahlenden Star am Himmel über Berlin. Heute weiß ich, dass es kaum eine bessere Methode gibt, um in kurzer Zeit viel Geld zu verbrennen.« Wolter machte eine wegwerfende Handbewegung, bei der die Asche seiner erloschenen Zigarette zu Boden fiel. »Oh, Pardon!«

Er bespeichelte eine Fingerkuppe und versuchte, den grauen Wurm vom Teppich zu tupfen. »Lassen Sie nur. Erzählen Sie weiter!« Ich war ungeduldig.

»Viel mehr bleibt da nicht zu sagen. Man soll sich eben nicht von seinen Gefühlen leiten lassen – selbst dann, wenn sie aufrichtig sind. Ich kündigte meinen Job, wühlte mich Tag und Nacht durch Formulare und Verträge, plauderte auf Premieren und Vernissagen mit Künstlern und Kuratoren. Dass ihr Interesse weniger unseren Konzepten als vielmehr dem Koks und der Kohle galt, begriff ich leider zu spät. Im Grunde habe ich am Ende teuer erkauft, was Angelique aus eigener Kraft nicht erkämpfen konnte. Die miserablen Kritiken für ihre Shows buchte ich unter blanker Missgunst, den Jubel der Claqueure hingegen nahm ich für bare Münze. Denn natürlich fanden wir das Publikum, das wir verdienten – selbstverliebte Szenegänger, die sich vor Vorstellungen mit verlogenem Überschwang begrüßten und danach das vorsätzlich in schäbigem Look belassene Foyer in ihren Catwalk verwandelten. Dass sich auch meine Femme fatale bewusst mit Tänzern umgab, die eher schön als begabt waren, erkannte ich erst, als wir vor leeren Reihen spielten. Die Karawane der Eitlen war bald weitergezogen, echte Kenner der Kunst aber mieden unsere oberflächlichen Shows. Mit schwindender Kraft stemmte ich mich gegen das Unvermeidliche, doch mit meinen letzten Reserven kam mir auch die Liebe abhanden. Angelique kehrte heim nach Paris und ließ mich auf einem Berg von Schulden allein sitzen. Eine Rückkehr in die Agentur wäre mir wie das Eingeständnis meines Versagens erschienen, also beschloss ich, mich abermals neu zu erfinden. Der rettende Einfall kam mir in einer Markthalle: Das Geld liegt auf dem Feld, primitive Ware bringt bei raffiniertem Einsatz den höchsten Gewinn. Seither fahre ich als Stellvertreter für Bio-Bürger über die Dörfer, als Makler des guten Geschmacks und Gewissens. Das Geschäft läuft bestens, vor allem mit alten Sorten, Mangold und Amarant, Violette Möhre und Rote Bete. Die Mangalica-Schweine und Galloway-Rinder natürlich Nose to Tail, Freilandhaltung und Trockenreifung garantiert. Im Grunde bin ich meiner Passion treu geblieben: Ich wecke Sehnsüchte wie einst in der Agentur und bereite ihnen die Bühne wie danach im Theater. Allerdings erzählen nun Obst und Gemüse von Herkunft und Heimat: An der Pastinake soll noch Acker kleben, eine kleine Druckstelle veredelt jede Bratbirne – radikal, regional, saisonal. Der Kunde darf anonym bleiben, die Waren aber haben klingende Namen: Geflammter Kardinal und Rheinischer Krummstiel, Siberian Tiger und Taiwan Teardrop, Bamberger Hörnchen und Rosa Tannenzapfen … pure Poesie, die auf der Zunge zergeht. Und auf keinen Fall die ewig gleichen Farben und Formen, abgewaschen, ausgewogen und eingeschweißt. Jede Frucht ein Einzelstück. Man ist schließlich, was man isst: blassgelb oder dunkelrot, steinschwer oder federleicht! Pro Gramm ist Programm! Anfangs hatte ich meinen eigenen Stand, inzwischen versorge ich nur noch handverlesene Restaurants. Und weil die glühenden Salamander dort auch im Winter heißhungrig sind, stecke ich nun im Schnee. Das ist der Stand der Dinge – mein Leben im Schnelldurchlauf.«

IV

»Wer will hier den Herrscher machen? Wer kann noch für Morgen sorgen? Uns Beladenen und Schwachen Hoffnung auf die Zukunft borgen?« Drei Schwestern, »Bettlers Bankett«

Am Anfang hatte ich ihm noch aufmerksam zugehört, inzwischen aber war mein Interesse erloschen. Mich ärgerte Konrads marktschreierische Eitelkeit, seine allzu genau gesetzten Pointen waren mir suspekt. Er hatte diese Geschichte wohl schon oft erzählt und ihre Wirkung immer weiter verfeinert, nun klangen die schlagfertigen Sätze wie vielfach gedroschene Phrasen. Und gerade weil ich solche Floskeln selbst mühelos beherrschte, wollte ich mich damit nicht abspeisen lassen …

»Aber nun Sie!« Wolters Frage riss mich aus meinen Gedanken. »Sie sind hier doch kein Eingeborener, oder?«

Ich goss uns noch einmal ein, obwohl ich wusste, dass wir das morgen bereuen würden. »Um das zu verstehen, müssen Sie zunächst begreifen, was in Schwarzmühl vor sich geht. Alles hat mit der Kohle zu tun, diesem Fluch und Segen. Als hier vor fast zweieinhalb Jahrhunderten die ersten Flöze gefunden wurden, galt das schwarze Gold den Sorben schon als Geschenk des Teufels. Und wenn man sich heute umsieht, kann man dem kaum widersprechen. Die ganze Gegend ist von der braunen bröseligen Blumenerde abhängig, auf der man hier die Blütenträume von Arbeit und Wohlstand züchtet – weiße Wolkenfahnen über Kühltürmen, nimmersatte Kessel und Turbinen, das Labyrinth der Rohre und Gleise … und natürlich die Maschinengiganten mit ihren kraftstrotzenden Armen und riesigen Zähnen, mit monströsen Schaufelrädern und Eimerketten. Doch diese Bilder kennen Sie ja selbst.« Konrad nickte.

»Ist Ihnen aber auch schon aufgefallen«, fuhr ich fort, »dass hier selbst Ortsnamen nach Pest und Tod klingen? Carna Plumpa, Schwarze Pumpe! Herz der Finsternis! Erst nur ein Gasthof mit einer Pferdetränke, die im Dreißigjährigen Krieg wohl als Warnung vor der Seuche schwarz angestrichen wurde. Dann wachsende Kolonie an einer Reichsstraße – und zuletzt ein Moloch mit Kraftwerken und Kokereien, Brikettfabriken und Gaswerken. Von Tausenden genährt und unersättlich wuchernd wie ein Geschwür, das seine Metastasen tief in die Erde treibt.«

Da war sie wieder, diese Mischung aus Faszination und Entsetzen, mit der ich mir selbst die sattsam bekannten Fakten immer wieder neu in Erinnerung rief. »Und während man auf der einen Seite hastig Wohnsilos hochzog, um den Oger mit Menschenfleisch zu füttern, fraßen sich seine Vasallen andererseits durch die Siedlungen. Dutzende Dörfer wurden ausgelöscht, um die Feuer weiter anzufachen, Sorno und Tornow, Klinge und Scheibe, Groß und Klein Buckow, Groß und Klein Lieskow. Devastierung klingt so klinisch sauber wie die Verödung einer Wunde, meint aber das Gegenteil: Ortsinanspruchnahme, schmerzhaftes Ab- und Aufreißen. Immerhin hat man in sicherer Entfernung manchmal frische Gräber für die Toten ausgehoben und stets neue Wohnungen für die Lebenden gebaut, ehe man die störenden Häuser und Höfe abräumte. Doch Geschichte lässt sich eben nicht so einfach umsiedeln. Hier wird noch immer Vergangenheit verheizt, gehen Lebensläufe von Generationen in Rauch auf. Und der Fortschritt misst sich an der Strecke, die der Vorschnittbagger täglich zurücklegt. Man kann ihn aber auch in Megatonnen aufwiegen.«

»Jetzt werden Sie mal nicht pathetisch.« Wolter blickte mich mit leicht glasigen Augen an, die Worte kamen ihm hörbar schwer über die Lippen. »Wo gehobelt wird, fallen eben Späne. Und schließlich heilt die Zeit doch alle Wunden.«

 

Ich schnaubte verächtlich. »Ja. Einfach einmal umgraben und dann wieder zuschütten, am besten mit Wasser. Von der Schlachteplatte zur Seenplatte, ein Paradies für die Segler aus der Stadt. Auf dem Grund aber liegen die versunkenen Siedlungen wie Vineta vor der Küste – als unsichtbares Zeichen für mangelnde Demut und wachsende Gier. Kennen Sie Horno? Das war mal ein Hort des Widerstands, ein Symbol für den Aufstand der kleinen Leute gegen die großen Mächte. Ein Dorf mit Geschichte, sechseinhalb Jahrhunderte alt, gebaut auf Findlingen und Lehm, mit Anger und Kirche als Mittelpunkt. Halbwegs heile Welt – und plötzlich im Weg. Schon lange vor der Wende hatte man beschlossen, dass die Bagger die kürzeste Strecke durch den Ort nehmen sollten, obwohl sie dabei gar keine Kohle finden würden. Ein Ausweichen wäre zwar möglich gewesen, hätte aber wohl zu viel Zeit und Geld gekostet. Kurzerhand wurde das Gelände zum Schutzgebiet erklärt, allerdings nicht für die Natur, sondern für den Bergbau. Eine einfache Formel: Keine neuen Häuser, keine neuen Menschen. Als der Wind im Land dann drehte, keimte bei den Alteingesessenen Hoffnung – und wurde bitter enttäuscht. Zwar galt Horno nun als Denkmal, aber auch das hielt die Geschichte nicht auf. Versprechen wurden gegeben und gebrochen, man lockte mit fetten Ködern – und jene wenigen, die Heimat noch immer der Entschädigung vorzogen, galten wahlweise als Verräter oder Märtyrer. Der Name des Dorfes ging um die Welt, Inder und Indianer sahen in ihm ein Vorbild für ihren eigenen Kampf gegen Landnahme … doch schließlich wurde Horno aufgelöst, das Ortsschild abgeschraubt. Am Ende gab es nur noch ein altes Paar, das sich weigerte, seine Obstbäume im Stich zu lassen. Wie Philemon und Baucis saßen sie fest verwurzelt auf ihrem Land, während man auf dem Kirchhof schon die Toten ausgrub. Kennen Sie die Stelle in Goethes ›Faust‹?« Ich griff den Band aus dem Regal und schlug ihn dort auf, wo das Lesebändchen die Passage markierte: »›Hat er uns doch angeboten / Schönes Gut im neuen Land! / Traue nicht dem Wasserboden, / Halt auf deiner Höhe stand!‹ Der alte Minister für Bergbau wusste wohl, wovon er sprach. Aber den eigentlichen Sinn für schwarzen Humor offenbarte auch in diesem Fall der Weltgeist selbst. Denn wissen Sie, wie die letzten Hornoer hießen? Domain! Sprechen Sie das mal englisch aus!«

Wolter lachte hell auf. »Kein schlechter Scherz, in der Tat! Aber warum erzählen Sie mir das alles?«

»Haben Sie das noch immer nicht verstanden? Schwarzmühl ist wie Horno, eine kleine Geisterstadt am Ende einer Straße, die gleich hinter dem Ort ins Nichts mündet. Die meisten sind schon fort, nur die Hartnäckigsten klammern sich noch an Hab und Gut. Mit Liebigs Hund sind wir die Glorreichen Sieben, ohne ihn das dreckige halbe Dutzend – ein Häuflein Freischärler im Kampf gegen eine übermächtige Armee. Bei Lichte besehen ist es ein Spiel auf Zeit, das den Preis mit jedem Tag steigert. Auch die Domains haben schließlich in letzter Sekunde einen Vergleich geschlossen, als ihnen die unverstellte Aussicht auf die Bagger die Ausweglosigkeit ihrer Lage vor Augen führte. Aber sie haben sich teuer verkauft. Und wir sind nicht billiger zu haben. Allerdings gibt es ein Problem: Wir können nichts für unsere Zukunft tun, sondern müssen mit dem unaufhaltsamen Verfall leben. Denn wenn wir den Wert der Siedlung steigern, schmälern wir unsere Aussicht auf Erfolg. Die Grundstücke und die Häuser sind längst geschätzt, jede Veränderung zum Besseren ist verboten. Und darauf lauern unsere Feinde ja nur – dass wir ihnen den Beweis für ihre Behauptung liefern, es gehe uns nur um Gewinn. Ich weiß, das klingt verrückt, aber wir sitzen die Gegenwart aus, während uns die angeblich frohe Zukunft belagert – ein klassisches Patt, ein Waffenstillstand von unbestimmter Dauer. Selbst wenn die Tage von Island längst gezählt sein sollten, kennt doch niemand die Stunde der Kapitulation.«

Wolter gähnte. »Absurd! Jedes Ende mit Schrecken wäre doch besser als so ein Schrecken ohne Ende. Und Sie haben Spaß an diesem Manöver?«

Wie sollte ich es ihm verständlich machen? »Ich bin der ultimative Zugezogene, ein finaler Späteinsiedler sozusagen. Das Haus habe ich geerbt – und ich erfülle einen letzten Willen, indem ich es bewohne. Das ist schwer zu begreifen, vor allem so weit nach Mitternacht. Wir reden morgen weiter. Sie können auf dem Sofa schlafen, Decke und Kissen bringe ich gleich. Zum Bad geht es über den Flur, zweite Tür links.«

V

»Die Kostüme sind zerrissen, In Perücken nisten Motten. Die Kulissen – längst verschlissen – Schwanken, wanken und verrotten.« Drei Schwestern, »Bettlers Bankett«

Der Schnaps verweigerte mir in dieser Nacht seinen Dienst, der dringend nötige Schlaf wollte sich nicht einstellen. Stattdessen dämmerte ich mich durch halb vergessene Bilder, die mir mein Gespräch mit Wolter wieder zu Tage gefördert hatte. Ich sah mich an der Abbruchkante stehen, mein Smartphone als Diktiergerät in der Hand, neben mir ein Mann mit Anzug und Bauhelm. Er wies mit großer Geste in die Weite und redete von Ableitungen und Aufforstungen, von kontrollierten Emissionen und neuen Planverfahren. Obwohl die Episode schon einige Zeit zurücklag, hörte ich die Worte noch genau – den nüchternen Ton des Managers, mit dem sich die Begeisterung für das technisch Mögliche und für den eigenen Anteil an dieser Leistung maskierte. Der Botschafter der neuen Eigentümer hatte mit tschechischem Akzent gesprochen, und die historische Volte amüsierte mich nun abermals: Jener Landgewinn, der dem böhmischen General Wallenstein nicht gelingen konnte, nachdem er mit seinen kaiserlichen Truppen an der Schwarzen Pumpe gerastet hatte, war seinen Nachfahren fast vierhundert Jahre später im Handstreich geglückt. Sie hatten das Recht, hier nach Kohle zu schürfen, einfach gekauft – und zwar ausgerechnet von den Schweden, die sich von diesem schmutzigen Geschäft reinwaschen wollten, in das sie selbst erst kurz zuvor eingestiegen waren. Von Vattenfall zu Energetický a Průmyslový – ein einvernehmlicher Handel über Grenzen und Menschen hinweg. Was Gustav Adolf wohl dazu gesagt hätte, der einst im Kampf gegen Wallensteins Truppen fiel – auf einem Feld bei Lützen, unter dem man später auch Kohle fand?

Genau so wollte ich das schreiben, weil man das Fußvolk auch diesmal nicht nach seiner Meinung gefragt hatte. Die Marschrichtung wurde noch immer am Kartentisch beschlossen, der Boden samt seiner Schätze in Verträgen verteilt und zur Plünderung freigegeben. Politik war nur die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, den Preis zahlten hier wie dort die Verlierer. Natürlich würde ich auch ihnen eine Stimme geben, genau genommen die jener alten Frau, die ich an diesem Sommertag kennengelernt hatte. Sie hieß Hanka Reimer, ich hatte sie auf der Fahrt zum Ortstermin in ihrem Vorgarten gesehen, wo sie in einer einfachen Kittelschürze Unkraut zupfte. Eigentlich wollte ich aus dem geöffneten Wagenfenster nur kurz nach dem Weg fragen, aber auf meinen Gruß hatte sie sich ächzend erhoben und war an den Zaun gekommen. »Ganz einfach, junger Mann! Immer geradeaus, die Allee entlang, bis an die Kante. Dahinter geht es steil abwärts – aber keine Angst, die Schlucht ist gut beschrankt! Wenn Sie sich sattgesehen haben, können Sie gern noch mal Halt machen. Es führt ohnehin keine andere Straße zurück. Also bitte wenden!« Ein bitteres Lachen hatte diesen Satz begleitet.

Tatsächlich war ich auf der Rückfahrt noch einmal ausgestiegen und hatte das Grundstück durch die hölzerne Pforte betreten. Das Tor der Scheune hing schief in den Angeln, ihr Dach war an einer Ecke eingestürzt, doch das Haus schien gepflegt und solide. Hinter halb geöffneter Gardine hatte sie mich hereingewunken, nun saßen wir bei Pfefferminztee – »vom eigenen Beet« – und Mohnkuchen – »nach Großmutters Rezept« – in ihrer guten Stube. Frau Reimer wühlte in einem Karton mit Fotos und erzählte aus ihrem Leben – vom langen Fußweg zur Klippschule im Nachbardorf, von der Angst vor den Russen mit ihren Panjewagen und ihren grimmigen Gesichtern, von der Enteignung des Vaters nach dessen Heimkehr aus der Gefangenschaft und von ihren vielen Jahren als Köchin im Chemiekombinat.

Hankas Ehe war kinderlos geblieben, der Mann schon vor Jahren gestorben. Und nun wartete sie in dem Haus, in dem sie das Licht der Welt erblickt hatte, nur noch auf ihren eigenen Tod. Die schwarz-weißen Aufnahmen, die sie neben dem billigen Geschirr mit dem blauen Zwiebelmuster ausbreitete, waren so kostbar und belanglos wie ihr langes Leben: Bilder von Dorffesten und Brigadeausflügen, von der Hochzeit und den immer gleichen Weihnachtsbäumen.

»Das Schlimmste ist«, sagte Frau Reimer, »dass es keinen Erben gibt – und dass sie das hier alles einfach abräumen werden. Dann bleibt nichts, kein Andenken, keine Erinnerung. Und man weiß nicht mal, wo man am Ende begraben liegt.« Ich war unangenehm berührt, die Traurigkeit dieses Augenblicks machte mich stumm. Doch dieses Schweigen deutete die Alte falsch. »Wollen nicht Sie vielleicht … Sie sind mir sehr sympathisch, Herr Siegfried!« Sie legte ihre schwielige Rechte auf meine Hand, in ihren Augen lag ein verdächtiger Schimmer. Jetzt bloß nicht weinen, bitte! Oberstes Gebot: Du sollst dich mit keiner Sache gemein machen, auch wenn es eine gute wäre. Aber Frau Reimer ließ nicht locker: »Wenn Sie hier einziehen, bin ich getröstet. Und die anderen, die Lutki, kriegen Verstärkung. Sie passen perfekt hierher, das spüre ich.«

Ich hätte aus vielen Gründen ablehnen müssen, doch mir wollte in diesem Moment kein einziger einfallen. Vor wenigen Stunden hatte ich noch in den Abgrund geschaut und nach eindringlichen Formeln für treffende Beschreibungen gesucht. Nun sah ich die Träne, die sich den Weg durch die Falten bahnen wollte und mit dem Handrücken verlegen weggewischt wurde. Später könnte ich das Erbe immer noch ausschlagen, für den Augenblick aber fühlte ich mich in die Pflicht genommen: »Also gut!« Hanka seufzte, als wäre ihr eine schwere Last von der Seele genommen. »Sie machen mir eine große Freude – und auch den Lutki!«

Als ich an diesem Nachmittag in die Stadt zurückfuhr, blendete das Licht auf den Solarziegeln der Häuser. Eine sanfte Brise drückte die weißen Schwaden, die von den mächtigen Kegeln in der Ferne aufstiegen, seitlich auf die träge kreisenden Rotorblätter der riesigen Windräder. Alles verströmte Ruhe und sammelte doch unaufhörlich Energie, das ganze Land stand unter Strom. Gleich würde am Horizont wohl jene Riesin mit den nackten Brüsten und dem Bukett aus bunten Luftballons auftauchen, die ich von dem Bild über meinem Schreibtisch kannte.

Die verblichene Kopie des Gemäldes war mir in der Ruine eines früheren Kulturhauses in die Hände gefallen, als ich für einen Artikel über verlorene Orte recherchierte. Dort hatte sie an einer Wand gelehnt, unter schlecht gesprühten Graffiti und im Zwielicht hinter den zersplitterten, notdürftig mit Sperrholz verkleideten Scheiben – eine Göttin, die neben dem Bildnis eines kleinen Jungen im Tierpark und einem züchtigen Liebespaar am Strand auf ihre baldige Verbrennung wartete. Andere Reproduktionen waren den Vandalen bereits zum Opfer gefallen, die Asche und verkohlte Überreste der Rahmen häuften sich auf dem nackten Fußboden. Ich hatte das Bild als Souvenir betrachtet, obwohl ein Etikett auf der Rückseite es eindeutig als Volkseigentum auswies. Aber was sollte das schon für ein Volk sein, das sein Inventar mutwillig in Flammen aufgehen ließ? Die schrecklich schöne Erscheinung über der eintönigen Landschaft war mir damals wie ein perfektes Sinnbild für die übermenschliche Größe der Versprechen erschienen, die man hier gegeben hatte, ohne selbst an sie glauben zu können – eine unerreichbare, stets zurückweichende Freiheitsstatue, deren Fackel längst gegen kindliche Belustigung und ein paar Blümchen ausgetauscht worden war. Nun also fuhr auch ich auf leicht geschwungener Straße an Schildern vorbei, die zu nahe liegenden Orten wiesen. Doch der Himmel über dem Revier blieb leer …