Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 40/41

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6. Begriffstranszendenz durch Konfigurationsbildung

Adorno benutzt zwar den Terminus Konstellationsbildung, für eine sprachtheoretisch-rhetorisch reklamierte Begriffstranszendenz wird hier jedoch der Terminus Konfigurationsbildung gewählt. Figurationsbildung meint jetzt die begrifflichen Konstellationen durch Begriffstranszendenz. Zudem weist der Terminus Konfigurationsbildung nachdrücklich auf »das rhetorische Moment« hin, das Adorno, »entgegen der vulgären Ansicht«, für das dialektische Denken »kritisch zu erretten«71 trachtet.

Wir müssen nicht nochmals im Einzelnen auf die gängigen Lesarten des Konstellationsbegriffs bei Adorno eingehen. Festzuhalten bleibt, dass der Gebrauch dieses Begriffs eine gewisse Bedeutungsinkonsistenz aufweist. Federführend wird er dafür exponiert, dass die begriffliche Konstellation den Erkenntniszugang zum Singulären, zum Besonderen ermöglicht: gleichsam ein Universalschlüssel, besser noch eine »Nummernkombination«72, die »das Spezifische des Gegenstandes [belichtet], das dem klassifikatorischen Verfahren gleichgültig ist«73. Der Konstellationsbegriff fungiert als eine ›repräsentative Modellanordnung‹ für die Sache, die der Begriff zwar meint, die aber erst durch seine Begriffskonstellation erreichbar ist. Nicht umsonst formuliert Adorno, dass die Konstellation »von außen«, dasjenige repräsentiert, »was der Begriff im Innern weggeschnitten hat«74. Die Hypothek, die dieser Konstellationsbegriff auf sich nimmt, besteht darin, dass die Konstellation erkenntnistheoretisch ersetzen soll, was der klassifikatorische Begriff nicht einlöst: Die Besonderheit der Sache, die Singularität des Objekts erfahrbar zu machen.75 Nicht, dass die Sache selbst sich durch die Konstellation direkt abbilden würde – ein Gedanke, den Adorno gänzlich von sich weisen würde. Doch steht die Herstellung einer reflexiven Versuchsanordnung, also die Konstellationsbildung, ganz im Zeichen einer Aufschlüsselung dessen, was die Sache selbst ist. Anders ausgedrückt: Die durch den Begriff verursachte Abspaltung des sinnlich Materiellen soll durch die Konstellationsbildung rückgängig gemacht werden. Die für den Konstellationsbegriff leitenden Topoi sind deshalb auch bezeichnend: ›Vorrang des Objekts‹ und ›materialistischer Erfahrungsbezug‹.

Der Konstellationsbegriff wird somit systematisch und begründungstheoretisch in die vorausgesetzte Dialektik von Subjekt und Objekt zurückgebunden, und zwar so, dass sie erkenntniskritisch die Präsupposition des erkennenden Subjekts zugunsten eines Widerspruchscharakters des Objekts zurücknimmt. Der Konstellationsbegriff ist fundiert in einer rein erkenntnistheoretischen Kritik, die weniger sprachtheoretischer denn bewusstseinstheoretischer Natur ist. Das Begriffstranszendierende, das Nichtidentische oder auch Begriffslose wird als ein eigentlich sprachlich Immanentes, dadurch nicht mehr ausreichend, reklamierbar. Der Konstellationsbegriff wird auf eine reine referentielle Bezugnahme auf ein Erkenntnisobjekt ausgerichtet. Dies heißt aber, dass das Phantasma einer Objektrepräsentation, auch wenn sie nur modellhaft sprachlich sich darstellt, weiterhin gewahrt bleibt; was im Kern einem Repräsentationsdenken folgt. Das Versprechen der Konstellationsbildung lautete: Indem sich das Objekt »einer monadologischen Insistenz« öffnet, besteht »die Möglichkeit zur Versenkung ins Innere«; die jedoch »bedarf des Äußeren«76, also dessen, was durch Begriffe von ihm getrennt wird. Trügerisch ist diese konstellativ verfahrende Objektöffnung allemal, denn sie verlangt ein »Kommunizieren mit dem, wovon der Begriff es trennte«77. Dabei soll doch die Konstellation den »Begriff umkreisen, den er [der theoretische Gedanke, T. J.] öffnen möchte«78. Wenn die Konstellationsbildung nicht an das Objekt adressiert ist, sondern – wie Adorno sagt – einzig »lesbar als Zeichen der Objektivität: des geistigen Gehalts«79, dann erlaubt sie, worin sich der geistige Gehalt von Begriffen austobt: die philosophische Darstellung dessen, was die fixierten Begriffe verflüssigt, worauf sie in ihrem sprachlichem Mehrgehalt anspielen, wenn sie aus ihrem klassifikatorischen Identitätszwang befreit sind.

Der Konstellationsbegriff bei Adorno wird ein anderer, wenn er die konfigurative Kraft entbindet, die den Begriffen innewohnt und die die Begriffe über sich ›hinausgelangen‹ lässt. Diese andere Bestimmung des Konstellationsbegriffs geht einher mit dem, was Adorno in Analogie zum musikalischen Komponieren angeführt hat: Es gewinnt seine Objektivität durch einen musikästhetischen Zusammenhang, in dem einzelne Töne zu einem Gesamtwerk werden. Man muss noch einmal zurückgehen auf das, was Adorno früh schon in seiner Studie zu Kierkegaard als den Grundgedanken der philosophischen Konstellationsbildung vorwegnahm: »Kunstwerke gehorchen nicht der Macht der Allgemeinheit von Ideen. Ihr Zentrum ist das Zeitliche und Besondere, auf welches hin sie als dessen Figur sich ausrichten: was sie mehr bedeuten, bedeuten sie einzig in der Figur«80. Konstellationsbildung muss man in diesem Sinne begreifen: als Figuration, die sich durch sprachkreatives Konfigurieren von Begriffstranszendenzen herausbildet.

Diese etwas andere Bestimmung des Konstellationsbegriffs bei Adorno kann man auch an seiner Adaption des Terminus Konstellation festmachen, wie er von Benjamin in Analogie zur Sternenkunde beschrieben wurde, derzufolge Sternenkonstellationen eine Figuration am Himmel bilden, die als Sternenbilder bezeichnet werden. Diese sind aber Gestaltungen, die mit der Materialität der Sterne und den Prozessen ihrer Kreisbahnen nicht zu identifizieren sind. Als Bilder stellen sie eine konfigurative Anordnung von Einzelsternen da, die niemals durch diese selber erzeugt werden können; erst ihre internen Verweisungsbezüge stiften jenes Sternenbild, das sich als Kompositionsbildung am Himmel sprachlich benennen lässt. Übertragen heißt dies: Konfigurationsbildungen sind herstellbar aus den gegenseitigen Verweisungen von begrifflichen Transzendierungen. Diese stammen aus den semantischen Feldern der einst designativ verwendeten Begriffe. Negativ formuliert lautet dies: Die Begriffe sind nicht mehr die, die sie denotativ bedeuten. Ihre semantischen Transzendierungen verhalten sich zu diesen wie das Andere ihrer selbst. Die Konfigurationsbildung ist dann das Auffinden und Anordnen ihrer internen semantischen Verweisungszusammenhänge, nachdem die Begriffe in ihrer Bedeutung transzendiert worden sind.

Vergleicht man die beiden Bestimmungen des Konstellationsbegriffs bei Adorno, so kann als Fazit gelten: Die erste Bestimmung ist die der konstellativen Anordnung, in der das Denken und die Objekterfahrung in der Art und Weise einer begrifflichen Konstellation ausgedrückt werden. In dieser Konstellation soll die »Spur der Bestimmtheit der Objekte an sich«81 ansichtig werden. Ihre Sachlichkeit bleibt durch das »Einzelmoment in seinem immanenten Zusammenhang mit anderen gewahr[t]«82. Die zweite Bestimmung ist die der begrifflichen Transzendenz, und zwar so: »daß der Begriff den Begriff, das Zurüstende und Abschneidende übersteigen und dadurch ans Begriffslose heranreichen könne«83. Konstellativ wird gebildet, was sich durch begriffliche Transzendierungen als kohärente Figurationen sprachlich-rhetorisch finden bzw. erzeugen lässt. Rhetorisch übersetzt bedeutet dies: ›Inventio‹, also Auffinden, und ›Dispositio‹, also Anordnung, sind gleichermaßen Akte der Konfigurationsbildung. Beide bilden kein Seiendes ab, sondern fügen dem »Rätsel des Seienden«84 eine weitere philosophische, textuelle Deutungsmöglichkeit zu.

Wie ist nun die Konfigurationsbildung im Einzelnen zu verstehen bzw. zu erklären? Zunächst ist der philosophische Begriff von seiner designativen Bezeichnungsfunktion zu lösen. Begriffstheoretisch wird nicht mehr nach dem referentiellen Bezug, sondern einzig nach der möglichen Veränderbarkeit des Verhältnisses von Begriff (zeichentheoretisch: der Signifikant) und seiner Bedeutung (zeichentheoretisch: das Signifikat) gefragt. Die semantische Transzendierung des Begriffs beruht allein darauf, den geläufigen, das heißt denotativen Verweisungszusammenhang zwischen dem Begriff und seiner Inhaltsbedeutung aufzubrechen. Ausgehend davon, dass der Begriff ›mehr‹ bedeutet als das, was für seine eindeutig denotative Bedeutung festgelegt ist, muss folglich nach seiner Mehrdeutigkeit gesucht werden. Die Brücke, um dieser Mehrdeutigkeit habhaft zu werden, besteht in der Möglichkeit, den Begriff ›wie eine Metapher für sein Anderes‹ anzusehen. Dieses Andere ist nach Aristoteles zunächst das Ergebnis einer reinen Übertragung eines Wortes von einer Sache auf eine andere bzw. die Ersetzung oder Substitution eines Wortes durch ein anderes Wort. Wenn man aber die Übertragung nicht nur als eine wörtliche Ersetzung ansieht, erhält die Metapher oder die Metaphorisierung einen alternativen Sinngehalt. Es steht dann nicht semantische Deckungsgleichheit zwischen Originalwort und Ersetzungswort im Vordergrund, also die reine semantische Analogisierung, sondern Übertragung im Sinne von sprachlichen Erweiterungsmöglichkeiten. So betrachtet hat die Metapher die sprachliche Funktion einer semantischen Ausweitung der zugrundeliegenden Lexeme. Auf diese Weise wird das Bedeutungsspektrum des Begriffs aufgefächert, und zwar so, dass ein ›Mehr‹ des ursprünglich denotativ festgelegten Begriffs zur Verfügung steht. Der Prozess der Metaphorisierung eines Begriffes inauguriert also ›neben‹ einer reinen Ersetzung von Begriff zu Begriff zugleich eine Veränderung der Bedeutungsinhalte der zugrundeliegenden Begriffe. Die Begriffe werden auf eine Polysemie ihrer Bedeutungen hin ›geöffnet‹, die die bisherigen Sinngehalte transzendiert.

 

Eine treffende Veranschaulichung für eine metaphorische Überschreitung findet sich bei Adorno selbst. In seinem Text Der Essay als Form heißt es bezüglich der Eigennatur des Essays: »Er verläßt die Heerstraße zu den Ursprüngen«85. Zunächst besteht auf lexikalischer Ebene kein identischer Bedeutungsgehalt. Erst die Metaphorisierung generiert eine wechselseitige Ähnlichkeitsübertragung, die in dem einfachen antonymen Verhältnis zwischen den Lexemen ›Heerstraße‹ und ›Ursprünge‹ so nicht angelegt ist. Nur die metaphorische Übertragung erlaubt eine semantisch aufschlussreiche Konnexion. Die stichwortartige Übersetzung dieser semantischen Konnexion lautet in etwa so: ›Heerstraße‹ ist ein Begriff des Militärs, er steht für ein gewaltsames Vorgehen, das keine Abwege, keine Verzweigungen kennt, sondern Ausdruck eines militär-strategischen Vorwärts-Denkens ist. Die Übertragung auf den Terminus ›Ursprung‹ verändert dessen denotativen Bedeutungsgehalt. Der Begriff ›Ursprung‹ bzw. seine Bedeutung der Ursprünglichkeit verliert seine Positivität; er wird zum Statthalter eines Denkens, das das Gegebene auf eine fixierbare Abkünftigkeit, auf eine genealogische Herkunft festlegt, die wie eine ›Heerstraße‹ jedes Andere, jedes Fremde ausmerzt. Auf diese Weise wird reines Ursprungsdenken semantisch mit der Gewalt militärischen Denkens parallelisiert: Der Weg zu den Ursprüngen gleicht der Kartographie militärischer Schneisen, die man ins Feindesland treibt. Nun kann man fragen, wie Adorno zu einer solchen Metaphorisierung kommt. Den Hintergrund bildet seine Kritik des Identitätsdenkens, denn jede Form des Ursprungsdenken legt fest, fixiert und bindet Seiendes an eine Abkünftigkeit, die nichts öffnet, nichts alternierend denkt und zulässt, hingegen alles gleichschaltet. In der Metaphorisierung werden semantische Potenzen der Begriffe freigesetzt, die in ihrer denotativen Semantik (das heißt der üblichen Sprachbedeutung) nicht zum Tragen kommt. Bezogen auf die konkret genannte Metapher heißt dies: Der Begriff ›Ursprung‹ erhält durch die Bildlichkeit des Begriffs ›Heerstraße‹ ein Surplus inhaltlicher Bestimmung, die geradezu das Negativum zur gewöhnlichen Denotation des Begriffs bildet. Man kann auch im Tenor Adornos sagen, dass die Metaphorisierung ein Moment des Nichtidentischen im Begriff ›Ursprung‹ aufzeigt. Begriffskritisch gewendet heißt dies: Jedem Begriff ist eine tranzendierende Semantisierbarkeit inhärent, die erst mittels der Metaphorisierung des zugrundeliegenden Begriffs zum Ausdruck gelangen kann.

Gleichwohl ist aber deutlich, dass erst durch die Bildung eines Satzes, eines Aussagesatzes, eine Metaphorisierung vollständig wird und nicht etwa durch bloße Wort-durch-Wort-Ersetzungen. Es gilt der Satz von Ricœur, dass »die Metapher als Teil eines Satzes«86 anzusehen ist und nicht als nominales Theorem. Letztlich steht kein Satz in seinem explikativen Sinn für sich; er strebt von sich aus zur Gestaltung eines Textes, dessen semantischen Teilaspekt er vertritt. Von daher kann man folgern, dass die Metaphorisierung eines Begriffs eine vorausweisende Sinnspur für eine Satzaussage produziert, so, wie die Satzaussage das Gleiche für einen Text bewirkt. In dieser einen Sinn produzierenden Transzendierung (›vom Begriff zur Metapher, von der Metapher zum Satz, von diesem zum Text‹) liegt das schöpferische Ingenium der Sprache. Ermöglicht wird dies zuallererst dadurch, dass es auf der Ebene der Begriffstranszendenz zu einer Parallelisierung der jeweiligen Bedeutungsfelder kommt, die den betreffenden Begriffen (hier ›Heerstraße‹ und ›Ursprünge‹) zugehörig sind. Konkret heißt dies: Die semantischen Felder können konfiguriert werden, weil es Bedeutungsähnlichkeiten gibt, die gegenseitig wie wechselseitig aufeinander verweisen, die aber selbst nicht in der semantischen Reichweite der jeweiligen Einzelbegriffe aufzufinden sind. Man kann dies als eine gestiftete Begriffsmimesis ›zwischen‹ Termini bezeichnen.

Für Adorno war die Mimesis, als ein ursprünglich archaisches Überlebensmoment des Menschen, ein rudimentäres Erfahrungsmoment, das sich dem begrifflichen Identifikationszwang entgegenstellt. Die Mimesis bewahrt etwas im Begriff, das ihm fremd ist, das er gleichwohl nicht ganz abstoßen kann: »Nicht anders vermag der Begriff die Sache dessen zu vertreten, was er verdrängte, der Mimesis, als indem er in seinen eigenen Verhaltensweisen etwas von dieser sich zueignet, ohne an sie sich zu verlieren«87. Begriffstheoretisch wird diese Zueignung jetzt nicht mehr – wie bei Adorno – als archaisches Moment einer ersten Rationalisierungsphase des Geistes gegenüber der Angst machenden Natur verstanden. Diese Zueignung soll kein anthropologisches Residuum sein, sondern ein sprachästhetisches Ingenium, das die reine Zeichenhaftigkeit des Begriffs sprachlich verbildlicht, das heißt konfiguriert.

Den Übergang von der Konfiguration begriffstranszendenter Verweisungssemantiken zu einem Text führt nicht über die Metapher allein, denn diese ist bezogen auf die Satzaussage. Was in den vorgenannten Transzendierungsstufen noch fehlt, ist das Zwischenglied, die Allegorie; zumal diejenige Allegorie, die sich zum philosophischen Text ausweitet. Zwar geht die Allegorie aus der Konfiguration von Begriffsmetaphern hervor, zeichnet sich aber dadurch aus, dass sie, ausgehend von der satzförmigen Metaphernfiguration, diese zu einer geistigen Rede bzw. Erzählung transformiert. Anders ausgedrückt: Aus den anfänglich metaphorischen Begriffstranszendenzen wird eine geistige Erzählung generierbar, die sich als eine Sinn konstituierende Form letztlich zu einem Text auslegt. Das angeführte Beispiel ›Heerstraße zu den Ursprüngen‹ kann auf diese Weise zu einer Stiftungsallegorie für einen Text werden, der sich – ausgehend von der metaphorischen Transzendenz beider Begriffe – zu einem Text generiert, der sich über die identitätsfixierende Gewalt des Ursprungsdenken auslässt. Die Referenz dieses Textes wäre nicht mehr die Natürlichkeit eines Ursprünglichkeitsdenkens, sondern dasjenige, was ausgehend von der tradierten Bedeutung des Begriffs ›Ursprung‹ diese alternierend bedeutsam (das heißt negativ-kritisch) transzendiert. Die Herkunft dieser Referenz wäre damit in der sprachlich-rhetorischen Genealogie zu suchen, die Adorno kryptisch so bezeichnet hat: »An ihr [der Negation] ist die Anstrengung, über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen«88. Diese Anstrengung ist das Erfordernis, die Begriffskritik Adornos sprachtheoretisch anzugehen – und nicht etwa mit Kategorien aus der Bewusstseins- oder Subjekt-Objektphilosophie.89

Karlheinz Gradl

Erblickte Versöhnung

Adornos dialektischer Naturbegriff im Hinblick auf Simmel und Lukács

»Denn gerade solches: das Meer und die Blumen, die Alpen und der Sternenhimmel – gerade dieses hat, was man seinen Wert nennen kann, nur an seinen Reflexionen in subjektiven Seelen.«

Georg Simmel

Um den Naturbegriff kreist Adornos Denken von Anfang an. »Das Erlebnis der Natur in eine begriffliche Form zu fassen«1, wird bereits im ersten Abschnitt des Abituriums-Aufsatzes von 1921 als Ziel einer intellektuellen Anstrengung betrachtet, die, über die unmittelbar sinnliche Wahrnehmung hinaus, eine mit dem Erlebnischarakter verbundene, transzendente Dimension von Natur erschließen bzw. ›sichtbar‹ machen soll. Der Schüler Adorno interpretiert Natur emphatisch als den Geschichtsprozess übergreifende Größe, als »Gesamtheit des unbewußten Daseins schlechthin«2. Der Zugang zu dieser der sichtbaren Natur gleichsam unsichtbar eingeschriebenen Dimension eröffnet sich dem betrachtenden Subjekt im Erlebnis der Landschaft, ein Vorgang, der »auf das Ich beschränkt«3 bleibt und die Form einer »reinen Erkenntnis«4 annimmt, die sich in letzter Konsequenz jedoch begrifflicher Erfassung entzieht. Natur tritt hier an die Stelle des Göttlichen, wird zur säkularisierten Kategorie; sie setzt das Ich in Beziehung zu einer »Ganzheit«5, die von der Last, gesellschaftlich bestimmtes Subjekt sein zu müssen, befreit und damit, zumindest für einen zeitlich befristeten Moment, erlöst. Das Erlebnis der Natur, verstanden als betrachtendes Wahrnehmen von Landschaft, ermöglicht es dem Subjekt, so Adornos früheste These, die Welt »im Ich«6 zu gestalten, um auf diesem Weg einen in der Natur als ganzer, in ihrer sichtbaren wie auch unsichtbar-transzendenten Dimension enthaltenen »Sinn des Lebens«7 zu entdecken.

Ein Jahrzehnt zuvor schon hatte Georg Simmel in seinem Essay Zur Ästhetik der Alpen8 das Landschaftserlebnis einer säkularisierten Vorstellung von Erlösung zugeordnet. Simmel deutet die Firnregion des Hochgebirges als Erlösungssymbol, dessen Wahrnehmung dem Betrachter den ›Blick‹ in die transzendente Dimension von Natur als Garant einer letzten, aller Rückbezüglichkeit auf Gesellschaftliches enthobenen Sinnperspektive eröffnet. In der Ästhetischen Theorie schließlich gelangt Adorno – auf der Folie von Lukács’ Theorem von erster und zweiter Natur – zu einem Naturbegriff, der das säkularisierte Erlösungsparadigma Simmels (und das des eigenen frühen Aufsatzes) gewissermaßen absorbiert und über die Kategorie des Scheins zur Konzeption eines im Vorbegrifflichen und Vorästhetischen verankerten, »weder theistisch noch reduktionistisch«9 begründeten Naturalismus führt, der das Subjekt zur letzten Instanz einer alle gesellschaftlichen Antagonismen übergreifenden, Erlösung einschließenden Form von Versöhnung macht.

Simmel: Natur und Erlösung

In seinem Essay Philosophie der Landschaft definiert Georg Simmel Natur als »flutende Einheit des Geschehens«, deren unsichtbar-transzendente Dimension sich dem Subjekt beim Betrachten einer Landschaft als immer von neuem sich herausbildendes »Ganzes«10 erschließt. Dieses spontane, wesentlich von »Stimmung«11 getragene Ganzheitserlebnis deutet Simmel als »Kunstwerk in statu nascendi«12; einer quasi natürlichen, im Subjekt diesem unbewusst verankerten Dynamik folgend, antizipiert es die säkularisierte Vorstellung von Erlösung als Möglichkeit der Befreiung des Ichs von den Antagonismen gesellschaftlich bestimmter Realität in einer anderen, jenseits der sichtbaren gelegenen Welt.

Bereits zwei Jahre vorher hatte Simmel jenen Text vorgelegt, in dem die säkularisierte Erlösungsperspektive auf eine konkrete Landschaft projiziert wird.13 Im Blick auf das firnbedeckte Hochgebirge (der Alpen) erzeugt das Subjekt jenes ›Ganze‹ im Rahmen ästhetischer Wirklichkeitskonstitution und überschreitet es gleichzeitig in einen offenen Horizont hinein. Es ist dabei das »Zeitlose, dem Fluß der Dinge Entrückte«14, das beim Betrachter ein über das Stimmungselement hinausweisendes »Gefühl des Erlöstseins« in einer anderen, künstlerischer Erfassung nicht zugänglichen, »Gegenüber-vom-Leben«15 befindlichen Welt evoziert. Indem das Ich im Blick auf das Hochgebirge ein natürliches Symbol dieser transzendenten Welt erkennt, bildet sich in ihm die Vorstellung (bzw. die »Ahnung«) einer imaginären Grenze, jenseits derer das individuelle, in die Formzwänge der Gesellschaft eingebundene Leben sich »an dem erlöst, was in seine Form nicht mehr eingeht, sondern über ihm und ihm gegenüber ist.«16

 

Diese Erlösungskonzeption beruht auf einem romantischen, auch von Adorno im Abituriums-Aufsatz adaptierten, zweipolig konstruierten Naturbegriff. Einem materiellen, Natur als sichtbares Phänomen kennzeichnenden Pol steht dabei ein von Simmel im Begriff ›Seele‹ erfasster, transzendenter Pol gegenüber, der für jene verborgene Dimension von Natur steht, innerhalb derer Erlösung, verstanden als das Ich-Bewusstsein übersteigende, nicht näher klassifizierbare Form von ›Ganzheit‹, sich ereignet. Die Einheit beider Pole vermittelt sich dem Subjekt in einem vorästhetisch konstituierten, jenes ›Gegenüber-vom-Leben‹ symbolisch repräsentierenden Landschaftsbild, dessen Wahrnehmung die dem gesellschaftlich bestimmten Lebensprozess inhärente Dynamik für einen Moment zum Stillstand bringt und damit jene ›Ganzheit‹ als in einer anderen Welt zu verwirklichende Utopie in Aussicht stellt. Vor dem Hintergrund der epochalen, durch den Ersten Weltkrieg ausgelösten Sinnkrise hat Simmels Schüler Georg Lukács diese idealistisch konzipierte Vorstellung von Natur kritisiert und in ein für Adornos weiteres Denken wegweisendes Theorem umgedeutet.

Lukács: Natur und Sinnverlust

In der Theorie des Romans (1920) bringt Lukács die Sinnkrise seiner Zeit in einen direkten Zusammenhang mit Simmels romantischem Naturbegriff und bestreitet dabei dessen zentrale These einer im landschaftlichen Erscheinungsbild von Natur sich gleichsam offenbarenden, säkularisierten Erlösungsperspektive. Das »moderne sentimentalische Naturgefühl«, zeitgemäßer Ausdruck eines in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem vom Bildungsbürgertum kultivierten Romantizismus, erscheint Lukács nurmehr als idealistisch verbrämte »Projektion des Erlebnisses, daß die selbstgeschaffene Umwelt für den Menschen kein Vaterhaus mehr ist, sondern ein Kerker«17. Die für Simmel zentrale Bedeutung der transzendenten Dimension im subjektiven Natur- bzw. Landschaftserlebnis kann nach der fundamentalen Erschütterung der bürgerlichen Welt durch den Ersten Weltkrieg keinen unmittelbar wirksamen, »das Trostbringende für das reine Gefühl«18 mehr gewährleistenden Sinnzusammenhang hervorbringen. Auch die Kunst, der Simmel immerhin noch eine begrenzt sinnstiftende »Beziehung zwischen Seele und Natur«19 herzustellen zutraute, entbehrt nun, nach Lukács, jeder »sinnerfüllten Symbolik« (und dementsprechend auch jeder Erlösungsqualität), da sie die »Urschrift« einer ersten Natur, die »stumm, sinnfällig und sinnesfremd«20 der gesellschaftlichen Realität gegenübersteht, nicht mehr zu entziffern vermag. Was sich demgegenüber in Simmels Wahrnehmungsperspektive zeigt, ist durchgängig zweite Natur: durch ästhetische Wirklichkeitskonstitution in Schein verwandelter Ausdruck »vermoderter Innerlichkeiten«21. Die im historischen Prozess unkenntlich gewordene Spur einer ersten Natur löst sich demnach im Landschaftserlebnis unmittelbar »in Stimmung auf« – für Lukács Symptom der »Unmöglichkeit, für das konstitutive Subjekt ein angemessenes konstitutives Objekt«22 finden zu können.

Erlösung, verstanden als im Innenraum des Subjekts sich ereignender, Seele (Simmel) und Natur in ganzheitlichen Einklang bringender Vorgang, ist für Lukács somit undenkbar geworden. Die (bürgerliche) Kunst ist nicht mehr in der Lage, dem Subjekt einen sinnhaften Bezug zu dem vermitteln zu können, was im Sinne Simmels als Natur noch zu bezeichnen wäre.23 Angesichts dieses Befundes bleibt nicht einmal die Hoffnung, dass ein transzendenter Restbestand an erster Natur sich denjenigen offenbaren könnte, die es auf sich nehmen, die schwache Spur jener ›Urschrift‹ noch verfolgen zu wollen.24

Adorno I: Naturgeschichte und Schein

In seinem Essay Die Idee der Naturgeschichte nimmt Adorno 1932 diese Spur auf und greift dabei auf Lukács’ Kritik am Naturbegriff Simmels zurück in der Absicht, die von Lukács geforderte Aufrechterhaltung einer für den gesellschaftskritischen Diskurs elementaren »Antithesis von Natur und Geschichte«25 in Frage zu stellen und damit dessen Versuch der Etablierung eines auch für die Kunst zukünftig maßgeblichen, einpolig materialistisch definierten Naturbegriffs entgegenzuwirken. Um sein Konzept der Naturgeschichte im Sinne einer »Rückverwandlung der konkreten Geschichte in dialektische Natur«26 begründen zu können, übernimmt Adorno Lukács’ Theorem von erster und zweiter Natur, um es soweit zu modifizieren, dass die Spur der von Lukács neutralisierten transzendenten Dimension des Simmel’schen Naturbegriffs fast unmerklich wieder erkennbar wird. Alles im Prozess der Geschichte Erzeugte und Entstandene ist demnach zweite Natur, deren Eigenart darin besteht, real und scheinhaft zugleich zu sein. Im Schein verortet Adorno jetzt auch jene von Lukács als verschollen vermutete ›Urschrift‹, deren Lesbarkeit nun wieder in Aussicht gestellt wird, verbunden mit der Hoffnung auf Versöhnung als vom Geschichtsprozess einzulösendes, metaphysisches »Versprechen«27. »Es ist in Wahrheit die zweite Natur die erste«28, diese zentrale Aussage des Essays erfasst ein dialektisch sich entwickelndes, dem Geschichtsprozess inhärentes Spannungsverhältnis zwischen erster und zweiter Natur, das im Kontext soziohistorischer Realität die Einlösung jenes Versprechens, die Zielvorstellung einer Aufhebung aller gesellschaftlich erzeugten Antagonismen im Begriff der Versöhnung, bezeichnet. Die geschichtserzeugende Dynamik dialektischer Natur entfaltet ihre Wirksamkeit demnach im Innenraum des Subjekts, wo sich der Versöhnungsanspruch vor- bzw. unbewusst in der Wahrnehmung ästhetischen Scheins als jenem Phänomen äußert, das dem Subjekt die Ahnung der in zweiter Natur verhüllten ›Wahrheit‹ einer ersten vermittelt.29 Das später in der Dialektik der Aufklärung geforderte »Eingedenken der Natur im Subjekt«30 wird hier schon benannt als von jener Ahnung quasi geleitete, subjektive Entfaltung dialektischer Natur in der Arbeit am Schein. Kontraproduktiv ist diese dort, wo Schein durch instrumentelle Vernunft in eine technisch verfestigte Form der Objektivierung von (zweiter) Natur gezwungen wird und auf gesellschaftlicher Ebene jene »absolute Einsamkeit« der Subjekte zur Folge hat, die auf ein sich abzeichnendes »Ende der bürgerlichen Ära«31 hindeutet; konstruktiv dagegen ereignet sie sich zunächst dort, wo (Gesellschafts-)Kritik als theoretische Arbeit am Schein »die noch nicht vernünftige Vernunft […] zu sich selbst bringen soll«32, vor allem aber dort, wo Kunst (respektive Musik) als authentische, in ihrem Bestreben, den Schein transparent und die ›Urschrift‹ lesbar machen zu wollen, die Grenze des Form- und Sagbaren erreicht und als nunmehr »entmachtete Schönheit«33 den in dialektischer Natur bewahrten Versöhnungsanspruch an das Subjekt zurückgibt, in dessen Innenraum er auf vorästhetischer, vorbegrifflicher und vorsprachlich-vorkommunikativer Ebene gleichsam verharrt. Unmittelbar äußern aber kann er sich – so die unausgesprochene Konsequenz aus der Naturgeschichtskonzeption und ihrer Weiterführung in der Dialektik der Aufklärung – unter den Bedingungen der »verfestigten Herrschaft von Privilegierten«34 und einer in deren Weltbild festgeschriebenen Einheit von Bild und Begriff letztlich nur dort noch, wo im subjektiven Blick auf Landschaft Natur für einen Moment sich scheinlos, als ›Kunstwerk in statu nascendi‹, zeigt.

Adorno II: Natur und Versöhnung

Um der Kunst, dem zwischen subjektivem Bewusstsein und dialektischer Natur sinnvermittelnden Medium, die transzendente Dimension wieder zurückzugewinnen (und sie gleichzeitig vor kulturindustrieller Vereinnahmung zu schützen), trifft Adorno in der Philosophie der neuen Musik von 1949 die Unterscheidung zwischen geschlossenem und offenem bzw. »zerrüttetem«35 (oder auch »fragmentarischem«) Kunstwerk. Während das der klassischen Tradition verpflichtete geschlossene Kunstwerk, wie schon von Lukács beschrieben, auf Bilder und Inhalte der vom Schein geprägten zweiten Natur fixiert ist, gibt demgegenüber das offene »mit seiner Geschlossenheit die Anschaulichkeit preis und den Schein mit dieser.«36 Indem das offene Kunstwerk so das »Nichtabsolute am Widerspruch«37 zwischen im Subjekt verankerter und gleichzeitig im historischen Prozess sich artikulierender dialektischer Natur – die Aufhebung der Antithesis von Natur und Geschichte (Lukács) – auszudrücken versucht, eröffnet es dem Subjekt eine mögliche Perspektive zur Dechiffrierung jener in erster Natur verborgenen ›Urschrift‹, in der sich mehr zeigt als die bildgebundene, vom Schein durchdrungene »zweite, blinde Natur«38 zu zeigen vermag.

In der Ästhetischen Theorie erkennt Adorno die Problematik dieser Perspektive in der unaufhebbaren Trennung der die dialektische Bewegung blockierenden Bezugsebenen von erster und zweiter Natur. Die bilderlose Welt des in der neuen Musik sich manifestierenden offenen Kunstwerks ist scheinlose, jenen in dialektischer Natur verankerten Versöhnungsanspruch nicht mehr mit gesellschaftlicher Realität vermittelnde, hörbar gemachte und gleichzeitig verstummte Utopie; indem die im historischen Prozess sich fortentwickelnde Dynamik von erster und zweiter Natur hier zum Stillstand kommt, regrediert Kunst auf »absolute Negativität«39. Um ihre sinnvermittelnde Funktion aufrecht erhalten zu können, öffnet Adorno sie wieder einem Bereich des Bildlichen, dem jetzt jedoch die in der Negativen Dialektik entwickelte Kategorie des Negativen als quasi unhintergehbares Wesensmerkmal zugeordnet wird. Die »Ahnung« (Simmel) eines in (erster) Natur bewahrten »Ansichseins, das noch gar nicht ist, eines Unbekannten und durchs Subjekt hindurch sich Bestimmenden«40, findet so ihren innersten, subjektbezogenen Ort in einem als negativ ausgewiesenen Bildlichen, dem Kunst dort noch am nächsten kommt, »wo sie Landschaft vergegenwärtigt im Ausdruck ihrer eigenen Negativität«41. Dieses Negative, das für die »ästhetische« Seite des Bilderverbots42 steht, aber zeigt (bzw. offenbart) sich unverstellt und unvermittelt nur noch im subjektiven Blick auf Landschaft, einem Moment erlebter »Ganzheit«, der die begrifflich nicht erfassbare Einheit von erster und zweiter Natur, jenseits des Scheins, als bereits vorästhetisch konstituierte erfasst und in den Horizont einer Zukunft hinein offenhält, in der »subjektiv befreite und metaphysische Erfahrung konvergieren.«43 Adornos dialektisch konzipierter Naturbegriff verweist so in letzter Konsequenz auf einen im Subjekt selbst beheimateten, transzendenten Bezugspunkt, der jenen Ort bezeichnet, an dem subjektive Erfahrung (als radikale Vereinzelung) absolut wird in der Wahrnehmung eines vom Schein zweiter Natur nicht mehr erreichten und deshalb auch künstlerischer Formung letztlich nicht zugänglichen Bildes von Natur.44 Diese Erfahrung aber, die sich auf ein weder spekulativ noch analytisch einzuholendes, »transzendentes Selbstverständnis«45 subjektiven Bewusstseins gründet, schließt die Hoffnung auf Erlösung mit ein; nicht (im Sinne Simmels) als säkularisierte, von der Landschaft symbolisierte, jenseitige; vielmehr in einem ursprünglicheren religiösen Sinn als »ganz ins Auge« gefasste »vollendete Negativität«, aus der heraus die »Risse und Schründe« der Welt, für einen Augenblick erhellt vom »Messianischen Lichte«46, im Subjekt die Vorstellung von der Verwirklichung der »Idee eines Zustandes, der der Dialektik nicht mehr bedarf«47, zur Gewissheit werden lassen.

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