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1.3.2Biografien von jungen Menschen im Übergang

Verschiedene Studien liefern uns Erkenntnisse darüber, wie die Situation an der «ersten Schwelle» von jungen Menschen erlebt und bewältigt wird und welche Faktoren dabei mitbestimmend sind. Am Ende dieses Kapitels ist dokumentiert, wie Anna, die junge Frau, die wir in diesem Buch auf ihrem «Weg des Lernens» begleiten, diesen Übergang erlebt hat. Aus einzelnen Studien, wie beispielweise den Forschungsprojekten «Berufswahlprozess bei Jugendlichen» (Herzog, Neuenschwander & Wannack, 2004, 2006) und «Familie-Schule-Beruf (FASE B)» (Neuenschwander et al., 2012) oder aus dem Kinder- und Jugendsurvey «COCON Competence and Context» (Bayard Walpen, 2013), liegen sprachregionale Längsschnittdaten über Bildungsverläufe von Heranwachsenden aus der Schweiz vor, die Berufswahlprozess, Lebensverhältnisse und psychosoziale Entwicklung untersuchen. Die Erkenntnisse aus diesen Studien unterstützen uns dabei, die Lernenden zu verstehen, wenn sie in die berufliche Ausbildung eingetreten sind, und sind deshalb wichtig für die Phase der Früherfassung, wie wir sie in → Kapitel 2 beschreiben.

Das im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Bildung und Beschäftigung» (NFP43) durchgeführte Forschungsprojekt «Berufswahlprozess bei Jugendlichen» begleitete 1440 Jugendliche aus den Kantonen Basel-Landschaft, Bern, Luzern und Solothurn von 2000 bis 2002 über drei Messzeitpunkte hinweg in ihrem Berufswahlprozess.

Das Forschungsprojekt «Familie-Schule-Beruf (FASE B)» untersuchte von 2002 bis 2008 die Bildungsverläufe von 1153 Jugendlichen aus den Kantonen Bern, Zürich und Aargau. Zum ersten Erhebungszeitpunkt befanden sich die Schülerinnen und Schüler in der sechsten und achten Klasse der Sekundarstufe I, der vierte Erhebungszeitpunkt fokussierte das Ende der nachobligatorischen Ausbildung und den Übertritt ins Erwerbsleben.

Der Kinder- und Jugendsurvey «COCON Competence and Context», gestartet im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Kindheit, Jugend und Generationenbeziehungen im gesellschaftlichen Wandel» (NFP52), erforscht die Wechselwirkungen zwischen sozialem Umfeld, individueller Kompetenzentwicklung und Bewältigung von wichtigen Übergängen aus einer Lebenslaufperspektive. Seit 2006 bis voraussichtlich 2016 werden 3000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene aus einzelnen Kantonen der deutsch- und französischsprachigen Schweiz in insgesamt neun Erhebungswellen befragt.

In den folgenden Abschnitten werden ausgewählte Erkenntnisse aus den drei Studien vorgestellt.

1.3.3Sechs-Phasen-Modell der Berufsorientierung

Das Sechs-Phasen-Modell nach Herzog, Neuenschwander und Wannack (2004, 2006) unterscheidet sechs idealtypische Phasen der Berufswahl, die sich jeweils durch besondere Entscheidungen voneinander abgrenzen (vgl. Abb. 1-7).

Nach einer ersten Phase der diffusen Berufsorientierung, bei der Jugendliche noch keine konkreten Berufswünsche haben, folgt eine Phase der Konkretisierung der Berufsorientierung. Hier werden konkrete Vorstellungen entwickelt und Entscheidungen zur nachobligatorischen Ausbildung getroffen. In einer dritten Phase geht es darum, die Suche nach einem Ausbildungsplatz aufzunehmen. Wenn ein solcher Platz gefunden und, im Falle einer beruflichen Grundbildung, ein Lehrvertrag abgeschlossen ist, folgt in einer vierten Phase die Konsolidierung der Berufswahl. In dieser Phase wird die Entscheidung für einen Beruf entweder verfestigt oder aufgrund von Erfahrungen verändert. Auf diese Phase, in der sich die Lernenden zu Beginn der Berufsausbildung befinden, werden wir in → Kapitel 2.1 noch etwas näher eingehen. Die fünfte Phase, die eigentliche Berufsausbildung, umfasst den Verlauf einer schulischen oder beruflichen Ausbildung. Phase 6, Eintritt ins Erwerbsleben, beschreibt die Integration in den Arbeitsmarkt.


Abbildung 1-7

Phasen der Berufswahl (Herzog, Neuenschwander & Wannack, 2006, S. 41)

Die Ergebnisse der Studie «Berufswahlprozess bei Jugendlichen» zeigen auf der Grundlage des Sechs-Phasen-Modells auf, dass Jugendliche versuchen, einen Beruf ihrer Wahl zu erlernen. Sie bemühen sich aktiv um ihre Berufswahl und beschaffen sich die dafür nötigen Informationen. Sie sind dabei jedoch je nach Schultyp und -niveau bestimmten Einschränkungen ausgesetzt. Vor allem für Schülerinnen und Schüler aus Klassen mit Grundansprüchen ist die Auswahl bei der Suche nach einer Lehrstelle begrenzt (→ Abschnitte 1.1.1 und 1.1.2), sodass viele nach Ablauf der obligatorischen Schulzeit ein Brückenangebot als Zwischenlösung anvisieren.

Neuenschwander, seine beiden Mitautorinnen und sein Mitautor konnten im Rahmen ihrer Längsschnittstudie «Familie-Schule-Beruf (FASE B)» vier Entscheidungsmuster der Jugendlichen beim Entscheid für einen nachobligatorischen Ausbildungsplatz feststellen (Neuenschwander et al., 2012, S. 170 f.):

Traumberuf – Die Frühentschiedenen

Diese wenigen Jugendlichen favorisieren sehr früh einen Beruf, fokussieren ihre Interessen entsprechend und planen ihre Ausbildung so, dass sie ihren Berufswunsch realisieren können.

Rationales Abwägen

Die Entscheidung erfolgt aufgrund eines Abwägungsprozesses, in den verschiedene subjektiv bedeutsame Faktoren miteinbezogen werden, wie eigene Fähigkeiten und Interessen, Attribute des Berufes wie Kompetenzprofil, Präferenz für ein bestimmtes Arbeitsmaterial oder bestimmte «Arbeitsobjekte» wie Kunden, Kinder, Team-/ oder Einzelarbeit usw. Im Weiteren können Arbeitsmarktchancen, der erwartete Lohn, das Berufsprestige, die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit oder zur Vereinbarkeit von Berufsarbeit mit Kinderbetreuung eine Rolle spielen.

Spontanes Entscheiden aufgrund positiver Erlebnisse und Rückmeldungen

Die Entscheidung dieser Jugendlichen gründet nicht auf sorgfältigem rationalem Abwägen, sondern auf positiven Erfahrungen oder anderen Formen der Belohnung, die bei Betriebsbesichtigungen oder Schnupperlehren erlebt werden. Obschon dieses gefühlsmässige Vorgehen die Entscheidungsqualität nicht notwendigerweise beeinträchtigen muss, besteht doch das Risiko, dass die Erfahrungen während der Kurzaufenthalte im Betrieb sich längerfristig als nicht nachhaltig erweisen können.

Die Spätentschlossenen

Diese Jugendlichen können sich während der obligatorischen Schulzeit nicht für einen Beruf entscheiden und wählen eine allgemeinbildende, schulische Anschlusslösung oder ein Brückenangebot.

Gesamthaft gesehen, scheint also der Spielraum der Jugendlichen bei der Berufswahl erheblich zu sein. Gleichzeitig stellen sich den Jugendlichen in diesem Prozess aber vier grosse Herausforderungen (Neuenschwander et al., 2012, S. 58 f.). Sie müssen:

1.das Tempo ihres individuellen Berufswahlprozesses mit dem institutionell festgelegten Übergangszeitpunkt am Ende des neunten Schuljahres vereinbaren (Timing);

2.ihre Entscheidung bei unvollständiger Informationslage treffen (kein vollständiger Überblick über das vielfältige Berufsangebot ist möglich, nicht alle Optionen und Ausbildungsmöglichkeiten lassen sich gründlich abklären, die Selbstkonzepte an Fähigkeiten und Interessen sind oft noch wenig ausgebildet usw.);

3.ihre Wahl innerhalb der institutionellen Restriktionen treffen (Lehrstellenzahl, Lehrstellenangebot, Anforderungen an den Schulabschluss auf Sekundarstufe I, usw.);

4.Unsicherheit und Angst meistern, die durch den Übergangsprozess ausgelöst werden können (neue Lebensumgebung im Lehrbetrieb mit der Notwendigkeit, neue Personen kennenzulernen, neuer Tagesrhythmus, erhöhte Leistungsanforderungen, evtl. Verlust von bisherigen Freundschaften usw.).

Weiter zeigt die Studie auf, dass der Übergang zwar von einem grösseren Teil der Jugendlichen erfolgreich gemeistert wird und sie mit ihrer beruflichen Lösung zufrieden sind, dass aber für einen Teil der Jugendlichen, wie schon dargelegt, der Spielraum bei der Berufswahl doch stark eingeschränkt ist. Diese Einschränkung ist vor allem auf drei Gründe zurückzuführen (vgl. auch → Abschnitt 1.1.2):

1.Berufe mit höheren Anforderungen sind für junge Menschen, welche die obligatorische Schulzeit lediglich mit den Grundanforderungen oder mit reduzierten Leistungszielen abschliessen, vorerst nicht zugänglich.

2.Wer – aus welchen Gründen auch immer – die letzten Schuljahre auf der Sekundarstufe I unregelmässig besuchte und sich nicht über genügende Sozial-, Selbst- und Methodenkompetenzen ausweisen kann, hat bei der Vergabe der Lehrstellen wenig günstige Voraussetzungen.

3.Jugendliche, die im Berufswahlprozess über wenig Ressourcen ( Familie, Schule, Gleichaltrige, professionelle Ressourcen) verfügen oder die vorhandenen Ressourcen nicht zu nutzen wissen, sind im Vergleich zu Gleichaltrigen mit vielen Ressourcen benachteiligt.

Die bedeutende Rolle, die Eltern, Lehrpersonen und Freundeskreis beim Übergang an der «ersten Schwelle» spielen, werden auch von den Ergebnissen aus dem Kinder- und Jugendsurvey COCON bestätigt (Bayard Walpen, 2013, S. 102 ff.).

1.3.4Erfolgreiche Bewältigung des Übergangs von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II
Die Theorie der Passung

Gemäss Eccles (2004) sprechen wir von einem erfolgreichen Übergang, wenn zwischen dem Entwicklungsstand der Jugendlichen und ihrer Ausbildungsumwelt Passung besteht, wenn also die Fähigkeiten und Interessen der jungen Menschen mit den Gegebenheiten ihrer Ausbildungsorte korrespondieren (Neuenschwander, 2011). Gemäss Neuenschwander und seinem Team (2012, S. 145) unterstützen beim Übergang an der «ersten Schwelle» drei Massnahmen eine gute Passung:

 

1.die Entwicklung vielfältiger Angebote für verschiedene Bedürfnisse;

2.eine Organisation der Lernorte, die so gestaltet ist, dass die Befriedigung alterstypischer Bedürfnisse zugelassen wird;

3.eine Lehrlingsselektion, die darauf ausgerichtet ist, dass Jugendliche die Ausbildungsanforderungen erfüllen und mit hoher Wahrscheinlichkeit die Ausbildungsziele erreichen werden.

Eine hohe Passungswahrnehmung durch die Jugendlichen weist aber nicht nur auf einen gelungenen Einstieg in eine nachobligatorische Ausbildung hin, sondern gilt im dualen bzw. trialen Berufsbildungssystem auch als Prädiktor für Ausbildungserfolg sowie als Indikator für die Qualität der betrieblichen Ausbildung. Dies bestätigen Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt «Familie-Schule-Beruf (FASE B)» (Neuenschwander, 2011). Eine gute Passung zwischen lernender Person und ihren Lernorten ist demnach eine wichtige Grundbedingung für einen erfolgreichen Ausbildungsverlauf.

Die Anpassungsleistungen von Jugendlichen

Durch den Eintritt in eine berufliche Grundbildung verändern sich für die Mehrheit der Lernenden die sozialen Kontexte (Neuenschwander, 2012). Wenn sich die Jugendlichen bisher vor allem zwischen den beiden Kontexten Schule und Familie bewegten, kommt neu der Lernort Betrieb (und in sporadischen Abständen der dritte Lernort, die überbetrieblichen Kurse) hinzu. Die Übergänge zwischen den einzelnen sozialen Kontexten werden dadurch vielfältiger. Dies erfordert von den Jugendlichen erhöhte Anpassungsleistungen an das jeweilige Umfeld. Diese Anpassungsleistungen betreffen einerseits die verschiedenen sozialen Bezugsgruppen: So werden die Lernenden im Lehrbetrieb nun mit Mitarbeitenden, Vorgesetzten und vielleicht auch Kundinnen oder Klienten konfrontiert, während sie sich in Berufsfachschule und überbetrieblichen Kursen in neuen Klassen- und Gruppenkonstellationen wiederfinden.

Andererseits haben sich auch die strukturellen Bedingungen für ihr Lernen verändert: In der Regel befinden sie sich nur noch einmal pro Woche in einem schulischen Lernsetting, während ihre Lernumgebung für die restlichen Tage der Woche der Lehrbetrieb ist. Dies erfordert hohe Anpassungsleistungen im Lernverhalten. Lernende müssen beispielsweise das an einem Lernort erworbene Wissen und Können auf die anderen Lernorte transferieren. Sie müssen zudem ihre zeitliche Planung des Lernens neu organisieren.

Last but not least werden die Lernenden durch die Arbeit im Lehrbetrieb erstmals direkt mit den Werten und Normen der Arbeitswelt konfrontiert; auch hier gilt es, Anpassungsleistungen zu erbringen.

1.4Ausblick

Wie wir in diesem Kapitel gezeigt haben, befinden sich junge Menschen am Anfang ihrer beruflichen Ausbildung in einer für sie neuen, komplexen Situation, die mit vielfältigen Herausforderungen und Anpassungsleistungen auf verschiedenen Ebenen verbunden ist. So sind sie:

•in ihrer Berufswahl bestimmten Restriktionen ausgesetzt, dies sowohl auf institutioneller Ebene (hierarchisch gegliederte Sekundarstufe I, Lehrstellenangebot, Selektionsprozesse der Lehrbetriebe) als auch auf der Ebene der Person und des persönlichen Umfeldes (individuelle Voraussetzungen und Interessen, zur Verfügung stehende soziale Ressourcen);

•konfrontiert mit zahlreichen Veränderungen und Neuorientierungen, dies sowohl auf intrapersonaler Ebene (Suche nach der eigenen Identität und Autonomie) als auch auf der Ebene der Lern- und Arbeitsumgebung (Anpassung an eine neue Ausbildungssituation mit verschiedenen Lernorten und neuen Bezugsgruppen).

Damit Lernende ihre Ausbildung nicht nur mit Elan und Neugierde beginnen, sondern auch mit Motivation und Freude weiterverfolgen und mit Erfolg abschliessen können, ist es wichtig, dass die Ausbildungsverantwortlichen aller Lernorte – nicht nur, aber besonders während der ersten Ausbildungsmonate – die Lernenden aufmerksam und sorgfältig beobachten und begleiten und ihre Erfahrungen mit den Berufsbildnerinnen und Berufsbildnern der anderen Lernorte austauschen. Empfehlungen, wie dies konkret angegangen werden kann, finden sich in → Kapitel 2 des vorliegenden Buches.

Anna – Erinnerungen an die Schulzeit

Meine Schulzeit von der zweiten bis zur vierten Klasse verlief sehr gut. Aber schon in der ersten Klasse merkte man bei mir, dass ich eine Schwäche in Mathe hatte. Ich verstand nicht, warum ich farbige Holzstäbe brauchen musste, um zu rechnen. Ich baute mit den Holzstäben lieber einen schönen, farbigen Turm. So kam es, dass ich die erste Klasse wiederholen musste. Darüber bin ich nicht böse, sondern dankbar dafür. Die neue Klasse akzeptierte mich, und die neue Lehrerin unterstützte mich auch. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass ich, bevor ich in die Schule kam, auch Mühe zu sprechen hatte. Ich hatte einen Sprachfehler, und das musste ich bei einem Nachhilfelehrer wieder in Ordnung bringen.

Zurück zur Schule. Ich fühlte mich wohl in meiner Klasse. Doch die Matheschwäche kam immer mehr zum Vorschein. Man schickte mich in die Nachhilfe. Als ich in die fünfte und sechste Klasse kam, ging es ziemlich bergab. Der Lehrer, den wir hatten, war altmodisch. Bei Fehlern musste man aufstehen und die richtige Lösung sagen. Wenn sie falsch war, stand man halt länger vor der Klasse und wusste, alle warten und schauen einen an. (…) Ich weinte viel, und einmal meinte er, es seien ja nur Krokodilstränen.

Einmal musste ich vor der ganzen Klasse aufstehen, weil ich wieder mal nichts verstanden hatte. Der Lehrer schaute mich an und fragte: «Anna, bist du eigentlich blöd?» Ich wusste nicht, was ich auf so eine Frage antworten sollte. Ich sagte nur: «Ich weiss nöd?», und setzte mich wieder hin.

Diese Geschichte schrieb sich Anna während einer Lernberatungssitzung von der Seele – fast ohne Atem zu holen. Die Überzeugung, sie könne nicht rechnen, hatte sich bei ihr also sehr früh festgesetzt und begleitete sie während ihrer restlichen Schulzeit bis in die Ausbildung zur Innendekorationsnäherin. In der Schule hatte sie kaum die Erfahrung gemacht, beim Rechnen selbst etwas bewirken und Lösungen finden zu können, entsprechend gering ausgebildet war ihr Gefühl der Selbstwirksamkeit in Mathe.

Im Interview sagte Anna rückblickend:

Ich habe ziemlich darunter gelitten, weil mich mein Lehrer oft blossgestellt hat. Das hatte zur Folge, dass ich mir gar nichts mehr zutraute und ich auch nicht mehr rechnen wollte. Trotzdem musste ich den Nachhilfeunterricht im Rechnen besuchen.

Das war dann auch der Grund, dass ich einen Beruf suchte, der nichts mit Mathematik zu tun hat, sondern in dem ich eher kreativ sein konnte – Hauptsache: mit wenig Mathe. Aufgrund meiner Matheschwäche, aber auch, weil ich grundsätzlich Schwierigkeiten hatte mit Lernen – alles in den Kopf reinzubringen –, besuchte ich die Realschule und nicht die Sekundarschule. Ich hatte einfach eine Lernschwäche.

Mein grösster Berufswunsch war, Floristin zu werden. Ich habe viel geschnuppert und gesehen, dass Mathe an letzter Stelle kommt. In der Zwischenzeit weiss ich allerdings, auch eine Floristin muss rechnen können. Floristin war ein begehrter Beruf, und aufgrund meiner Schüchternheit brauchte ich lange, bis ich mich überhaupt um Schnupperstellen bewarb. Ich hatte einfach Angst, mit fremden Leuten zu telefonieren. In der Schule machte die Lehrerin Druck auf uns, machte uns Angst, dass wir nichts finden würden und dann auf der Strasse stünden. Dieser Druck war für uns alle belastend, weil wir ja genau davor, keine Ausbildungsstelle zu finden, Angst hatten. Das machte mich traurig. Als ich dann dank der Unterstützung meiner Eltern doch endlich den Mut zum Telefonieren fand und in verschiedenen Betrieben schnuppern konnte, waren die Lehrstellen schon vergeben. Also musste ich etwas anderes suchen.

Ich hätte damals eine Person gebraucht, die einfühlsam ist, die mir Mut gemacht hätte, statt Angst eingeflösst, eine Person, mit der ich meine Sorgen und Probleme hätte besprechen können, die mich verstanden hätte.

Als Zwischenlösung absolvierte ich ein Sozialjahr und lernte dabei viel fürs Leben. Gleichzeitig musste ich eine zweite Chance suchen und ging ins BIZ. Dabei entschied ich mich für den Beruf der Innendekorationsnäherin. Ich bekam auch sehr schnell eine Chance zu schnuppern und erhielt die Lehrstelle.

Ich war sehr glücklich da, ich habe gerne genäht.

Annas Geschichte zeigt, wie anspruchsvoll der Prozess der Berufswahl und der Lehrstellensuche für Schülerinnen und Schüler aus Klassen der Sekundarstufe I mit tiefem Anforderungsniveau (Niveaustufe Grundansprüche) ist und wie schwierig der Einstieg in eine berufliche Grundbildung im Wunschberuf für sie sein kann.

Vor allem zeigt die Geschichte, dass manchmal weder strukturelle Bedingungen noch psychosoziale Probleme verantwortlich sind, wenn der Start in die Berufswelt schwierig wird. In Annas Fall waren es die Haltungen einzelner Lehrpersonen in der Volksschule, die sie über lange Zeit an ihrem Selbstwirksamkeitsgefühl zweifeln liessen.

2Stellwerk ist ein standardisiertes, webbasiertes Instrument der Leistungsmessung für die Fächer Mathematik, Deutsch, Natur und Technik, Französisch und Englisch für das achte und das neunte Schuljahr (vgl. www.stellwerk-check.ch).

3Der nationale Jugendlängsschnitt TREE «TRansitionen von der Erstausbildung in die Erwerbstätigkeit» begleitet rund 6000 junge Menschen, die im Jahr 2000 an der PISA-Erhebung (Programme for International Student Assessment) teilgenommen haben, und zeichnet ihre Ausbildungs- und Erwerbsverläufe seit ihrem Austritt aus der obligatorischen Schule im Jahr 2000 auf. Als einzige schweizerische Längsschnittstudie liefert TREE nationale, sprachregionale sowie auch für einzelne Kantone repräsentative Daten.

4Der sozioökonomische Status ist ein Begriff aus den Sozialwissenschaften und bezeichnet ein Bündel von Merkmalen menschlicher Lebensumstände. Dazu gehören beispielsweise formale Bildung und Schulabschluss, Ausbildung und Studium, Beruf und Einkommen.

5PISA-Lesekompetenz ist ein dynamisches Konzept, das fünf Kompetenzniveaus definiert: von 1 = Informationen aus einfachen Texten finden und mit Alltagswissen verknüpfen bis 5 = einen komplexen Text im Detail verstehen, relevante Informationen lokalisieren, Hypothesen formulieren und ihre Gültigkeit testen.

6Verbreitet sind Eignungstests wie Multicheck und basic-check sowie branchen- oder betriebsspezifische Tests. Eignungstests wird generell ein geringer prognostischer Wert zugeschrieben; wissenschaftliche Untersuchungen zu Eignungstests in der Schweiz fehlen jedoch weitgehend (Imdorf, 2005, S. 104).

7Eine Übersicht über die intellektuellen Anforderungsniveaus der verschiedenen beruf­lichen Grundbildungen findet sich bei Stalder (2011).

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