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1.1.3Nachobligatorische Bildung: Berufsbildung in der Schweiz

Die Berufsbildung beinhaltet die Bereiche Brückenangebote und berufliche Grundbildung, die auf der Sekundarstufe II angesiedelt sind, den Bereich der höheren Berufsbildung auf Tertiärstufe, in den die eidgenössischen Berufsprüfungen, die eidgenössischen höheren Fachprüfungen sowie die Bildungsgänge an höheren Fachschulen fallen, sowie die berufliche Weiterbildung (vgl. Abb. 1-4, hervorgehoben). Gekennzeichnet ist das System durch klar definierte Bildungsangebote und eine hohe Durchlässigkeit, indem beispielsweise bereits erbrachte Bildungsleistungen beim Besuch weiterführender Ausbildungen angerechnet werden. Ein breites Angebot, das unterschiedliche Fähigkeiten und Bedürfnisse berücksichtigt, sorgt für eine hohe Arbeitsmarktfähigkeit und führt zu einer guten Arbeitsmarktintegration von Personen des gesamten Begabungsspektrums (Hoeckel, Field & Grubb, 2009).

In der Schweiz entscheiden sich jährlich rund zwei Drittel der Schulabgängerinnen und Schulabgänger für eine berufliche Grundbildung (SBFI, 2013a).


Abbildung 1-4

(Berufs-)Bildungssystem Schweiz (SBFI, 2013a, S.5, adaptiert)

Die Berufsbildung ist auf Bundesebene durch das Bundesgesetz vom 13. Dezember 2002 über die Berufsbildung – das Berufsbildungsgesetz (BBG) – sowie durch die Verordnung vom 19. November 2003 über die Berufsbildung – die Berufsbildungsverordnung (BBV) – geregelt. Bund, Kantone und Organisationen der Arbeitswelt setzen sich gemeinsam für eine gut funktionierende Berufsbildung ein.

Die beruflichen Grundbildungen in rund 250 anerkannten Berufen dauern zwischen zwei und vier Jahren und führen die Absolventinnen und Absolventen zu einem Eidgenössischen Berufsattest (EBA, zweijährige Grundbildung) oder einem Eidgenössischen Fähigkeitszeugnis (EFZ, drei- oder vierjährige Grundbildungen).

Die betrieblich organisierte Form der Grundbildung – Ausbildung in Lehrbetrieb, Berufsfachschule und überbetrieblichen Kursen – ist die verbreitetste Form der beruflichen Grundbildung, wir sprechen vom dualen oder trialen System (SBFI, 2013a; vgl. auch Wettstein & Gonon, 2009, S. 110). Mit «dual» sind die beiden klassischen Lernorte Betrieb und Berufsfachschule angesprochen, mit «trial» darüber hinaus die überbetrieblichen Kurse (üK). Klein- und Mittelbetriebe (KMU) nehmen in der dualen respektive trialen Berufsbildung eine wichtige Rolle ein, werden doch etwas mehr als die Hälfte der Lernenden in Klein- oder Kleinstbetrieben mit weniger als zwanzig Beschäftigten ausgebildet und rund zwei Drittel in Betrieben mit weniger als fünfzig Beschäftigten (Müller & Schweri, 2012, S. 39). Vor allem in der Romandie und im Tessin, in kleinerem Umfang ebenfalls in der Deutschschweiz, existieren aber auch schulisch organisierte Vollzeitausbildungen. Darunter fallen beispielsweise Wirtschafts- und Handelsmittelschulen und Informatikmittelschulen.

Angebot und Nachfrage verfügbarer Ausbildungsplätze (Lehrstellen) sind abhängig von verschiedenen Faktoren – einerseits von ökonomischen Entwicklungen (Bedürfnisse des Arbeitsmarktes, konjunkturelle Schwankungen und Ausbildungsbereitschaft respektive Ausbildungsfähigkeit von Betrieben), andererseits von demografischen Veränderungen und von Interessen und Berufswünschen der Jugendlichen.

Die demografische Entwicklung der letzten Jahre hat dazu geführt, dass sich die Situation auf dem Lehrstellenmarkt geändert hat: So wurde 2013 ein Überhang an Lehrstellen ausgewiesen (SBFI, 2013b), nachdem seit Ende des letzten Jahrhunderts die jährlich wiederkehrende Lehrstellenknappheit dazu geführt hatte, dass nicht genügend Lehrstellen für die an einer beruflichen Ausbildung interessierten Jugendlichen verfügbar waren. Diese aus Sicht der Jugendlichen günstige Entwicklung wird sich in den nächsten Jahren fortsetzen (BfS, 2012). Trotzdem ist nicht garantiert, dass Jugendliche problemlos ihren Wunschberuf erlernen können.

Das Verhältnis von Angebot und Nachfrage an Lehrstellen gestaltet sich je nach Branche sehr unterschiedlich. In der «Berufshitparade 2013» der Jugendlichen auf Lehrstellensuche belegten die technischen Berufe, die Berufe im Gesundheits- und Sozialwesen, im Büro- und Informationswesen sowie die Berufe im Verkauf die ersten Plätze (SBFI, 2013b, S. 72), während Berufe in der Lebensmittelbranche aufgrund der anforderungsreichen Arbeitszeiten oder des Arbeitsumfeldes bei den Jugendlichen weniger beliebt sind und schon seit Längerem Schwierigkeiten mit der Rekrutierung von Nachwuchs haben (Marti, 2010). In bestimmten Berufen zeichnet sich ein Kampf der Ausbildungsverantwortlichen um interessierte (leistungsstarke) Jugendliche ab. Prestigeträchtige Berufe mit hohem Anforderungsniveau7 dürften deshalb weiterhin den leistungsstärksten Jugendlichen vorbehalten sein.

Abbildung 1-5 zeigt Angebot und Nachfrage auf dem Lehrstellenmarkt vom April 2013 im Überblick.


Abbildung 1-5

Lehrstellenmarkt Stand April 2013 (SBFI, 2013b, S. 12)

Abschliessend lässt sich festhalten, dass es im Hinblick auf eine hohe Abschlussquote auf Sekundarstufe II eine wichtige Aufgabe der Berufsbildung ist, für ein differenziertes, bedürfnis- und bedarfsorientiertes Angebot an Ausbildungsmöglichkeiten zu sorgen, das nebst anforderungsreichen Ausbildungen auch Gefässe und Unterstützungsmassnahmen für misserfolgsgefährdete junge Menschen zur Verfügung stellt. Wie in → Kapitel 1.1 aufgezeigt, muss es ein übergeordnetes gesellschaftliches und damit politisches Anliegen sein, auch Jugendliche mit schlechten Startchancen in eine Berufsausbildung zu integrieren, die ihnen entspricht. Gelingt diese Integration nicht, besteht die Gefahr, dass sie als «working poor» aus dem System fallen und die Gesellschaft längerfristig über das Sozialhilfesystem für sie aufkommen muss.

1.1.4Die drei Lernorte im schweizerischen Berufsbildungssystem

Wie schon erwähnt, findet in der Schweiz die Vermittlung der beruflichen Grundbildung in der Regel an drei Lernorten statt, die im Berufsbildungsgesetz wie folgt bestimmt werden:

a. im Lehrbetrieb, im Lehrbetriebsverbund, in Lehrwerkstätten, in Handelsmittelschulen oder in anderen zu diesem Zweck anerkannten Institutionen für die Bildung in beruflicher Praxis;

b. in Berufsfachschulen für die allgemeine und die berufskundliche Bildung;

c. in überbetrieblichen Kursen und vergleichbaren dritten Lernorten für Ergänzungen der beruflichen Praxis und der schulischen Bildung.

(Art. 16 Abs. 2 BBG).

Im Gesetz ist weiter festgehalten, dass die Ausbildungsinhalte für jeden Lernort in den Bildungsverordnungen und Bildungsplänen der einzelnen Berufe festgelegt werden (Art. 16 Abs. 3 BBG) und dass es Aufgabe der drei Lernorte ist, zu kooperieren, damit die Ziele der beruflichen Grundbildung erreicht werden können (Art. 16 Abs. 5 BBG).

1.2Ein berufspädagogischer Blick auf die Zusammenarbeit
1.2.1Die Kooperation zwischen den drei Lernorten

Konkrete Angaben darüber, wie solche Zusammenarbeit umgesetzt und gewährleistet werden soll, finden sich in den gesetzlichen Grundlagen nur dahingehend, dass die Berufsfachschule Koordinationsaufgaben im Hinblick auf die Zusammenarbeit der an der Berufsbildung Beteiligten übernehmen kann (Art. 21 Abs. 6 BBG). Es erstaunt daher nicht, dass Lernortkooperation erst in einzelnen Regionen oder Berufen konkret in Angriff genommen und umgesetzt worden ist (Fleischmann, 2010, S. 2). Eine Vorreiterrolle nehmen hier die beiden Basler Halbkantone ein, die im Rahmen des Projektes «Umsetzung des neuen Berufsbildungsgesetzes in den Kantonen Basel-Landschaft und Basel-Stadt» eine bikantonale Umsetzungsgruppe ins Leben gerufen haben, die sich aus allen massgebenden Verbundpartnern beider Kantone zusammensetzt: Vertreterinnen und Vertreter der Organisationen der Arbeitswelt, der Berufsfachschulen, der überbetrieblichen Kurse und der Lehraufsicht. Diese Gruppe zeichnet verantwortlich für die Implementierung der neuen Bildungsverordnungen. Die Steuerung des Prozesses liegt bei den Bildungsämtern der beiden Kantone (Mohler & Diesch, 2010). Mit dem Projekt wird sichergestellt, dass bei der Zusammenarbeit von wirklicher Kooperation (→ Abschnitt 1.2.2) gesprochen werden kann. Eine solche besteht nicht nur aus Koordination, sondern aus gemeinsam getragener Verantwortung für die Ausbildung.

Ein weiteres Beispiel für Zusammenarbeit findet sich in der Umsetzung der zweijährigen Grundbildung für Schreinerpraktikerinnen und -praktiker, wo eine enge Koordination zwischen den Lernorten durch gemeinsame Veranstaltungen für die Berufsbildungsverantwortlichen während der Einführungsphase der neuen Bildungsverordnungen, während der Vorbereitung der Qualifikationsverfahren sowie durch regelmässige gegenseitige Besuche gewährleistet wird (Merz, 2010).

Studien, die sich mit lernfördernden Aspekten der Lernortkooperation befassen, gibt es in der Schweiz erst vereinzelt. Ein Entwicklungsprojekt des Schweizerischen Instituts für Berufspädagogik (SIBP, heute Eidgenössisches Hochschulinstitut für Berufsbildung EHB IFFP IUFFP) analysierte die Lernortkooperation in Form von lernortübergreifendem Unterricht im schu­lischen und betrieblichen Setting in fünf Anlehrberufen. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass eine lernortübergreifende Zusammenarbeit, die sich auf ein gemeinsam festgelegtes und unter den Lernorten abgestimmtes Ausbildungsprogramm mit gemeinsam definierten Ausbildungszielen stützt (Zusammenarbeit als «Integration» im Sinne von Landwehr, 2002; → Abschnitt 1.2.2) einen positiven, lern- und motivationsfördernden Effekt auf die Lernenden und die Ausbildungsverantwortlichen hat (Grassi, Rhiner & Scharnhorst, 2005). Das Institut für Wirtschaftspädagogik der Universität St. Gallen untersuchte die Förderung von Lernkompetenzen von Lernenden zweier kaufmännischer Berufsfachschulen und kam zum Schluss, dass eine optimale Lernförderung eine gute Koordination der Ausbildungspartnerinnen und -partner voraussetzt (Nüesch, Metzger & Martinez Zaugg, 2009). Eine vom Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT) in Auftrag gegebene Studie evaluierte die Zusammenarbeit der Ausbildungsverantwortlichen der drei Lernorte in Bezug auf die Qualifikationsverfahren (QV) der beruflichen Grundbildung. Die Studie ortet Optimierungspotenzial hauptsächlich im Bereich Kontakt und Kommunikation zwischen den drei Lernorten und fordert Massnahmen zu deren Verbesserung (Frei, 2010). Das Projekt «LOK – Lernortkooperation in der beruf­lichen Grundbildung» der Zentralschweizer Berufsbildungsämter-Konferenz (ZBK) – fördert die Abstimmung der Lerninhalte der drei Lernorte sowie den Informationsfluss zwischen den beteiligten Ausbildungspartnerinnen und -partnern mithilfe des Webtools SEPHIR. Die Empfehlungen des Projektevaluationsberichts fokussieren denn auch ausschliesslich Aspekte, die sich auf das Tool und dessen Weiterentwicklung beziehen (Feller & Bucher, 2011).

 

Die vorangehenden Ausführungen zeigen, dass dem Thema Lernort­kooperation in der beruflichen Bildung in der Schweiz bisher noch nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Lernortkooperation ist zwar erwünscht, ihre Bedeutung ist erkannt, jedoch ist sie noch nicht wirklich umgesetzt, Prozesse und Verantwortlichkeiten sind nicht geklärt. Zudem müssen bezüglich Kooperation verschiedene Ebenen differenziert werden. Einerseits bezieht sich Kooperation auf eine übergeordnete Ebene, wie beispielsweise im Rahmen der (Reform-)Prozesse. Hier ist es Aufgabe der Verbundpartner, einen Schwerpunkt zu setzen und Verbindlichkeiten zu definieren. Andererseits geht es auf der Ebene einer konkreten Zusammenarbeit der Berufsbildenden der verschiedenen Lernorte um eine im Ausbildungsalltag gemeinsam getragene Verantwortung und Verpflichtung zur optimalen Förderung der einzelnen Lernenden.

An dieser Stelle setzt das vorliegende Buch an: Es zeigt, wie eine solche Förderung von Berufsbildnerinnen und Berufsbildnern der drei Lernorte gemeinsam und auf jeden Lernort angepasst umgesetzt werden kann.

1.2.2Wie funktioniert gute Lernortkooperation?

Wichtige Erkenntnisse über Lernortkooperation liefert der Modellversuch KOLIBRI «Kooperation der Lernorte in der beruflichen Bildung» in Deutschland. Aus diesem Modellversuch resultieren zwei Handbücher zur Lernortkooperation mit theoretischen Grundlegungen und praktischen Erfahrungen (Euler, 2004a, 2004b). Als Haupterkenntnis hat sich herauskristallisiert, dass eine erfolgreiche Lernortkooperation bestimmte institutionelle und personelle Rahmenbedingungen voraussetzt (Diesner et al., 2004, S. 2). Dabei ist die Entwicklung einer Kooperationskultur grundlegend für eine funktionierende Zusammenarbeit der Lernorte. Als förderliche Faktoren für eine gute Kooperationskultur haben sich Vertrauen, Respekt und Wertschätzung, Gelegenheit zu Kontakt, Austausch und Kommunikation, Selbstvertrauen als Basis für Fremdvertrauen, Wahrnehmung von Gemeinsamkeiten, kooperationsrelevante Problemstellungen, Handlungsspielräume der Beteiligten, langfristig ausgerichtete Beziehungen sowie überschaubare Gruppengrössen bewährt (Euler, 2004c).

Landwehr unterscheidet vier Varianten des Zusammenspiels der Lernorte, die er Koexistenz, Koordination, Kooperation und Integration nennt (Landwehr, 2002, S. 39):

•Koexistenz: Die Lernorte funktionieren als in sich geschlossene Lernsysteme, mit je eigenen Zielvorgaben und eigenem Prüfungswesen; es gibt zeitliche Vorgaben für jeden Lernort, eine inhaltliche Absprache findet indessen nicht statt.

•Koordination: Die Lernorte koexistieren relativ unverbunden nebeneinander. Die Ausbildungskonzepte werden inhaltlich aufeinander abgestimmt. Wechselseitige Information wird sporadisch gepflegt, damit bei Schwierigkeiten gemeinsam Lösungsstrategien entwickelt werden können.

•Kooperation: Die Lernorte verstehen sich als Partner im gemeinsam getragenen Ausbildungsgang. Es gibt grobe inhaltliche Absprachen, die Ausbildungsziele und -schwerpunkte werden gegenseitig offengelegt; die Vermittlung der Inhalte in Theorie und Praxis erfolgt koordiniert. Ein regelmässiger Erfahrungsaustausch ist institutionalisiert.

•Integration: Es existiert eine für alle Lernorte gemeinsame, lernortübergreifende Ausbildungsleitung und ein gemeinsames Ausbildungsprogramm. Das Lernen an den verschiedenen Lernorten orientiert sich an denselben Phasenzielen; in diesem Rahmen werden die konkreten Ausbildungsziele abgesprochen und gemeinsam festgelegt.

Die in → Abschnitt 1.2.1 dargestellten aktuellen Formen von Zusammenarbeit zwischen den Lernorten in der Schweiz lassen sich in der Landwehr’schen Definition wohl am besten zwischen Koordination und Kooperation verorten; von der Integration, die es anzustreben gilt, sind wir zumeist noch weit entfernt. Es bleibt zu hoffen, dass hier zukünftige Entwicklungsschwerpunkte gesetzt werden.

1.2.3Weitere Orientierungspunkte für gute Kooperation

Anregungen für ein von allen Beteiligten getragenes und unterstütztes Zusammenarbeiten in der Begleitung und Förderung von Lernenden finden sich im Verfahren «Schulische Standortgespräche» des Kantons Zürich (Hollenweger & Lienhard, 2009). Dabei werden im Rahmen eines «runden Tisches» regelmässig die Beobachtungen aller am Förderprozess Beteiligten (Schüler/in, Eltern, Lehrpersonen, Fachpersonen) zusammengetragen, gemeinsame Entscheide gefällt und Förderziele definiert. Es handelt sich um ein standardisiertes Verfahren, das zum Ziel hat, durch den Austausch aller Beteiligten ein gemeinsames Problemverständnis zu entwickeln, spezifische Fördermassnahmen für jede Schülerin und jeden Schüler festzulegen, durchzuführen und zu überprüfen. Federführend für das Einberufen und die Organisation eines Standortgespräches ist die Lehrperson. Die Grundidee des Verfahrens der schulischen Standortgespräche lässt sich auf die berufliche Grundbildung übertragen, indem (regelmässige) Gespräche zwischen lernender Person und Ausbildungsverantwortlichen aller Lernorte institutionalisiert werden könnten (→ Kapitel 2.7). Damit wäre ein wichtiger Grundstein für die Lernortkooperation gelegt.

1.3Ein entwicklungspsychologischer Blick

Die Phase des Eintritts in eine berufliche Grundbildung ist geprägt durch vielfältige Herausforderungen – persönliche Entwicklungsaufgaben und einschneidende Veränderungen im Lebens- und Berufsalltag stehen an. Die folgenden Abschnitte geben einen Einblick, wie junge Menschen die Herausforderungen in dieser Lebensphase angehen und meistern.

1.3.1Entwicklungsaufgaben im Jugend- und frühen Erwachsenenalter

Das psychologische Konzept der Entwicklungsaufgaben nach Havighurst (1948) schreibt jeder Lebensphase bestimmte Aufgaben zu, die ein Individuum erfolgreich meistern muss, damit Glück und Erfolg gewährleistet und gesellschaftliche Ablehnung und persönliches Versagen verhindert werden. Die Aufgaben können als kulturell und gesellschaftlich definierte Anforderungen und Erwartungen verstanden werden, denen man sich in bestimmten Lebensphasen stellen muss. Damit ist sowohl eine individuelle, persönliche als auch eine normative, von der Gesellschaft vorgegebene Dimension angesprochen.

In der Zeit des Übergangs von der obligatorischen in die nachobligatorische Ausbildung befinden sich junge Menschen aus entwicklungspsychologischer Perspektive in der Adoleszenz ( 12 bis 18 Jahre) oder im frühen Erwachsenenalter (18 bis 30 Jahre). Wie in Abbildung 1-6 ersichtlich wird, gelten als wichtige Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz die Ablösung von den Eltern, die Identifizierung mit der eigenen Geschlechtsrolle, das Verinnerlichen eines moralischen Bewusstseins sowie die Berufswahl. Die relevanten Entwicklungsaufgaben des frühen Erwachsenenalters beziehen sich hauptsächlich auf die Neuorganisation des sozialen Umfeldes sowie auf den Einstieg in einen Beruf (vgl. ebd.). Die Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben führt zu einer Sozialisation der jungen Menschen in unterschiedliche Rollen – Berufsrolle, Partner- oder Familienrolle, Rolle als Mitglied der Gesellschaft usw. Dabei sind hauptsächlich zwei Prozesse bestimmend, die Identitätsentwicklung (Selbstfindung) sowie die Autonomieentwicklung (Eigenständigkeit, Selbstständigkeit).

Identität

Die Neuorientierungen, mit denen junge Menschen in der Adoleszenz und im frühen Erwachsenenalter konfrontiert werden, führen dazu, dass das bisherige Selbstkonzept infrage gestellt wird. In einem Selbstfindungsprozess werden Ziele, Werte und Überzeugungen definiert, die man für sich als wichtig erachtet und denen man sich verpflichtet fühlt (Flammer & Alsaker, 2011, S. 157). Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit äusseren und privaten Aspekten des Selbstkonzepts – man zeigt gegen aussen nicht immer, wie man wirklich ist und wie man sich fühlt.

Autonomie

Bei der Autonomie geht es in diesem Lebensabschnitt hauptsächlich um ein Neuaushandeln der Beziehungen zu den Eltern, weg von einer abhängigen hin zu einer selbstbestimmten und gleichberechtigten Beziehung. Dies beinhaltet auch, dass junge Menschen Verantwortung für ihr Handeln übernehmen und beispielsweise lernen,

•sich ihre Tageszeit selbst einzuteilen;

•ihr Konsumverhalten dem verfügbaren Geld anzupassen;

•Verlockungen wie beispielsweise Alkohol- oder Drogenkonsum zu widerstehen;

•ihren Umgang mit elektronischen Medien zu regeln usw. (vgl. auch Flammer & Alsaker, 2011, S. 93 ff.).


Abbildung 1-6

Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz nach Havighurst – dargestellt unter der Perspektive des Übergangs zwischen Kindheit und frühem Erwachsenenalter (Oerter & ­Montada, 2008, S. 281)

Die vorangehenden Ausführungen zeigen, dass die Zeit des Übergangs an der «ersten Schwelle» für junge Menschen auch aus entwicklungspsychologischer Perspektive mit vielen Veränderungen und Neuorientierungen verbunden ist. Konkrete Hinweise für einen verständnisvollen Umgang mit jungen Menschen in der Phase dieses Übergangs finden sich bei Lauper und De Boni (2012). Für Berufsbildnerinnen und Berufsbildner ist etwas entwicklungspsychologisches Grundwissen wichtig und hilfreich, damit sie ihre Ausbildungsverantwortung für Lernende professionell wahrnehmen können. Dies trifft insbesondere für die Phase der Früherfassung (→ Kapitel 2) zu, in der es darum geht, die Ausbildungsvoraussetzungen der Lernenden mit den Anforderungen des gewählten Berufes zu vergleichen und darauf aufbauend entsprechende Fördermassnahmen einzuleiten.