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1.1.1Obligatorische Bildung, Sekundarstufe I

Mit Artikel 62, Absatz 4 der Bundesverfassung (BV), dem die Schweizer Bevölkerung 2006 in einer Volksabstimmung zugestimmt hat, werden die Kantone zu einer Harmonisierung des Bildungswesens im Bereich der obligatorischen Schule verpflichtet. Damit werden Faktoren, die für die aktuellen Probleme an der «ersten Schwelle» mitverantwortlich sind – der Schulföderalismus, die unterschiedlichen kantonalen Schulstrukturen und die damit einhergehende, mehrheitlich frühe Selektion –, womöglich bald an Gewicht verlieren.

So ist es beispielsweise für die Ausbildungsverantwortlichen in Lehr­betrieben derzeit noch schwierig, die schulischen Kompetenzen der Schulabgängerinnen und Schulabgänger im Rahmen der Selektion von Lernenden einzuschätzen, da bisher keine minimalen Bildungsstandards definiert waren, die von den Schülerinnen und Schülern am Ende der obligatorischen Schulzeit erreicht werden müssen. Somit waren u.a. interkantonale Vergleiche kaum möglich. Hier soll die «Interkantonale Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule» (HarmoS-Konkordat), in Kraft getreten am 1. August 2009, Abhilfe schaffen. Das Konkordat harmonisiert die Dauer und die wichtigsten Ziele aller Bildungsstufen der obligatorischen Schule und deren Übergänge auf nationaler Ebene. Der Entscheid für einen Beitritt zu HarmoS liegt freilich bei den einzelnen Kantonen. Einige haben einen Beitritt bisher abgelehnt.

Abbildung 1-1 zeigt auf, welche Kantone dem Konkordat bis 2013 beigetreten sind.


Abbildung 1-1

Beitrittsverfahren HarmoS-Konkordat (Quelle: www.edudoc.ch)

Die dem Konkordat beigetretenen Kantone verpflichten sich, bis zum Schuljahr 2015/2016 die Inhalte des Konkordats umzusetzen. Die Regelungen betreffen die Schulstrukturen (Dauer der Primarstufe einschliesslich Kindergarten acht Jahre, Dauer der Sekundarstufe I drei Jahre – eine Ausnahmeregelung gilt für den Kanton Tessin mit einer vierjährigen scuola media) sowie die Einführung von nationalen Bildungszielen, den sogenannten Bildungsstandards, welche die Grundkompetenzen der Schülerinnen und Schüler für die Fächer Schulsprache, Fremdsprachen, Mathematik und Naturwissenschaften festlegen. Eine Koordination der Lehrmittel und die Harmonisierung der Lehrpläne, basierend auf den zu erwerbenden Grundkompetenzen, werden auf sprachregionaler Ebene angestrebt. Der «plan d’études romand» wurde 2010 freigegeben und befindet sich in den französischsprachigen Kantonen bis zum Schuljahr 2014/2015 in der Einführungsphase. Der «Lehrplan 21» für die deutsch- und mehrsprachigen Kantone und der «piano di studio» für den Kanton Tessin werden voraussichtlich auf Herbst 2014 freigegeben. Wie und wann die Umsetzung der neuen Lehrpläne in der Deutschschweiz und im Tessin konkret in Angriff genommen wird, liegt allerdings wiederum in der Verantwortung der einzelnen Kantone. Für sie bleibt der Spielraum nach wie vor gross, und es wird sich zeigen, welche Folgen die jeweiligen kantonalen Absichtserklärungen haben werden.

Ob und in welchem Ausmass sich dieser schweizerische Bildungsföderalismus auf längere Frist halten wird, wird die Zukunft zeigen (zum ganzen Themenkreis Schulföderalismus vs. Harmonisierung vgl. auch Criblez, 2008).

In 21 Kantonen entspricht die Dauer der Sekundarstufe I zum heutigen Zeitpunkt bereits den HarmoS-Vorgaben. Nur fünf Kantone verfügen über eine Sekundarstufe I mit einer Dauer von vier oder fünf Jahren. Trotz fast einheitlicher Dauer weist die Sekundarstufe I zwischen und auch innerhalb der Kantone eine Vielfalt an Strukturen mit verschiedenen Niveaustufen (Grundansprüche – erweiterte Ansprüche) auf. Laut dem letzten «Bildungsbericht Schweiz» (SKBF, 2010, S. 93f.) können die unterschiedlichen Strukturen den drei Modellen integriert, kooperativ und geteilt zugeordnet werden (vgl. Abb. 1-2). Das integrierte Modell ist charakterisiert durch nicht selektionierte Stammklassen mit leistungsdifferenzierten Niveaukursen in einzelnen Fächern. Im kooperativen Modell gibt es zwei Typen von Stammklassen mit unterschied­lichen Anforderungsniveaus sowie ein Angebot von leistungsdifferenzierten Niveaukursen in Fremdsprachen, Mathematik und eventuell einem dritten Fach. Das geteilte Modell weist zwei bis vier verschiedene Schultypen auf, und es werden unterschiedliche Fächer durch unterschiedliche Lehrpersonen mit unterschiedlichen Lehrmitteln in separaten Klassen oder Schulen angeboten.

Strukturvielfalt auf der Sekundarstufe I in den 26 Kantonen, 2009
Daten: IDES und Netzwerk Sekundarstufe I


Abbildung 1-2

Strukturvielfalt auf der Sekundarstufe I (SKBF, 2010, S. 93)

Wie die Ausführungen zu den drei Modellen zeigen, ist das schweizerische Schulsystem (mit Ausnahme der Kantone Jura und Tessin) durch frühe Selektionsmechanismen geprägt, die dazu führen, dass Schülerinnen und Schüler bereits auf der Sekundarstufe I unterschiedlichen Schultypen und Anforderungsniveaus zugewiesen werden.

Aus der einschlägigen Forschung ist nun aber bekannt, dass die Zuweisungsmechanismen stark durch regionale Gegebenheiten, schul- und lehrpersonenspezifische Handhabung von Übertrittsempfehlungen, Referenzgruppeneffekte wie Leistungsstärke der Klasse und Gruppenmerkmale wie Sozialstatus, nationale Herkunft und Geschlecht der Schülerinnen und Schüler beeinflusst werden (Baeriswyl, Wandeler & Trautwein, 2011; Haeberlin, Imdorf & Kronig, 2004; Imdorf, 2005; Kronig, 2007, 2013; Meyer, 2011). Die individuelle schulische Leistung hat nur bedingt prognostischen Wert für die Zuweisung zu einem bestimmten Schultyp oder -niveau (vgl. auch Sacher, 2001; Becker, 2010; SKBF, 2010). Das bedeutet nichts anderes, als dass durch frühe schulische Selektion und eine hierarchisch gegliederte Sekundarstufe I mit unterschiedlichen Leistungsniveaus die ungleiche Verteilung von Bildungschancen strukturell verfestigt wird. Dies ist umso gravierender, als Schultyp und Schulnoten aus den beiden letzten Schuljahren der Sekundarstufe I, vor allem die Noten in Mathematik, als wichtige Einflussgrössen für die Vergabe von Lehrstellen gelten (Haeberlin, Imdorf & Kronig, 2004; Neuenschwander, 2010; SKBF, 2010; vgl. auch → Abschnitt 1.1.2). Die ungleiche Verteilung der Bildungschancen der Jugendlichen setzt sich im Übergang zur und während der Sekundarstufe II fort. Der Schluss drängt sich auf: Zugunsten einer fairen Chancenverteilung müsste auf eine frühe schulische Selektion verzichtet werden.

Durch die Einführung der neuen Lehrpläne im Rahmen von HarmoS werden nun, wie schon erwähnt, verbindliche Kompetenzen festgelegt, über welche Schülerinnen und Schüler am Ende der obligatorischen Schulzeit verfügen sollen. Die verpflichtenden Inhalte des Lehrplans werden gegen Ende der Sekundarstufe I verringert zugunsten von Wahlangeboten, die eine zielgerichtete Vorbereitung der Schülerinnen und Schüler auf die nachobligatorische Ausbildung sicherstellen sollen. Berufliche Orientierung wird zudem als zentrales Thema im Unterricht verankert. Es wird erwartet, dass diese Massnahmen zu einem verbesserten Übergangsprozess mit weniger Zwischenlösungen und Warteschlaufen an der «ersten Schwelle» führen.

Bereits im EDK-Bericht zum Projekt «Nahtstelle Sekundarstufe I – Sekundarstufe II» (Galliker, 2011) findet sich als Empfehlung zur Optimierung dieses Übergangs, das Ende der obligatorischen Schule sei derart zu gestalten, dass die Jugendlichen gezielt auf den Einstieg in die Berufsausbildung und in allgemeinbildende Schulen vorbereitet werden. Die Bemühungen sollen darauf zielen, den Stand der von den Jugendlichen erworbenen Kompetenzen in Bezug zu ihren Ausbildungswünschen und -möglichkeiten zu setzen. Allfällige Lücken sollen geschlossen, Stärken weiter ausgebaut und die schulische Motivation aufrechterhalten werden. Schülerinnen und Schüler sollen in dieser Phase mehr Selbstständigkeit erhalten, projekt- und problemorientiert arbeiten sowie gewisse Angebote auswählen können.

Etliche Kantone haben in den letzten Jahren ihren Lehrplan für das neunte Schuljahr bereits in Richtung HarmoS-Vorgaben und Empfehlungen aus dem Nahtstellenbericht angepasst, indem der Unterricht verstärkt auf den Übertritt in die Sekundarstufe II und entsprechende individuelle Förderung ausgerichtet wurde. Wegweisend war dabei das Pilotprojekt «Neu­gestaltung des neunten Schuljahres im Kanton Zürich» (Kammermann, Sigrist & Sempert, 2007). Dieses Projekt führte eine individuelle Standortbestimmung der Schülerinnen und Schüler mittels Stellwerk-Tests2 im achten Schuljahr, ein anschliessendes Standortgespräch zwischen Schülerin oder Schüler, Lehrpersonen und Eltern sowie eine an Berufswahl oder weiterführendem Schulbesuch orientierte, gezielte Förderung der fachlichen und überfachlichen Kompetenzen im neunten Schuljahr ein. Weitere Merkmale der Neugestaltung des neunten Schuljahres im Kanton Zürich sind Wahlangebote, Projektunterricht und das Verfassen einer Abschlussarbeit am Ende der obligatorischen Schulzeit.

Eine zusätzliche Verbesserung der Berufsorientierung und Berufswahl verspricht man sich von ausformulierten Anforderungsprofilen für die berufliche Grundbildung. Das von der EDK und vom Schweizerischen Gewerbeverband (sgv) getragene nationale Projekt «Schulische Anforderungsprofile für die berufliche Grundbildung» hat zum Ziel, bis 2014 für rund 250 Berufe solche Profile zu erstellen (Zahno, 2012). Die Profile werden auf der Basis der HarmoS-Kompetenzmodelle für die Fächer Schulsprache, Fremdsprachen, Mathematik und Naturwissenschaften zusammengestellt. Die Resultate individueller fachspezifischer Standortbestimmungen im achten oder neunten Schuljahr ermöglichen den Schülerinnen und Schülern, ihr persönliches Kompetenzprofil mit den Anforderungsprofilen der sie interessierenden Berufe zu vergleichen. Vorarbeiten wurden in den letzten Jahren vom Gewerbeverband des Kantons Zürich geleistet, der Kompetenzprofile für verschiedene Berufe entwickelt hat. Das Projekt hat wegweisenden Charakter, zielt es doch darauf ab, Jugendlichen bereits während des Berufswahlprozesses einen Vergleich ihrer persönlichen Voraussetzungen mit den Anforderungen eines Berufes zu ermöglichen. So können sie während der letzten beiden Schuljahre in einzelnen Fächern spezifisch und gezielt Schwerpunkte setzen und sich optimal auf den Übertritt in eine berufliche Grundbildung vorbereiten. Der Einbezug von Kompetenzprofilen in den Berufswahlprozess kann auch verhindern, dass Jugendliche eine Berufsausbildung wählen, in der sie über- oder unterfordert wären. Es gilt jedoch zu bedenken, dass sich die geplanten Anforderungsprofile, wie der Name des Projektes schon sagt, hauptsächlich auf die schulischen Kompetenzen, also vorwiegend die (Fach-)Kompetenzen der jungen Menschen beziehen. Die Frage ist, ob und wie im Rahmen solcher Profile auch die berufspraktischen Voraussetzungen der Jugendlichen konkret abgeklärt werden können. Leider ist es zum Zeitpunkt der Redaktion des vorliegenden Buches nicht möglich, Einblick in die Kompetenzprofile zu erhalten, sodass die Frage fürs Erste ungeklärt bleiben muss.

 

1.1.2Übergang an der «ersten Schwelle»
Transitionsverläufe: Welche Merkmale bestimmen den Übergang?

Leider liegen in der Schweiz bisher keine offiziellen statistischen Angaben vor, die es erlauben, individuelle Verläufe über die Schwellen hinweg zu erfassen. Forschungsergebnisse auf gesamtschweizerischer Ebene liefert die nationale Jugend-Längsschnittstudie TREE.3 Deren Ergebnisse zur Situation an der «ersten Schwelle» zeigen, dass schon im ersten Jahr nach dem Austritt aus der obligatorischen Schule bei vielen Jugendlichen die Ausbildung nicht linear verläuft (vgl. Abb. 1-3). Nur drei Viertel der im Jahr 2000 befragten Jugendlichen schafften einen direkten Übertritt in eine zertifizierende Ausbildung auf Sekundarstufe II (Gymnasium oder Berufsbildung), knapp ein Viertel befand sich in einer schulischen oder praktischen Zwischenlösung oder gar nicht in Ausbildung. Zwei Jahre nach Schulaustritt befanden sich 64 Prozent der Jugendlichen im berufsbildenden Ausbildungsstrang, rund 14 Prozent sind verzögert, nach einer einjährigen Zwischenlösung, in die Berufsbildung eingestiegen. Knapp jede/r Zehnte hat den Einstieg noch nicht vollzogen oder ist wieder ausgestiegen. Drei Jahre nach Schulaustritt waren zwei Drittel der Jugendlichen immer noch in einer beruflichen Ausbildung. Nur rund sechs von zehn Jugendlichen zeigten dabei einen linearen Verlauf, waren also direkt in eine Ausbildung eingestiegen und dort verblieben. Rund vier von zehn Jugendlichen waren verzögert oder gar nicht eingestiegen oder hatten Wechsel vollzogen.

Die TREE-Ergebnisse bestätigen somit, dass nichtlineare, diskontinuierliche Ausbildungsverläufe, geprägt durch Wartezeiten, Unterbrüche und Wechsel, heute fast ebenso häufig auftreten wie der sogenannte Normalverlauf (Hupka, 2003; Keller, Hupka-Brunner & Meyer, 2010).

Bestimmte Merkmale wie Geschlecht und Region, schulische, kulturelle und sozioökonomische Herkunft sowie Lesekompetenz (Letztere gilt als in der TREE-Studie erhobene Leistungsvariable) bestimmen laut den Ergebnissen des Jugendlängsschnitts den Übergang an der «ersten Schwelle» mit (Hupka, 2003):

•Geschlecht: Die Bildungsbeteiligung von jungen Frauen und Männern ist insgesamt gleich hoch, Männer beginnen jedoch häufiger eine Berufsausbildung, Frauen öfter eine allgemeinbildende Ausbildung. Frauen absolvieren deutlich häufiger ein Brückenangebot als Männer.

•Region: Während in der Deutschschweiz ein höherer Anteil der Jugendlichen in eine Berufsausbildung eintritt, absolvieren Jugendliche in der französischen und italienischen Schweiz eher eine allgemeinbildende Ausbildung. In der Deutschschweiz machen zudem mehr Jugendliche Gebrauch von einem Brückenangebot als in den beiden anderen Sprachregionen. In der Romandie ist der Anteil an ausbildungslosen jungen Männern im Vergleich höher. In ländlichen Gebieten orientieren sich die Jugendlichen eher in Richtung Berufsausbildung, in städtischen Gebieten eher in Richtung allgemeinbildender Schulen.


Abbildung 1-3

Nachobligatorische ­Ausbildungsverläufe (2000–2007), TREE (Keller, Hupka-Brunner & Meyer, 2010, S. 8, ­adaptiert)

•Schulische Herkunft: Jugendliche, die über einen Sekundarstufe I-Ab­­schluss mit Grundanforderungen verfügen, treten eher in eine Berufsausbildung oder in ein Brückenangebot ein als solche, die die Sekundarstufe I mit erweiterten Anforderungen abgeschlossen haben. Letztere beginnen eher eine allgemeinbildende Ausbildung. Die schulische Herkunft bestimmt also, unabhängig von an der Lesekompetenz gemessenen Leistungsmerkmalen, die Zugangschancen zu einer nachobligatorischen Ausbildung.

•Nationale Herkunft: Während sich die Ausbildungssituation von Schweizer Jugendlichen und ausländischen Jugendlichen der zweiten Generation ein bis zwei Jahre nach Schulaustritt ähnlich gestaltet, befindet sich ein höherer Anteil von ausländischen Jugendlichen der ersten Generation in einem Brückenangebot oder bleibt ohne Ausbildung. Dies trifft insbesondere für Jugendliche der neueren Einwanderungsgebiete zu (z.B. Balkan, Türkei oder Portugal).

•Sozioökonomische Herkunft:4 Jugendliche aus Familien mit tiefem sozioökonomischem Status absolvieren eher eine Berufsausbildung, ein Brückenangebot oder gar keine Ausbildung als Jugendliche aus Familien mit hohem sozioökonomischem Status. Letztere finden sich eher in einer allgemeinbildenden Ausbildung und weniger häufig in einem Brückenangebot oder in keiner Ausbildung.

•Lesekompetenzen:5 Ein hoher Anteil von Jugendlichen mit tiefen PISA-Lesekompetenzen findet sich in Berufsausbildungen und Brückenangeboten oder absolviert keine Ausbildung, während ein hoher Anteil von Jugendlichen mit hohen Lesekompetenzen eine allgemeinbildende Ausbildung in Angriff nimmt.

Massnahmen am Übergang

Die in → Kapitel 1.1 dargelegten Leitlinien von Bund und Kantonen zur Optimierung der «ersten Schwelle» führten zum Projekt «Nahtstelle Sekundarstufe I – Sekundarstufe II», das von 2006 bis 2010 durchgeführt wurde: Um die Zielsetzung eines Abschlusses auf Sekundarstufe II für 95 Prozent aller Personen unter 25 Jahren zu gewährleisten, wurden gemeinsam von Bund, Kantonen und Organisationen der Arbeitswelt verschiedene Unterstützungsmassnahmen entwickelt und umgesetzt (Galliker, 2011). Dies führte dazu, dass heute das Bild an der «ersten Schwelle» durch eine Vielfalt an Zwischenlösungen und Unterstützungsangeboten, mit besonderem Fokus auf Jugendliche mit schulischen und sozialen Schwierigkeiten, geprägt ist.

Hauptziel dieser Angebote ist die Integration der Jugendlichen in die Berufsbildung. Als wichtigste und wohl bekannteste Massnahme sind hier die verschiedenen kantonalen Brückenangebote zu nennen, die Jugendliche mit individuellen Bildungsdefiziten, denen der direkte Einstieg in eine nach­obligatorische Ausbildung nicht gelingt, auf eine berufliche Grundbildung vorbereiten. Als Brückenangebote gelten beispielsweise berufsvorbereitende Schuljahre, Vorlehren und Angebote zur Vermeidung von Jugendarbeitslosigkeit (sogenannte Motivationssemester). Das Case Management Berufs­bildung (CM BB) sichert gefährdeten Jugendlichen im Rahmen eines strukturierten Verfahrens mit einer fallführenden Stelle ab der Sekundarstufe I bis zum Abschluss einer Ausbildung auf Sekundarstufe II eine individuelle Unterstützung zu (→ Abschnitt 4.3.1). Diverse kantonale und private Coaching- und Mentoringprojekte bieten zudem eine Begleitung von Jugendlichen bereits während der obligatorischen Schulzeit über die «erste Schwelle» hinweg an. Ziel ist eine Förderung berufsrelevanter und/oder sozialer Kompetenzen sowie Unterstützung im Bewerbungsprozess. Nebst diesen konkreten Unterstützungsangeboten für Jugendliche existiert eine Fülle von weiteren strukturellen Massnahmen zur Optimierung der Nahtstelle, wie beispielsweise der Einsatz von Lehrstellenförderinnen und -förderern, die Schaffung von Lehrbetriebsverbünden oder das Führen eines Lehrstellennachweises (Lena) durch die Kantone (BBT, 2012b).

Selektion durch die Lehrbetriebe

In der dualen – respektive trialen – Berufsausbildung (→ Abschnitt 1.1.3) sind die betrieblichen Berufsbildnerinnen und Berufsbildner die «Türwächter» im Prozess der Lehrlingsselektion (Imdorf, 2007, S. 1). Sie allein bestimmen, ob Bewerberinnen und Bewerber eine Lehrstelle erhalten oder nicht. Eine im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Integration und Ausschluss» (NFP 51) durchgeführte Untersuchung bei 81 für die Selektion verantwortlichen Personen in Klein- und Mittelbetrieben (KMU) hat gezeigt, dass das Vorgehen der KMU-Lehrbetriebe bei der Lehrlingsselektion auf einem Mosaik von verschiedenen Kriterien beruht, die je nach Betrieb ein unterschiedliches Bild ergeben können (Imdorf, 2007). Es lassen sich deshalb keine allgemeingültigen Hauptauswahlkriterien bestimmen. Vielmehr ist für die befragten betrieblichen Berufsbildenden in KMU bei der Auswahl handlungsleitend, dass die auszuwählenden Lernenden in den Betrieb passen, zur betrieblichen Produktion beitragen und den Produktionsprozess nicht beeinträchtigen. Das letztgenannte Kriterium führt zum Beispiel dazu, dass ausländische Jugendliche bei der Lehrlingsselektion diskriminiert werden; die betrieblichen Berufsbildenden gehen offenbar davon aus, dass solche Jugendliche betriebliche Probleme verursachen könnten. Im Gegensatz dazu ist die Selektion in Grossbetrieben eher durch formalisierte Rekrutierungs- und Selektionsabläufe gekennzeichnet, wobei schulische Qualifikationen (besuchter Schultyp und Noten, speziell in Mathematik) und Eignungstests6 eine Filterfunktion für den weiteren Verlauf des Auswahlprozesses erfüllen (Imdorf, 2005).

Obwohl sich gesamthaft kein einheitliches Vorgehen feststellen lässt, werden in der Regel in der Lehrlingsselektion die folgenden Unterlagen und Erfahrungen mitberücksichtigt: Schulzeugnisse, Bewerbungsunterlagen und Bewerbungsgespräch, Schnupperlehren und Betriebsbesuche, interne oder externe Eignungstests sowie Gespräche mit Eltern (Stalder, 2000; Imdorf, 2005; Neuenschwander, 2010). Laut einer Studie, bei der 1500 Lehrbetriebe im Kanton Bern befragt wurden, sind Selbst- und Sozialkompetenz, Mathematikkenntnisse sowie handwerkliches Geschick (in den entsprechenden Berufen) ausschlaggebende Kriterien bei der Lehrlingsauswahl (Stalder, 2000). Für die auswählenden betrieblichen Berufsbildenden ist ebenfalls wichtig, dass die Lernenden sich in den Betrieb einfügen können und wollen, dass sie zur Zusammenarbeit fähig sind und traditionelle Arbeitstugenden zeigen, wie Fleiss, Pflichtbewusstsein, Pünktlichkeit, Ordnung, Sauberkeit und Sorgfalt. Damit sind überfachliche Kompetenzen angesprochen, für deren Erfassung im Rahmen der Früherfassung in → Kapitel 2.6 das Diagnoseinstrument smK72+ vorgestellt wird.

Bei einer Befragung von 243 betrieblichen Berufsbildenden aus Wirtschaft und Verwaltung, Baugewerbe, Hoch- und Tiefbau sowie Handel in den Kantonen Bern und Luzern wurden als wichtigste Selektionskriterien Selbst- und Sozialkompetenzen der Jugendlichen sowie unentschuldigte Absenzen auf der Sekundarstufe I aufgeführt. Daneben spielen Geschlecht, Nationalität, Schultyp sowie fachspezifische Kompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen eine bedeutende Rolle im Auswahlprozess (Neuenschwander, 2010).

Aufgrund der vorangehenden Ausführungen lässt sich festhalten, dass die für die Ausbildung im Lehrbetrieb verantwortlichen Personen über den Anschluss von Jugendlichen ans Berufsbildungssystem oder ihren Ausschluss bestimmen und somit eine grosse Verantwortung tragen. Um lehrstellensuchenden Jugendlichen ein chancengerechtes Auswahlprozedere zu garantieren, sollten die für die Selektion verantwortlichen Personen ihre Aufgabe ernst nehmen, ihr die gebührende Aufmerksamkeit und Sorgfalt schenken und für faire und transparente Auswahlverfahren sorgen. Eine sorgfältig durchgeführte Selektion kann die Gefahr von Lehrvertragsauflösungen und Lehrabbrüchen vermindern. Dieser Präventionsgedanke ist nicht nur unter einer pädagogischen, sondern auch unter einer ökonomischen Perspektive bedeutsam, weil Vertragsauflösungen zusätzlich zum Rekrutierungsaufwand zu Mehraufwand für die Betriebe führen.

 

Ein Vergleich der Selektionspraktiken der Betriebe ist allerdings schwierig, weil die jeweiligen Vorgehensweisen sehr unterschiedlich sind und sich nicht an allgemein festgelegten Kriterien orientieren.