Völkerrecht

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IV. Ausgewählte Sonderfälle der Ausübung diplomatischen Schutzes

Bei der Ausübung diplomatischen Schutzes sind einige praxisrelevante Besonderheiten zu beachten, deren abschließende Klärung bislang noch nicht erfolgt ist.

1. Mehrstaatigkeit

Zunächst wirft die Bestimmung des für die Gewährung diplomatischen Schutzes zuständigen Heimatstaates dann Probleme auf, wenn eine natürliche Person mehr als nur eine Staatsangehörigkeit besitzt. Angesichts der Entscheidung des IGH im Nottebohm-Fall (Nottebohm Case [Liechtenstein v. Guatemala], ICJ Reports 1955, 4) wird allgemein vertreten, dass ein Staat in einer derart gelagerten Situation nur dann zur Ausübung diplomatischen Schutzes berechtigt ist, wenn er durch bestimmte Fakten, wie z. B. eine emotionale Verbundenheit der Person zu dem Staat, eine „echte Verbindung“ („genuine link“, „genuine connection“) nachweisen kann. Das schließt jedoch nicht aus, dass das Erfordernis eines „genuine link“ im Falle von Mehrstaatern nicht auch von mehreren Staaten erfüllt sein kann. Gegenüber Drittstaaten ist dann jeder dieses Erfordernis erfüllende Heimatstaat zur Gewährung von diplomatischem Schutz berechtigt; Art. 6 ILC-Entwurf.

Diese Regel greift jedoch nicht, wenn ein Staat diplomatischen Schutz gegenüber einem anderen Staat ausüben möchte, dessen Staatsangehörigkeit die verletzte Person ebenfalls besitzt. Die neuere Entscheidungspraxis, die auch von Art. 7 des ILC-Entwurfs wiedergegeben wird, geht davon aus, dass in diesem Fall ein Staat nur dann zur Ausübung diplomatischen Schutzes gegenüber dem anderen Staat berechtigt ist, wenn die Staatsangehörigkeit „seines“ Staatsangehörigen als effektiver oder dominanter angesehen werden kann.

2. Staatenlosigkeit

Während die Ausübung diplomatischen Schutzes bislang nur zugunsten (eigener) Staatsangehöriger völkerrechtlich zulässig war, sieht Art. 8 Abs. 1 ILC-Entwurf auch die Möglichkeit diplomatischer Protektion zugunsten Staatenloser vor, um diese nicht schutzlos völkerrechtwidrigem Verhalten auszusetzen. Danach ist derjenige Staat zur Ausübung diplomatischen Schutzes zugunsten Staatenloser berechtigt, in dem der Staatenlose seinen rechtmäßigen und ständigen Wohnsitz hat. In Ermangelung einer entsprechenden Staatenpraxis dürfte es sich noch nicht um einen Rechtssatz des Völkergewohnheitsrechts handeln.

3. Bestimmung der Staatszugehörigkeit juristischer Personen

Sollten bei der Bestimmung der Staatszugehörigkeit juristischer Personen (→ Staatsangehörigkeit/-zugehörigkeit) die Gründungs- und die Sitztheorie zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, ist umstritten, welcher Theorie der Vorzug zu geben ist. Der IGH hat im Barcelona Traction-Fall (Case Concerning the Barcelona Traction, Light and Power Company, Limited [Belgium v. Spain], ICJ Reports 1970, 4) beide Theorien als Kriterien zur Bestimmung der Staatszugehörigkeit einer Gesellschaft gleichermaßen anerkannt.

Der ILC-Entwurf hat in Art. 9 die Grundsätze aus der Entscheidung des IGH aufgegriffen und eine Kompromisslösung gewählt. Demnach soll als Grundregel auf die Gründungstheorie abgestellt werden. Die Anwendung der Gründungstheorie wird hingegen in den Fällen als nicht sachgerecht empfunden, in denen die Gesellschaft im Gründungsstaat keine nennenswerte geschäftliche Tätigkeit ausübt und die Anteilseigner aus anderen Staaten als dem Gründungsstaat stammen. Unter diesen Umständen ist gemäß Art. 9 ILC-Entwurf entsprechend der Sitztheorie der Staat zur Ausübung diplomatischen Schutzes berechtigt, in dem die Geschäftsführung ihren Sitz unterhält und von dem aus die finanzielle Kontrolle der Gesellschaft ausgeübt wird. Beide Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein. Fehlt eine der Bedingungen, dann bleibt es bei der Grundregel, dass der Staat der Gründung der Gesellschaft zur Ausübung diplomatischen Schutzes berechtigt ist.

Zu unterscheiden von der Ausübung diplomatischen Schutzes zugunsten von Gesellschaften ist der diplomatische Schutz von Anteilseignern. Angesichts der grundlegenden systematischen Unterscheidung zwischen Gesellschaften einerseits und deren Gesellschaftern andererseits wird die Möglichkeit der Staaten, zugunsten von Anteilseignern zu intervenieren, grundsätzlich abgelehnt, sofern lediglich eine Verletzung der Gesellschaft vorliegt. Dies gilt selbst dann, wenn die gesamten Anteile einer Gesellschaft von einem Gesellschafter eines dritten Staates gehalten werden. Aufgrund einzelner Entscheidungen des IGH sowie der Bestimmungen im ILC-Entwurf ist als Ausnahme weitestgehend anerkannt, dass der Heimatstaat von Anteilseignern dann zur Gewährung diplomatischen Schutzes berechtigt ist, wenn die Gesellschaft aufgelöst wurde und nicht die Auflösung selber als Verstoß gerügt werden soll (vgl. Barcelona Traction, Art. 11 lit. a ILC-Entwurf). Darüber hinaus kann der Heimatstaat der Anteilseigner aufgrund völkervertraglicher Vereinbarungen zur Ausübung diplomatischen Schutzes berechtigt sein, wie es beispielsweise oftmals in Investitionsschutzverträgen (→ Investitionsrecht, internationales) vereinbart wird.

4. Übertragung des Rechts auf diplomatischen Schutz

Durch Vereinbarung kann ein Staat sein Recht zur Ausübung diplomatischen Schutzes auf einen dritten Staat übertragen. Häufig geschieht dies, wenn ein Staat keine eigene diplomatische Mission in einem bestimmten anderen Staat unterhält. So wird beispielsweise der diplomatische und konsularische Schutz der Staatsbürger des Fürstentums Liechtenstein regelmäßig durch die Schweiz ausgeübt. Ein weiteres Beispiel ist Art. 23 AEUV, der Unionsbürgern einen Anspruch auf Schutz durch die diplomatischen und konsularischen Behörden eines anderen EU-Staates verleiht, sofern der eigene Mitgliedstaat keine Vertretung in einem Drittstaat besitzt. Fraglich ist, wie weit der durch Art. 23 AEUV gewährte Schutzanspruch reicht. Dabei ist zwischen dem diplomatischen und dem konsularischen Schutz zu unterscheiden ist. Beim diplomatischen Schutz wird der Heimatstaat direkt gegenüber einem Drittstaat tätig, indem er beispielsweise einen Protest einreicht oder eine gerichtliche Streitbeilegung herbeizuführen versucht. Beim konsularischen Schutz handelt es sich hingegen um die Betreuung von Staatsangehörigen, wie z. B. die Unterstützung bei Visumsangelegenheiten oder der Hilfe in Notsituationen, die grundsätzlich kein direktes Tätigwerden gegenüber dem Drittstaat notwendig macht. Zwar spricht der deutsche Wortlaut des Art. 23 AEUV vom „diplomatischen und konsularischen Schutz“. Zu beachten ist aber, dass der Wortlaut dieser Vorschrift in anderen Sprachen für eine restriktivere Interpretation spricht (engl.: „protection by the diplomatic or consular authorities“); gemeint ist dort nur der konsularische Schutz, der von beiden Einrichtungen (Botschaften und Konsulaten) wahrgenommen wird (so auch Art. 46 GR-Ch.). Die Ausübung diplomatischen Schutzes zugunsten fremder Staatsangehöriger ist völkerrechtlich zudem nur dann zulässig, wenn eine ausdrückliche Vereinbarung mit dem betreffenden Drittstaat vorliegt. Die Berechtigung, konsularischen Schutz zugunsten fremder Staatsangehöriger zu gewähren, besteht völkerrechtlich bereits auf der Grundlage einer Notifikation gegenüber dem Drittstaat (Art. 8 WÜK). Demgemäß haben die EU-Staaten nur entsprechende Notifikationen gegenüber Drittländern vorgenommen. Auch das zu Art. 23 AEUV ergangene Sekundärrecht beschränkt den Anspruch auf konsularische Maßnahmen.

5. Internationale Organisationen

In Bezug auf → Internationale Organisationen sind zwei Konstellationen zu unterscheiden: Zum einen kann die Internationale Organisation diplomatischen Schutz zugunsten eines ihrer Bedienstete ausüben wollen, und zum anderen kann ein Staat versuchen, zugunsten eines seiner Staatsangehörigen diplomatischen Schutz gegenüber einer Internationalen Organisation zu gewähren.

Hinsichtlich der erstgenannten Konstellation wird angesichts der Entscheidung des IGH im Reparation for Injuries-Fall (Reparation for Injuries Suffered in the Sevice of the United Nations, ICJ Reports 1949, 174) angenommen, dass die Internationale Organisation aufgrund einer funktionalen Betrachtungsweise zur Schutzausübung und mithin zur Geltendmachung von Schäden berechtigt ist. Gleichzeitig ist es aber auch dem Heimatstaat der betroffenen Person erlaubt, diplomatischen Schutz auszuüben.

Der umgekehrte Fall, nämlich die Ausübung diplomatischer Protektion gegenüber einer Internationalen Organisation, ist bisher in der Staatenpraxis nicht vorgekommen. Es besteht weithin Einigkeit, dass die Regeln des diplomatischen Schutzes, die zwischen Staaten gelten, analog anzuwenden sind. Eine ganze Reihe von Detailfragen, etwa der Notwendigkeit der Erschöpfung des Rechtsweges, sind allerdings noch nicht abschließend geklärt.

V. Art und Umfang der Schutzausübung

Der jeweilige Heimatstaat verfügt über einen erheblichen Ermessenspielraum, ob und ggf. in welcher Weise er diplomatischen Schutz gewähren will. Zu den häufigsten Maßnahmen gehören Verhandlungen mit dem Verletzerstaat, offizieller Protest, ökonomischer Druck sowie die Androhung einer Verschlechterung oder der Abbruch der diplomatischen Beziehungen, die allesamt – weil ohnehin von der Völkerrechtsordnung erlaubt (Retorsion) – keinen besonderen Voraussetzungen unterliegen, sowie → Gegenmaßnahmen (Repressalien), die zwar für sich genommen völkerrechtswidrig sind, aber als Reaktion auf ein völkerrechtswidriges Verhalten gerechtfertigt sein können. Bei Zustimmung des Verletzerstaates besteht zudem die Möglichkeit, ein gerichtliches oder schiedsgerichtliches Verfahren durchzuführen (→ Streitbeilegung, friedliche [allg.]). Ergibt sich bei einer Vertragsverletzung aus dem zugrundeliegenden Vertragswerk ein eigenständiges Streitbeilegungskonzept, dann ist dieses zu verwenden.

 

Nicht völlig unumstritten ist die Frage, ob zur Ausübung diplomatischen Schutzes in Ausnahmefällen die Anwendung von Gewalt erlaubt ist. In der Praxis ist es wiederholt vorgekommen, dass Staaten eigene Staatsangehörige mit militärischen Mitteln aus lebensbedrohlichen Situationen, denen sie in fremden Hoheitsgebieten ausgesetzt waren, befreiten. Nach überwiegender Ansicht verstößt ein solches Vorgehen allerdings gegen das in Art. 2 Ziff. 4 UN-Ch. enthaltene → universelle Gewaltverbot. Art. 1 ILC-Entwurf spricht daher auch konsequenterweise davon, dass diplomatischer Schutz nur durch „diplomatic action or other means of peaceful settlement“ auszuüben sei.

Da nach herrschender Ansicht ein Heimatstaat im Wege des diplomatischen Schutzes die Verletzung eines eigenen Rechtes geltend macht (oben II.), ist der Heimatstaat auch Inhaber eines eventuellen Wiedergutmachungsanspruches. Etwaige Entschädigungszahlungen sind daher grundsätzlich an den betreffenden Heimatstaat zu richten und nicht an die geschädigte Person, zu deren Gunsten der Heimatstaat intervenierte. Zwar soll der Heimatstaat nach Art. 19 lit. c ILC-Entwurf vom Verletzerstaat erhaltene Zahlungen an die geschädigte Person weiterleiten. Einer völkerrechtlichen Verpflichtung unterliegt er insoweit aber nicht.

VI. Anspruch auf diplomatischen Schutz in der BR Deutschland

Die natürliche oder juristische Person, zu deren Gunsten ihr Heimatstaat diplomatischen Schutz gegenüber dem Verletzerstaat auszuüben berechtigt ist, hat aus dem Völkerrecht selbst keinen eigenen Anspruch gegen ihren Heimatstaat auf die Gewährung dieses Schutzes. Dies bemisst sich allein nach dem jeweiligen nationalen Recht, für deutsche Staatsangehörige/Staatszugehörige somit allein aus der deutschen Rechtsordnung.

Art. 112 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung (1919) enthielt noch folgende Bestimmung: „Dem Ausland gegenüber haben alle Reichsangehörigen inner- und außerhalb des Reichsgebietes Anspruch auf den Schutz des Reichs.“ Eine ausdrückliche Regelung findet sich heute jedoch weder in Art. 16 GG noch in einer anderen Vorschrift der deutschen Rechtsordnung. Dennoch ist in der Rechtsprechung des BVerfG (E 55, 349 [364 f.]; 77, 170 [214 f.]; 92, 26 [46 f.]) anerkannt, dass aus der Schutzpflichtendimension der nationalen Grundrechte (in Verbindung mit der deutschen Staatsangehörigkeit/-zugehörigkeit) prinzipiell auch eine Schutzpflicht des deutschen Staates gegenüber seinen Staatsangehörigen abzuleiten ist, wenn diese von einer ausländischen Hoheitsgewalt in ihren Grundrechten beeinträchtigt werden. Bei völkerrechtswidrigen Enteignungen (→ Enteignungsrecht, internationales) kann sich eine solche Schutzpflicht z. B. aus Art. 14 GG ergeben.

Aufgrund des Charakters der Maßnahme als Handlung im außenpolitischen Bereich besteht bei der Gewährung diplomatischen Schutzes allerdings ein weiter Ermessensspielraum der Bundesregierung (BVerfGE 40, 141 [177 f.]; 55, 349 [364 f.]), ob und mit welchen Mitteln sie diplomatischen Schutz gewähren möchte. Bei der Ermessenausübung haben neben den Interessen der verletzten Person u. a. wichtige Belange der Allgemeinheit und der außenpolitischen Beziehungen Berücksichtigung zu finden.

E Inhaltsverzeichnis

Effektivitätsprinzip

Eigentumsschutz

Enteignungsrecht, internationales

Erga omnes-Pflichten

Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

E › Effektivitätsprinzip (Marten Breuer)

Effektivitätsprinzip (Marten Breuer)

I. Allgemeines

II. Abgrenzung

III. Anwendungsbeispiele

1.Entstehung von Staaten

2.Anerkennung von Regierungen

3.Entstehung von Völkergewohnheitsrecht

4.Gebietserwerb

IV. Gegenläufige Tendenzen

1.Das universelle Gewaltverbot

2.Ius cogens

Lit.:

D. Blumenwitz, Uti possidetis iuris – uti possidetis de facto. Die Grenze im modernen Völkerrecht, in: Raum und Recht. Festschrift 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, 2002, 377; H. Krieger, Das Effektivitätsprinzip im Völkerrecht, 2000; H. Krüger, Das Prinzip der Effektivität, oder: Über die besondere Wirklichkeitsnähe des Völkerrechts, in: FS für J. Spiropoulos, 1957, 265.

I. Allgemeines

Der Begriff der Effektivität kann im Zusammenhang mit dem Völkerrecht in zwei unterschiedlichen Bedeutungsvarianten verwendet werden: Zum einen kann damit die Frage nach der praktischen Wirksamkeit völkerrechtlicher Normen gemeint sein. Sie steht in engem Zusammenhang mit der Frage nach der Geltung (dem → Rechtscharakter, Geltungsgrund und Legitimität) des Völkerrechts überhaupt und wird insoweit vor allem von denjenigen thematisiert, die dem Völkerrecht mit Blick auf seine Durchsetzungsschwäche den Rechtscharakter absprechen. Darüber hinaus ist die so verstandene Frage nach der Effektivität des Völkerrechts vornehmlich eine rechtssoziologische, d. h. es geht um die Ermittlung derjenigen Faktoren, die vorliegen müssen, damit eine Norm in der Rechtswirklichkeit befolgt wird.

Der Begriff der Effektivität des Völkerrechts kann jedoch auch in einem zweiten, normativen Sinne verwendet werden. Dabei geht es um den Befund, dass das Völkerrecht in stärkerem Maße als das nationale Recht an faktische Gegebenheiten anknüpft und diese rechtlich sanktioniert (ex factis ius oritur). Damit freilich sieht sich das Völkerrecht dem Vorwurf ausgesetzt, es kapituliere vor der Faktizität der Ereignisse und höbe sich damit zugleich selbst auf. Dem wird man im Ergebnis nicht zustimmen können: Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, kommt der Anknüpfung an die Effektivität gewisser Sachverhalte im Völkerrecht vor allem eine Publizitätsfunktion zu, die wiederum aus dem dezentralen Charakter des Völkerrechts – dem Fehlen einer zentralen Rechtsetzungs- und -durchsetzungsinstanz, wie sie in innerstaatlichen Fällen der Staat mit seinem Gewaltmonopol darstellt – erklärlich ist. Zugleich ist das Abstellen auf die Effektivität im Völkerrecht Ausdruck seines traditionell wertneutralen Charakters. Daraus folgt zugleich, dass in dem Maße, wie das Völkerrecht in jüngerer Zeit zunehmend mit bestimmten Werten aufgeladen wird, das Effektivitätsprinzip zurückgedrängt wird (hierzu näher unter IV.).

II. Abgrenzung

Bevor dem so verstandenen Effektivitätsprinzip im Völkerrecht nachgegangen werden kann, gilt es einige Fälle auszusondern, die zwar regelmäßig in dem vorliegenden Zusammenhang genannt werden, die jedoch mit dem völkerrechtsspezifischen Effektivitätsprinzip nicht in Verbindung zu bringen sind. Dabei handelt es sich zum einen um das Rechtsinstitut der Ersitzung (→ Gebietserwerb), zum anderen um die sog. clausula rebus sic stantibus. Das Völkergewohnheitsrecht kennt mit dem Rechtsinstitut der Ersitzung einen Erwerbstitel, der zweifellos in besonderem Maße auf die effektive Situation abstellt, indem an die ungestörte, ununterbrochene und unbestrittene Herrschaftsausübung über geraume Zeit mit entsprechenden Herrschaftswillen (animus domini) die Rechtsfolge des Gebietserwerbs geknüpft wird. Dass die Ersitzung vorliegend nicht als ein Fall des völkerrechtsspezifischen Effektivitätsprinzips angesehen wird, hängt damit zusammen, dass das Rechtsinstitut der Ersitzung trotz gewisser Unterschiede grds. auch im nationalen Recht bekannt ist (z. B. § 937 BGB). Die Ersitzung ist damit nicht auf die strukturellen Besonderheiten des Völkerrechts zurückzuführen, sondern stellt vielmehr eines der Institute dar, mittels derer rechtsordnungsübergreifend ein dauerhaftes Auseinanderfallen von Sein und Sollen vermieden wird.

Entsprechendes gilt für die aus dem Völkervertragsrecht bekannte clausula rebus sic stantibus (Art. 62 WVRK; Sart. II, Nr. 320), die im innerstaatlichen Recht mit dem Rechtsinstitut des Wegfalls der Geschäftsgrundlage korrespondiert. Beide Institute verfolgen das Ziel, ein für die Vertragspartner aufgrund nachträglich eingetretener faktischer Veränderungen nicht länger zumutbares Festhalten am Vertrag zu beenden. Auf diese Weise wird – wiederum rechtsordnungsübergreifend – ein dauerhaftes Auseinanderfallen von Sein und Sollen vermieden.

III. Anwendungsbeispiele

1. Entstehung von Staaten

Als ein erstes Anwendungsbeispiel des Effektivitätsprinzips im Völkerrecht sind die Voraussetzungen für die Begründung von Staatlichkeit zu nennen. Nach der auf Georg Jellinek zurückgehenden Drei-Elemente-Lehre ist ein → Staat durch das Vorliegen von → Staatsgebiet, → Staatsvolk und → Staatsgewalt gekennzeichnet. Allerding ist nicht jegliche Form von Staatsgewalt ausreichend, vielmehr muss die Staatsgewalt von anderen Staaten unabhängig sein und sich mit Aussicht auf Dauer etabliert haben. Da die → Anerkennung eines Staates nach der heute ganz herrschenden deklaratorischen Theorie nicht als viertes Tatbestandsmerkmal hinzutritt, kommt dem Faktischen – dem Vorliegen effektiver Staatsgewalt – hier augenscheinlich rechtsbegründende Wirkung zu.

Dem ist indes nicht so: Wie bereits vorstehend angedeutet, hat das Effektivitätsprinzip in diesem Fall vor allem Publizitätsfunktion. Da in der dezentral organisierten Völkerrechtsordnung keine Instanz existiert, die autoritativ über das Vorliegen von Staatlichkeit entschiede, ist Zurückhaltung bei einer vorschnellen Bejahung von Staatlichkeit geboten. Bedeutung kommt dem vor allem bei Sezessionsprozessen zu, indem der sezedierende Staatsteil nur und erst dann als eigenständiger Staat anerkannt wird (werden darf), wenn er sich von dem Mutterstaat effektiv und mit Aussicht auf Dauer losgelöst hat. Auch wenn es sich bei dieser Frage um eine wertungsmäßige Prognoseentscheidung handelt, die von den Staaten naturgemäß unterschiedlich beurteilt werden kann, verhindert doch das Abstellen auf die Effektivität der Staatsgewalt, dass Staaten in interne Konflikte hineingezogen werden. In diesem Sinne hat das Effektivitätsprinzip auch eine friedenswahrende Funktion. Darüber hinaus wird durch das Erfordernis der Effektivität der Staatsgewalt verhindert, dass Entitäten als Staaten anerkannt werden, die nicht in der Lage sind, ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen auf dem eigenen Territorium durchzusetzen. Insofern mag von einer Rechtsgewährleistungsfunktion gesprochen werden.

 

Die Bedeutung der hier als vorrangig angesehenen Publizitätsfunktion lässt sich deutlich im Falle des Untergangs von Staaten belegen. Bekanntlich ist das Völkerrecht bei der Annahme eines Untergangs von Staaten sehr zurückhaltend. Nur und erst, wenn die Staatsgewalt endgültig und dauerhaft entfallen ist, geht ein Staat unter. Das führt dazu, dass bisweilen der Fortbestand eines Staates trotz eigentlichen Entfallens der Staatsgewalt fingiert wird. Mit dem Effektivitätsprinzip steht das nicht notwendigerweise in Widerspruch: Da dem Publizitätserfordernis bereits bei der Entstehung des Staates genügt worden ist, tritt dieser Aspekt beim Entfallen effektiver Staatsgewalt in den Hintergrund. Vorrangig ist aus Sicht des Völkerrechts nun vielmehr das Bestreben, die Entstehung staatsfreier Räume zu vermeiden, indirekt somit wiederum das Ziel der Friedenssicherung.