Das Enneagramm

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Die neun Gesichter der Seele

Den Hauptteil dieses Buches bilden die Profile der neun Enneagrammmuster. Es handelt sich dabei um Grobskizzen und manchmal um Karikaturen. Die Übertreibung dient dazu, die Konturen holzschnittartig hervortreten zu lassen. Nicht alle Merkmale treffen auf alle VertreterInnen eines bestimmten Musters zu. Es geht um das Angebot, sich im Spiegel dieser Darstellungen selbst zu prüfen. Dasselbe Ziel wird mit der Darstellung bestimmter Symbole verfolgt: Jedem Muster werden traditionellerweise eine Reihe von Tieren zugeordnet. Wirkliche oder allgemein anerkannte Wesenszüge dieser Tiere haben ihre Entsprechung im Wesen des jeweiligen Musters (bei den pubertären Initiationsriten der Indianer spielt die Suche nach dem „Totemtier“ eine entscheidende Rolle!). Auch bestimmte Nationen stehen für einzelne Typenmerkmale. Damit sollen keine ethnischen Vorurteile geschürt werden; es geht eher um eine spielerische Annäherung an die jeweilige Energie, und die entsprechenden Vorstellungen sollten daher mit einer Prise Humor aufgenommen werden. Symbolfarben, biblische Gestalten, Heilige und Persönlichkeiten aus Geschichte, Literatur und Weltöffentlichkeit werden ebenfalls erwähnt, damit das Bild farbiger wird und „Fleisch“ bekommt. Diese Beispiele entsprechen zum Teil der subjektiven Einschätzung der Autoren und beanspruchen keinerlei Verbindlichkeit. Im Gegenteil: Wir möchten die Fantasie der LeserInnen anregen, im vieldeutigen Reich der Symbole auf eigene Entdeckungsreisen zu gehen und eigenes Anschauungsmaterial für die jeweilige Energie zu finden. Es wäre zum Beispiel reizvoll, die Kräfte, die in Märchen walten, mithilfe des Enneagramms zu benennen oder den neun Energien bestimmte Musikstile oder Tanzarten zuzuordnen.

Wir wandern im Folgenden von Muster EINS ausgehend – man könnte auch irgendwo anders anfangen – um den gesamten Kreis herum und merken dabei, wie sich die Charaktere und ihre Merkmale in einem kontinuierlichen Fluss verändern. Das führt dazu, dass jedes Muster auch Merkmale seiner beiden Nachbarn in sich hat, die sogenannten „Flügel“. Wir werden dieses wichtige Phänomen gelegentlich streifen. Im Anschluss an die neun Skizzen kommen wir ausführlicher darauf zu sprechen.

Inzwischen gibt es eine Reihe von Tests, mit denen man herausfinden kann, zu welchem Enneagrammmuster man möglicherweise gehört. Dennoch empfehlen wir zunächst einen anderen Weg: Es ist sinnvoll, zunächst alle neun Beschreibungen dieses Buches durchzulesen. Manchen wird sofort klar sein, wo sie „zu Hause“ sind. Andere werden dazu eine Weile brauchen. Ein gutes Kriterium ist folgendes: Wenn mir bei einer Typenbeschreibung „mulmig“ wird, könnte es sein, dass ich mich auf heimatlicher Scholle befinde. Die eigentliche Erkenntnis ist oft mit einem Aha-Erlebnis verbunden, das sich aber manchmal erst nach Wochen und Monaten und nach Gesprächen mit anderen einstellt. Um dem eigenen Muster auf die Spur zu kommen, ist jedenfalls zunächst die Selbsterforschung und -einschätzung durch nichts zu ersetzen. Danach kann man sich mit Menschen austauschen, die einem nahe stehen und einen gut kennen. Als dritte Priorität wäre der Austausch mit einer Person zu nennen, die das Enneagramm gut kennt. Erst dann wäre ein Kontrolltest sinnvoll.

Jedes der neun Muster umfasst eine große Bandbreite, die wir uns wie eine kontinuierliche Skala vorstellen können, die zwischen den Extrempolen „unreif“ und „gereift“ verläuft. Ein unreifer Mensch – gleichgültig, welchem der Muster er angehört – ist in sich selbst gefangen. Martin Luther sprach vom „homo incurvatus in se ipsum“, vom „in sich selbst verkrümmten Menschen“. Solche Personen nehmen sich selbst zu ernst und meinen, ihr Blickwinkel sei das Ganze. Die Sufis nannten das Enneagramm der Legende nach das „Antlitz Gottes“. Sie stellten sich den Erlösungsweg des Menschen so vor, dass er immer fähiger wird, den eigenen Standort zu verlassen, um das Leben von einer anderen Warte aus zu betrachten als von der antrainierten und fixierten eigenen Verengung. Der Schritt über den eigenen Standort hinaus lässt sich relativ leicht zu den „Flügeln“ oder Nachbarnummern hin vollziehen. Je weiter man sich aber von der eigenen Zahl entfernt, desto schwieriger wird es. Die Energien, die auf der anderen Seite des Kreises angesiedelt sind, erscheinen uns zunächst fremd und fern zu sein. Aber wie bereichernd könnte es sein, wenn wir innerlich dorthin gelangen könnten! Wenn wir fähig wären, uns alle neun Paar Schuhe anzuziehen und die Wirklichkeit von allen neun Seiten anzusehen, dann würden wir die Welt gleichsam mit den Augen Gottes betrachten. Die in sich selbst gefangene, unreife Person ist dazu nicht fähig.

Am anderen Ende des Spektrums finden wir die gereifte Persönlichkeit. Keiner von uns ist dort bereits angelangt. Wir alle befinden uns irgendwo zwischen den beiden Polen. Je älter und reifer wir werden und je näher wir Gott, dem Zentrum, kommen, desto mehr bewegen wir uns auf die erlöste Seite zu. Um das zu tun, braucht man übrigens nicht das Enneagramm zu kennen. Wir sind nicht die neuen Übermenschen, weil wir es haben. Das Enneagramm artikuliert etwas, was spirituell gereifte Menschen schon immer intuitiv erfasst und praktiziert haben.

Man spürt sofort, wenn man solch einem befreiten, ganzen Menschen begegnet. Wir alle sind fähig und berufen, diesen Weg zu gehen. Eine große Hilfe ist die Gemeinschaft. Ein Eigenbrödler wird selten wirklich bekehrt werden, denn er isoliert sich von jenen anderen Stimmen und Wahrheiten, die die eigene Wahrnehmung herausfordern und ergänzen.

Erlösung ist das Werk der Gnade Gottes, das sich ohne unser Zutun ereignet, wenn wir loslassen und uns einer größeren Wirklichkeit aussetzen, wenn wir uns ins Zentrum fallen lassen: in Gott. Wenn das geschehen ist, werden wir merken, dass selbst das Loslassen und Sich-Öffnen für Gott nicht unser Werk war, sondern Gottes Liebeswerben um uns zu verdanken ist.

Anders als andere Autoren verzichten wir darauf, den neun Typen zu den Zahlen auch noch festlegende Namen zu geben. Die Klassifizierung durch Nummern verdeutlicht, dass es nicht um Wertungen geht. Alle neun Typen sind „gefallene Menschen“ und bedürfen der Erlösung, um immer mehr die zu werden, die sie vor Gott bereits sind. Kein Typ ist besser oder schlechter als die anderen. Alle neun sind erlösungsbedürftig und alle neun haben einmalige Gaben, die nur sie auf diese Weise in die Gemeinschaft einbringen können.

Es wurde bereits gesagt, dass die Auseinandersetzung mit dem Enneagramm vor allem in den Jahren der Lebensmitte und danach sinnvoll ist. In dieser Zeit haben einige bereits so viel „innere Arbeit“ hinter sich, dass vieles von dem, was in den Typenbeschreibungen gesagt wird, nicht mehr im vollen Umfang auf sie zutrifft. In der Zeit um 20 herum leben wir in der Regel am unmittelbarsten aus unserer Hauptenergie. Deshalb ist es ratsam, sich bei der Lektüre der Beschreibungen ab und zu fragen: „Wie war ich, als ich 20 war?“

Jede der Beschreibungen ist in vier Abschnitte gegliedert: Nach einem ausführlichen Überblick über den jeweiligen Typ stellen wir sein spezifisches Dilemma dar. Das umfasst die typenspezifische Versuchung, auf eine ganz bestimmte Weise mit den Konflikten des Lebens umzugehen; die jeweiligen Wurzelsünden (= Leidenschaften), Vermeidungen und Abwehrmechanismen werden beschrieben. Erste Hinweise auf die Gabe oder Geistesfrucht, die ja die Kehrseite der Wurzelsünde darstellt, finden sich ebenfalls in diesem Teil. Schließlich wird die Falle oder Fixierung des jeweiligen Typs erläutert. Damit ist sein eingefahrenes Wahrnehmungs- und Handlungsmuster gemeint, das unbewusste Lebensprogramm. In einem dritten Schritt folgen Symbole (Tiere, Länder, Farben) und Beispiele aus Literatur, Geschichte und Bibel. Am Ende stehen Hinweise auf das, was zur jeweiligen Umkehr und Reifung beitragen kann: die spezifische Berufung oder Einladung zur Veränderung, besondere Lebensaufgaben und Anregungen für den Umgang mit sich selbst. Die Darstellung eines oder einer Heiligen, das heißt einer Person, die – ohne ihren Typ zu verleugnen – ihre Gabe schöpferisch in den Dienst des Lebens gestellt hat, rundet diesen letzten Teil jeweils ab. Am Ende dieses Buches finden Sie auf vier Seiten alle Begriffe in einer Tabelle zusammengefasst. Sie können diese Seiten heraustrennen und – zu einem kleinen Merkheft gefaltet – als Hilfsmittel bei der Lektüre des Buches, aber auch bei Gesprächsgruppen zum Enneagramm verwenden.

Zweiter Teil DIE NEUN MUSTER

Muster EINS


Überblick 1

EINSer sind IdealistInnen, die von der Sehnsucht nach einer wahrhaftigen, gerechten und moralischen Welt motiviert und angetrieben werden. Sie sind ehrlich und fair und können andere anspornen, an sich zu arbeiten, um zu reifen und zu wachsen. Oft sind EINSer begnadete LeiterInnen und LehrerInnen, die bemüht sind, mit gutem Beispiel voranzugehen. Schwer tun sie sich, fremde und vor allem eigene Unvollkommenheiten anzunehmen. Nur wenn sie bei sich selbst sind und in sich ruhen, können sie akzeptieren, in einer (noch) unvollkommenen Gegenwart zu leben und auf das allmähliche Wachstum des Guten (christlich: des Reiches Gottes) zu vertrauen.

Von klein auf versuchen EINSer, Musterkinder zu sein. Schon in sehr jungen Jahren haben sie jene Stimmen internalisiert, die gefordert haben: „Sei brav! Benimm dich! Streng dich an! Sei nicht kindisch! Mach es besser!“ Damals haben sie gleichsam beschlossen, die Liebe ihrer Umwelt zu verdienen, indem sie solche Erwartungen erfüllen und „gut“ sind. Sie haben versucht, Kriterien herauszufinden, zu entwickeln und einzuhalten, nach denen man beurteilen kann, was „gut“ und „schlecht“, „richtig“ und „falsch“ ist. Die urteilenden Stimmen im Inneren verstummen nie.

 

Oft ist einer der beiden Elternteile einer EINS moralistisch, perfektionistisch oder ewig unzufrieden; mit Lob wird gegeizt, überdurchschnittliche Leistungen werden als selbstverständlich vorausgesetzt. Schon die kleinen EINSer erbrachten diese Leistungen, weil sie die Liebe ihrer wichtigsten Bezugsperson nicht verlieren wollten.

Alice Miller hat in ihrem gleichnamigen Buch das „Drama des begabten Kindes“ beschrieben.2 Viele Eltern kompensieren ihre Mangelerlebnisse und eigene unerfüllte Lebensträume dadurch, dass sie das, was ihnen fehlt, in ihren Kindern nachholen und verwirklichen wollen. Um die Liebe der Eltern nicht zu verlieren, lernt das Kind, die Bedürfnisse und Erwartungen von Vater und Mutter zu erfüllen, verliert dabei aber den Zugang zu den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen und zu seinem wahren Selbst. EINSer sind solche „begabten Kinder“.

Nach Sigmund Freuds Auffassung spielt in diesem Zusammenhang die Reinlichkeitserziehung eine wichtige Rolle. Das Musterkind ist frühzeitig „sauber“. Don R. Riso versucht, die Enneagrammtypen mit den Kategorien Freuds in Einklang zu bringen und beschreibt Typenmuster EINS als „anal-retentiv“3. Damit ist auf der physiologischen Ebene die Weigerung gemeint, Stuhlgang zu produzieren. Diese Weigerung signalisiert eine Blockade gegen die Verursachung von Schmutz.

Ich (Richard Rohr) war der Liebling meiner Mutter. Diese Vorzugsstellung wollte ich nicht verlieren. Um mir die Zuwendung meiner Mutter zu erhalten, habe ich ihre Erwartungen erfüllt. Irgendwann machen EINSer aus der Not eine Tugend. Ihre Selbstkontrolle und vermeintliche moralische Überlegenheit wird zum Ersatz für den Verzicht auf „niedere Genüsse“, die sie sich versagen. Ich kann mich daran erinnern, dass meine Mutter eines Tages gesagt hat: „Wäre es nicht wunderbar, einen Sohn zu haben, der Priester ist?“ Weil ich ein guter Junge bin, habe ich gemacht, was sie sich gewünscht hat. Wenn man im vorkonziliaren Katholizismus der 50er Jahre beweisen wollte, dass man mit Ernst und Konsequenz den Weg des Glaubens geht, wurde man Priester!

EINSer versuchen gut zu sein, um nicht bestraft werden. Sie wollen um jeden Preis verhindern, dass sie vom eigenen „Gewissen“ verdammt werden. Eines Tages ist es nicht mehr die reale Mutter, die diese Rolle übernimmt. Die Forderungen der Mutter sind internalisiert und zu den eigenen unerbittlichen Ansprüchen geworden. Es sind die eigenen strafenden Stimmen, die jetzt anklagen, wenn die EINS nicht edel, hilfreich und gut genug ist. Dabei geht es nicht unbedingt um objektive Opferbereitschaft oder Güte, sondern um das eigene subjektive Konzept dieser Tugenden. Im Inneren von EINSern wird andauernd Gericht gehalten; sie sind ihr eigener Ankläger, Verteidiger und Richter. Die streitenden Stimmen reden permanent auf sie ein, fallen sich gegenseitig ins Wort, widersprechen sich, korrigieren sich. Wer keine EINS ist, kann sich kaum vorstellen, wie anstrengend es ist, diesen endlosen inneren Strafprozess durchzustehen.

An dieser Stelle muss der „objektive Prozessbeobachter“ ins Spiel kommen und sagen: „Hör auf damit! Lass dich nicht von deinen eigenen überzogenen Ansprüchen und moralischen Prinzipien verrückt machen. Und denk daran, dass das deine subjektiven Maßstäbe sind und nicht die objektive Wahrheit!“

Das EINSer-Kind hat auf die Entwicklung seines wahren Selbst verzichtet, um anderen zu gefallen und die Liebe der Menschen zu verdienen, die signalisiert haben: „Du bist nur o. k., wenn du perfekt bist!“ Dem EINSer-Kind wurde die Kindheit ausgetrieben; es musste zu früh wie ein Erwachsener handeln. Oft musste es Verantwortung für eine Familie übernehmen, in der ein Elternteil ausgefallen war, oder es musste als ältestes Kind Vorbild für die jüngeren Geschwister sein.

Der Schriftsteller Erich Kästner (1899 – 1974), Sohn einer allein erziehenden Mutter, „Musterknabe“ und „Moralist“, wie er sich selber nannte, war solch ein begabtes Kind. Er hat nie geheiratet und bis zu ihrem Tod seiner Mutter täglich (!) zumindest eine Postkarte geschrieben. Seine Kinderbücher wurden weltberühmt. Zwar fordert Kästner seine jungen Leserinnen und Leser auf: „Lasst euch die Kindheit nicht austreiben!“; gleichzeitig aber agieren die Helden seiner Kinderbücher („Emil und die Detektive“, „Das fliegende Klassenzimmer“, „Pünktchen und Anton“) wie kleine Erwachsene und sind ungemein reif, moralisch hoch stehend und vernünftig.

Kästners Gedicht „Zur Photographie eines Konfirmanden“ merkt man jene Trauer um die nicht gelebte und verlorene Kindheit an, die EINSer in sich tragen:

Da steht er nun, als Mann verkleidet,

und kommt sich nicht geheuer vor.

Fast sieht er aus, als ob er leidet.

Er ahnt vielleicht, was er verlor.

Er trägt die erste lange Hose.

Er spürt das erste steife Hemd.

Er macht die erste falsche Pose.

Zum ersten Mal ist er sich fremd.

Er hört sein Herz mit Hämmern pochen.

Er steht und fühlt, dass gar nichts sitzt.

Die Zukunft liegt ihm in den Knochen.

Er sieht so aus, als hätts geblitzt.

Womöglich kann man noch genauer

erklären, was den Jungen quält:

Die Kindheit starb; nun trägt er Trauer

und hat den Anzug schwarz gewählt.

Er steht dazwischen und daneben.

Er ist nicht groß. Er ist nicht klein.

Was nun beginnt, nennt man das Leben.

Und morgen früh tritt er hinein.4

Das, was bisher geschildert wurde, betrifft viele Menschen. Zumindest ein bisschen von diesem Idealismus, Moralismus und Perfektionismus steckt in den meisten von uns, vor allem aber in religiös erzogenen Menschen. Durch eine ausgeprägte religiöse Erziehung werden in der Regel moralisierende Stimmen verinnerlicht und verstärkt.

Ich (Richard Rohr) schneide beispielsweise leidenschaftlich gern Coupons für Sonderangebote aus der Zeitung aus, weil meine Mutter das auch getan hat. Ich bin ständig hinter Preisnachlässen her und würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich mich dabei unwohl fühle. Es ist ein gutes Gefühl, Geld zu sparen! Aber welche Wertmaßstäbe liegen diesem Zwang zugrunde? Das Ganze hätte einen gewissen Sinn, wenn ich das gesparte Geld den Armen geben würde. Aber ich, der Franziskaner, trage es auf die Bank – was ist daran eigentlich „gut“? Trotzdem fühle ich mich wohler, wenn ich sparen kann. Die frühkindliche Prägung meines Gewissens sagt mir, es sei besser, richtiger und heiliger, Geld zu sparen als Geld auszugeben. Meine Mutter war eine gute deutsche Hausfrau. Reinlichkeit kam bei ihr gleich nach Heiligkeit. In meiner Wohnung spiegelt sich diese Haltung wider: Bei mir ist es blitzsauber, vom Eingang bis zur Hintertür und selbst in verborgensten Winkeln und Ecken. Bei mir kann man vom Fußboden essen. Ich putze jedes Mal, bevor ich die Stadt verlasse. Falls ich unterwegs sterbe und jemand mein Haus betritt, sollen alle wissen, dass ich sauber und ordentlich war! Ich könnte natürlich sagen: „Das ist doch egal!“ Aber ich fühle mich wohler, wenn alles reinlich ist. Die Stimmen in mir sind überzeugt davon, dass Sauberkeit gut ist und Dreck schlecht.

Ich bin ein Ordnungsfanatiker und sehe sofort, wenn etwas am falschen Platz liegt. Und ich fühle mich wohler, wenn alles da ist, wo es hingehört. Immerhin kann ich inzwischen darüber lachen. Ich nehme es nicht mehr so ernst und weiß, dass es mein Problem ist. Wenn andere den Aschenbecher nicht ausleeren, dann halte ich keine Moralpredigten mehr, weil ich mittlerweile weiß, dass ich diesbezüglich überkandidelt bin.

Dilemma

Die Suche nach Vollkommenheit beherrscht das Leben der EINS und ist ihre eigentliche Versuchung. Im Kampf gegen die Unvollkommenheit kann sich eine EINS zu einem Don Quijote entwickeln, der gegen Windmühlen kämpft und den „unmöglichen Traum“ träumt. Wenn sie etwas sehen, was in etwa ihrem Ideal entspricht, können EINSer vor Freude aus dem Häuschen geraten. Es kann sich dabei um ein Natur- oder Kunsterlebnis handeln (ein vollkommener Sonnenuntergang, ein vollkommenes Bild, ein vollkommenes Musikstück) oder um die Begegnung mit einem Menschen, den wir einen Augenblick lang für „vollkommen“ halten. Sobald die EINS entdeckt, dass auch dieser Mensch Fehler und Schwächen hat, ist sie enttäuscht. EINSer sind fortwährend frustriert, weil das Leben und die Leute nicht so sind, wie sie sein sollten. Vor allem aber sind EINSer von der eigenen Unvollkommenheit enttäuscht. Deswegen ist für sie der religiöse Weg sehr attraktiv: Zumindest Gott scheint „vollkommen“ zu sein!

EINSer sind verantwortungs- und pflichtbewusst und oft zwanghaft pünktlich. Sie stehen meist unter Zeitdruck, führen einen genauen Terminkalender und oft auch ein minutiöses Tagebuch.

EINSer sind ernsthafte Menschen und erzählen selten Witze – oder vergessen die Pointe. Sie erlauben sich Entspannung und Erholung nur, wenn sie alle Aufgaben gründlich und gewissenhaft erledigt haben. Aber das ist selten der Fall. Es gibt immer irgendetwas, was sich noch verbessern ließe. Im Kampf um das Bessere gibt es keine Ferien! Wenn EINSer ein Hobby haben, dann meist ein praktisches, das anderen nützt oder Freude macht.

EINSer haben die Neigung, sich selbst zu verleugnen und zu bestrafen, und können ihre Gefühle und Bedürfnisse verdrängen oder gar abtöten. Sie sind Asketen und Puritaner und hoffen letztlich, sie könnten sich selbst erlösen, indem sie zumindest versuchen, das Ideal zu erreichen. „Wer ewig strebend sich bemüht, den können wir erlösen“ (Goethe) – das leuchtet der EINS unmittelbar ein. Deshalb tun sie sich schwer, fünf gerade sein zu lassen und das Leben zu genießen. Die amerikanischen Puritaner haben einst Tanz und Spiel zur Sünde erklärt. Johannes Calvin, der Vater des Puritanismus, war sicher eine EINS. Die meisten EINSer haben eine puritanische Schlagseite.

Ohne die Hilfe von Meditation und Gebet können EINSer widerwärtige Nörgler werden. Gerade das kontemplative Gebet, das absichtslos ist und nichts verändern will, das pure Dasein vor Gott, kann ein Weg für EINSer sein, sich und andere immer mehr anzunehmen. EINSer müssen allerdings einige Hindernisse überwinden, um zur Ruhe zu kommen. Wenn sie still werden wollen, fangen die inneren Stimmen umso lauter zu reden an. Helen Palmer zitiert eine Frau, die im Muster der EINS fixiert ist, und schildert, wie es ihr bei der Meditation ergeht:

Ich sitze da und meditiere und merke sofort, wie laut der Kritiker in mir redet. Kaum habe ich einen kleinen Zipfel innerer Stille entdeckt, höre ich ihn: „Nicht tief genug!“ oder: „Letztes Mal war es tiefer!“ Dann beginne ich mit der Stimme zu streiten: „Sitz gerade!“, sagt sie oder: „Du strengst dich nicht an.“ Und die Gegenstimme sagt: „Ich bemühe mich doch!“5

Obwohl es zunächst nicht einfach ist, müssen EINSer lernen, zur Ruhe zu kommen, um die Unvollkommenheit der Welt wahrzunehmen (das fällt ihnen nicht schwer) und anzunehmen (das ist die eigentliche Crux und Aufgabe).

EINSer sind zornig, weil die Welt so unvollkommen ist. Noch aggressiver macht sie all das, was sie in sich selbst finden. Der Zorn ist die Wurzelsünde der EINS. Paradoxerweise aber tun sich EINSer sehr schwer, diesen tief sitzenden Aggressionen ins Auge zu sehen oder sie gar zuzugeben. EINSer schämen sich ihres Zorns! Ihre Sünde und ihre Vermeidung fallen in eins. Sie vermeiden es, den Groll, der sie motiviert und antreibt, zuzulassen. Denn auch Ärger ist für sie etwas Unvollkommenes – und darf deshalb nicht sein. Musterkinder sind nicht wütend. Das ist ihr Hauptdilemma. Innerlich kochen sie vor Wut, weil die Welt so verdammt unvollkommen ist. Aber sie artikulieren diese Aggressionen nicht als solche. Sie können sie ja selbst kaum wahrnehmen. Schon wenn ein Mitmensch den Verdacht äußert, eine EINS könnte wütend sein, fühlt sich die EINS zutiefst ertappt und sie wehrt diesen Vorwurf sofort ab. Aber unsere Mitmenschen erkennen unsere Sünde meistens viel klarer als wir selbst – ein Grund, weshalb wir Menschen auf verbindliche Gemeinschaft angewiesen sind. Wenn wir allein sind, können wir uns leicht der Illusion hingeben, Heilige zu sein. Gott hat uns andere Menschen gegeben, damit sie uns immer wieder auf den Boden der Realität holen. EINSer schämen sich ihrer Wut, zwingen sich, „sachlich“ zu argumentieren, selbst wenn sie innerlich kochen: „Ich bin zwar nicht ärgerlich auf dich, aber eigentlich hätte ich aus den und den Gründen ein Recht, auf dich ärgerlich zu sein.“ Die Wut manifestiert sich als Rechthaberei.

 

Der Abwehrmechanismus, den EINSer entwickeln, um ihren Ärger nicht zeigen zu müssen, heißt Reaktionskontrolle. Anstatt unmittelbar und direkt zu reagieren, findet in ihrem Inneren in Bruchteilen von Sekunden ein Prozess der Zensur statt, der darüber entscheidet, was sie äußern – und in welcher Form.

Die Tatsache, dass sie Aggressionen nicht zulassen können, erzeugt in EINSern bisweilen einen ungeheuren Druck. Sie können wandelnde Dampfkochtöpfe sein. In ihnen kocht der verdrängte Groll, der gegen die Stimmen anstürmt, die ihnen einhämmern: „Du bist ein guter Junge, ein braves Mädchen. Ein liebes Kind ist nicht wütend!“ Die Arbeitswut der EINSer ist einer der Versuche, Dampf abzulassen und Energie abzubauen.

Der Drang, „gute Werke“ zu tun, der Martin Luther schließlich in die Verzweiflung getrieben hat, steckt in allen EINSern.

Bei mir (Richard Rohr) hat das dazu geführt, dass ich zum notorischen Weltverbesserer geworden bin. Als wenn es nicht gereicht hätte, in Cincinnati eine eigene Kommunität zu gründen (die herkömmliche Kirche war nicht gut genug!), mussten wir sie auch noch „New Jerusalem“ nennen, das Neue Jerusalem! Das ist gleichsam die Perfektion der Perfektion. Trotzdem sind wir nie mit dem zufrieden, was wir bereits verbessern konnten. Unsere innere Stimme hinterfragt fortwährend unsere Motive: „Was steckt denn hinter deinen guten Werken? Du machst das doch nur, um vor dir, vor anderen und vor Gott gut dazustehen!“ Das ist der Teufelskreis der Selbsterlösung!

Unreife EINSer versuchen unter Umständen, ihr Dilemma anders zu lösen. Sie können an den Punkt gelangen, wo sie ein Doppelleben führen. In der Öffentlichkeit und da, wo sie bekannt sind und beobachtet werden, verhalten sie sich stets korrekt, moralisch sauber und untadelig. Aber wenn sie sich unbeobachtet fühlen oder in einer fremden Umgebung sind, kann es passieren, dass sie heimlich all das ausleben, was sie sich (und anderen) sonst versagen. Das gilt insbesondere für ihre unterdrückten sexuellen Wünsche. Neurotische EINSer können Moral predigen und Unmoral leben, wie die Skandale um puritanische Fernsehprediger in den USA gezeigt haben. Unreife EINSer sind Pharisäer und Heuchler. Zu Pharisäern, die eine „Sünderin“ steinigen wollen, die sie auf frischer Tat beim Ehebruch ertappt haben, sagt Jesus: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“ (Johannes 8,7).

Die besondere Gabe oder Geistesfrucht, die gereifte VertreterInnen des jeweiligen Typs auszeichnet, ist jeweils die Kehrseite der spezifischen Wurzelsünde. Die Geistesfrucht der EINS ist heitere Gelassenheit. Wie gelangt man von der Wurzelsünde zu dieser Gabe? Die EINS hat von Kindesbeinen an mit ihrem unerkannten und unterdrückten Ärger gelebt. Wenn sie ihn entdeckt und es gut geht, wird sie seiner irgendwann so überdrüssig, dass sie schließlich lernt, besser und konstruktiver mit ihm umzugehen als alle anderen Typen. Er steckt nach wie vor in der EINS und wird immer da sein. Aber er muss nicht mehr so ernst genommen werden. Viele integrierte EINSer sagen, ihnen helfe dreierlei, um an dieses Ziel zu gelangen: das Gebet, die Liebe und die Natur.

Wenn ich (Richard Rohr) bete, kann ich die Stimmen der Pflicht und Verantwortung mehr und mehr loslassen und mich in Gott, den großen Liebhaber, hineinfallen lassen. Das führt mich unmittelbar zur Liebe. Die Liebe ist das eigentliche „Band der Vollkommenheit“, wie Paulus sagt (Kolosser 3,14). Deswegen muss ich jeden Tag dafür sorgen, dass ich mich in jemanden oder in etwas verliebe, und wenn es nur ein Baum ist oder der wunderbare türkisfarbene Himmel über New Mexico. Wenn ich nicht liebe, gewinnen die negativen Stimmen sofort die Oberhand. Schließlich hilft mir die Natur, denn Gott, die Liebe und die Natur sind vollkommen.

Deswegen sind fast alle EINSer Naturfreunde. Es gibt selten eine EINS, die nicht gerne Blumen züchtet, im Garten arbeitet oder im Wald spazieren geht. In der ökologischen Bewegung fühlen sich viele EINSer daheim. Die EINS hat ein Faible für alles, was grünt, wächst und blüht. Ohne Natur, ohne die Liebe und ohne Gott gelangen EINSer kaum in den Raum heiterer Gelassenheit und Geduld, sondern bleiben aggressive Idealisten und Ideologen, die andere verurteilen und von ihnen fordern, sich im Sinne der EINSer-Ansprüche zu „bessern“.

Neben der Gelassenheit der erlösten EINS haben EINSer auch noch andere Gaben, wenn sie einen gewissen Grad von innerer Reife erlangt haben. Sie sind vernünftig, gerecht und ausgewogen. Deshalb sind sie gute Lehrer. EINSer werden gerne Lehrer oder Pfarrer, wenn sie ihre Ordnungsliebe nicht in Berufen wie Buchhalter verwirklichen. EINSer können notorisch ausgewogen sein. Sie wollen fair sein und sehen deshalb immer auch die andere Seite. Das ist Fluch und Segen zugleich. Es lässt sich dadurch erklären, dass so viele unterschiedliche Stimmen auf ihrer inneren Gerichtsbühne im Dauerprozess liegen. Einigermaßen gereifte EINSer geben fast immer wohldurchdachte und vernünftige Antworten. Ihre Meinung ist bereits durchs Feuer der inneren Kritik gegangen, jedes Wenn und Aber wurde schon abgeklärt, bevor etwas geäußert wird. Deshalb ist es schwierig, EINSer zu widerlegen.

Unreife EINSer sind leicht moralinsäuerlich, reden ständig mit erhobenem Zeigefinger und kritisieren alle Welt. Sie halten sich und ihre Ideale für identisch und können sehr arrogant und selbstgerecht wirken. Alle EINSer leben ständig am Rande der Selbstgerechtigkeit.

EINSer tun sich schwer, wichtige Entscheidungen zu treffen, weil sie dabei einen Fehler machen könnten. So neigen sie dazu, zu zögern und zu zaudern. Sie kommen oft auch deshalb nicht vorwärts, weil sie mit alten Fehlern beschäftigt sind. Sie können nicht zur Tagesordnung übergehen, wenn die Vergangenheit nicht bereinigt ist. So werden sie zum schlechten Gewissen einer Familie oder eines Volkes. Sie halten die Erinnerung an vergangene Schuld wach und sind Propheten der Umkehr und Erneuerung. Das ist eine ihrer größten Stärken, kann aber auch penetrant wirken. Die Falle, aus der unerlöste EINSer befreit werden müssen, ist ihre Empfindlichkeit. Sie müssen lernen, sich und andere anzunehmen, anstatt über alles und jedes Urteile zu fällen. Sie müssen lernen, den Balken im eigenen Auge zu sehen, bevor sie sich mit dem Splitter im Auge anderer befassen, der ihnen sofort auffällt (vgl. Matthäus 7,3 – 5). Unreife und zwanghafte EINSer wirken abstoßend. Ihre Mitmenschen fühlen sich von ihnen ständig kritisiert, selbst wenn die EINS kein Wort sagt. Andere spüren diesen negativen Energiestrom.

Ich (Richard Rohr) habe bei seelsorgerlichen Begegnungen bisweilen erlebt, dass Menschen zu mir gesagt haben: „Ich habe Schwierigkeiten, mich vor dir zu öffnen, weil ich Angst habe, dass du mich insgeheim verurteilst.“ Obwohl ich es nicht will, scheine ich diese Energie mitunter auszustrahlen. Wie kann ich davon loskommen? Ganz werde ich das wahrscheinlich nie schaffen. Aber ich kann versuchen, mit der betreffenden Person eine Vertrauensbeziehung aufzubauen, die es erlaubt, dass gerade meine Kritikfähigkeit der Erleuchtung, Befreiung und Freude des anderen dient, anstatt ihn zu bedrücken und niederzumachen. Ohne solch eine Beziehung sind meine Urteile nicht hilfreich und können letztlich destruktiv wirken.

Die EINS neigt dazu, sich als der Weiße Ritter zu verstehen, der in die Welt hinauszieht, um sie zu retten. EINSer kennen die heimliche Lust, das Böse mit Stumpf und Stiel auszurotten. St. Georg oder der Erzengel Michael, die Drachentöter der christlichen Tradition, sind Patrone dieser Seite der EINS.

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