Das Enneagramm

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Ernüchterndes Aha-Erlebnis

Als ich (Richard Rohr) das Enneagramm 1970 kennenlernte, war das eine der drei großen umwälzenden spirituellen Erfahrungen meines Lebens. Ich konnte buchstäblich miterleben, wie es mir wie Schuppen von den Augen fiel und mir mit einem Schlag klar wurde, was ich bisher getrieben hatte: Ich hatte immer das Richtige gemacht (das ist für uns EINSer ein Hauptanliegen!) – aber aus falschen Beweggründen. Es ist ziemlich beschämend, das zu erkennen und zuzugeben! Deswegen gilt als Faustregel: Wer das Ganze nicht irgendwie als demütigend empfindet, hat seine oder ihre „Nummer“ noch nicht gefunden! Je demütigender es ist, desto mehr sieht man der Sache ins Auge. Wer sagt: „Es ist wunderbar, dass ich eine DREI bin“, ist entweder keine DREI oder hat nicht wirklich verstanden, wie verhängnisvoll dieses Muster ist. Das Enneagramm deckt die Spiele auf, in die wir verstrickt sind. Wäre ich beispielsweise bei jenen Bischofsexerzitien aufgestanden und hätte zu einem der Bischöfe gesagt: „Sie sind rechthaberisch und dogmatisch!“, wäre der Mann wahrscheinlich hochgegangen. Keiner lässt sich gern „rechthaberisch und dogmatisch“ nennen. Wenn ich aber sage: „EINSer – wie ich – sind rechthaberisch und dogmatisch“, ziehe ich mir den Schuh erst einmal selbst an und kann dann mein Publikum einladen, dasselbe zu tun. Aus irgendeinem Grund geht es auf diese Weise viel leichter. Wir verfolgen diesen Ansatz, weil er so durchschlagend ist, und wir sind überzeugt, dass das Enneagramm der geistlichen Bereicherung dienen und uns zur höchsten Form des spirituellen Bewusstseins führen kann, die wir kennen: dass wir unser falsches Selbst beiseite räumen (lassen), weil wir es nicht mehr brauchen. Wir hoffen, dass alle, die ihrer „dunklen Seite“ oder „Wurzelsünde“ ins Auge sehen, etwas von jener Freiheit erleben, die wir erlebt haben, als wir begannen, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass wir eine EINS (Richard Rohr) bzw. eine ZWEI (Andreas Ebert) sind. Weil wir uns der eigenen Lebenslüge stellen mussten, wagen wir es, dies auch anderen zuzumuten: Wenn andere uns aushalten, dann haben wir eigentlich keinen Grund, sie nicht auch auszuhalten. Wir wissen jedenfalls, dass wir seither nicht mehr so viele und schnelle Urteile über andere fällen. Viele Leute haben Angst, dass solche Systeme dazu führen, sich gegenseitig in Schubladen zu stecken und festzulegen. Um ehrlich zu sein: Genau das geschieht unweigerlich, wenn man das Enneagramm kennenlernt. Wer sich das Enneagramm angeeignet hat, wird eine Weile durch die Welt gehen und alles unter dem Aspekt EINS, ZWEI, DREI, VIER, FÜNF, SECHS, SIEBEN, ACHT, NEUN wahrnehmen. Bei drei Vierteln der Fälle wird man allerdings zunächst daneben tippen, weil einem anfangs nur gewisse äußere Merkmale eines Typs ins Auge springen. Man muss eine Weile mit dem Enneagramm leben und umgehen, bis man über diese äußeren Züge zur „Energie“ des Musters vordringt. Ein Hilfsmittel dabei ist der Humor. Über sich selbst lachen zu können, das kann genauso befreiend sein wie über sich selbst zu weinen. Wir haben bei der Arbeit mit dem Enneagramm beides erlebt. Wenn wir zu dieser Tiefe der Selbsterkenntnis gelangt sind, dann können wir ein Werkzeug wie das Enneagramm getrost aus der Hand legen.

Wir hoffen vor allem, dass uns das Enneagramm hilft, liebevoller zu werden. Wenn das geschieht, ist das Ziel erreicht, zu dem wir geschaffen sind. Wir hoffen, es macht uns fähiger, andere Menschen zu lieben, uns selbst zu lieben – und Gott zu lieben. Das war für mich selbst (Richard Rohr) eine ernüchternde und zugleich sehr schöne Erfahrung: Gott hat das alles längst gewusst! Er wusste, dass ich eine EINS bin. Er wusste, dass ich immer wieder das Richtige aus dem falschen Beweggrund oder zumindest aus sehr gemischten Motiven mache. Er wusste, dass ich aus sehr gemischten Motiven Priester geworden bin, mich auf den Zölibat eingelassen habe, die New-Jerusalem-Kommunität gegründet habe, nach Albuquerque gegangen bin – aber das ist in Ordnung! Es ist demütigend und zugleich befreiend zu wissen, dass Gott es weiß und dass Gott sogar unsere Sünde für seine Ziele benutzt. Wer die Kraft und die Wahrheit des Enneagramms entdeckt, kommt unweigerlich an diesen Punkt: Gott benutzt unsere Sünde! (Wir verwenden bewusst das Wort Sünde, obwohl wir wissen, dass dieses Wort für viele Ohren moralisierend und wertend klingt! Wir kommen noch darauf zurück.) Das ist beschämend und befreiend zugleich. Denn es ist eine Erfahrung bedingungsloser Liebe, wie wir sie wahrscheinlich nie zuvor erlebt haben. Es ist vor allem für perfektionistische EINSer wie mich (Richard Rohr) eine umwerfende Erfahrung, wenn uns klar wird: Gott liebt etwas Unvollkommenes – nämlich mich!

Wenn Gott fähig ist, etwas Unvollkommenes zu lieben und zu gebrauchen – etwas anderes bekommt Gott sowieso nie, denn es gibt nichts Perfektes auf dieser Welt –, dann eröffnet das einen ungeheuren Freiheitsraum.

Es geht beim Enneagramm um jene innere Arbeit, die unserem geistlichen Weg Echtheit verleihen kann. Zugleich schafft sie neue Schwierigkeiten. Viele unserer unhinterfragten Voraussetzungen und vordergründigen Lösungen werden nicht mehr funktionieren wie bisher. Denn das Enneagramm zeigt uns unter anderem die dunkle Seite unserer Begabung.

Begabte Sünder

Die Wüstenväter und auch die Sufis waren der Ansicht – obwohl das zunächst nicht sehr einleuchtend klingt –, dass Menschen durch ihre Begabungen und Talente zerstört werden. Wir werden von unseren Gaben zerstört, weil wir uns zu sehr mit dem identifizieren, was wir gut können. Man hat uns einst beigebracht, wir würden durch unsere „Sünde“ zerstört. Aber die Sache ist subtiler. In fast allen spirituellen Traditionen wird vor dem „Anhaften“ gewarnt. Wir kleben zu sehr an dem, was uns natürlich zufällt. Wir haben ein „natürliches“ Vorurteil und „natürliche“ Verhaltensmuster, einen „natürlichen“ Blickwinkel, eine „natürliche“ Leidenschaft. Das alles entwickeln wir während der ersten 30 Jahre unseres Lebens. Wir leben es aus und kassieren womöglich Applaus dafür. Deshalb ist es nicht sehr sinnvoll, sich bereits in dieser Zeit mit dem Enneagramm zu beschäftigen. In jungen Jahren spielt man mit bei dem großen Spiel. Das ist richtig und wichtig. Das Enneagramm könnte zu früh zum Spielverderber werden. Jesus sagte einmal – ohne jeden Vorwurf – zu Petrus: „Als du jünger warst, da hast du dir selbst den Gürtel umgeschnallt und bist deine eigenen Wege gegangen!“ (Johannes 21,18). In jungen Jahren muss das Ego aufgebaut und gestärkt werden, man muss sich von jener Energie leiten lassen, die natürlich zu sein scheint.

Aber irgendwann in den Dreißigern, spätestens, wenn man vierzig ist, wird dieses Spiel immer fader. Das alles hat bisher so gut funktioniert, man konnte damit Eindruck machen bei den Leuten, man war „der Coole“ oder „die Witzige“ oder „der ernste, nachdenkliche Student“. Auf dieses Selbstbild hat man sich bisher fixiert und fixieren lassen. Es war eine Hilfe, um das eigene Ich von der Umwelt abzugrenzen. Aber je mehr sich solche Ich-Grenzen verhärten und je mehr sich jemand mit solch einem Selbstbild identifiziert und es um jeden Preis aufrechterhalten will, desto deutlicher zeigt sich auch die Kehrseite der Medaille. Wenn jemand bis zum vierzigsten Lebensjahr damit beschäftigt war, dieses Bild zu kultivieren, wird es für ihn sehr schwierig, sich zu verändern. Gleichzeitig wird immer klarer: Das stimmt alles nicht mehr. Was Lust war, wird zur Last. Dieser Zeitpunkt in der Lebensmitte birgt deshalb – so schwierig es ist – die große Chance in sich, das bisher Erreichte kritisch zu reflektieren und sich zu verändern; reifer, weiser und tiefer zu werden. Nun wird die Fortsetzung der Worte Jesu an Petrus aktuell: „Jetzt, da du älter wirst, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und führen, wohin du nicht willst!“ (ebenda).

Nach vielen Jahren in der Seelsorge sind wir beide davon überzeugt, dass es nichts gibt, worauf Menschen so fixiert sind wie auf ihr Selbstbild. Wir sind buchstäblich bereit, durch die Hölle zu gehen, bloß um das nicht aufgeben zu müssen. Es determiniert das meiste von dem, was wir tun oder lassen, sagen oder verschweigen, mit wem wir uns abgeben und mit wem nicht. Wir alle sind davon betroffen. Die Frage lautet: Habe ich die Freiheit, etwas anderes zu sein als diese Rolle und dieses Bild?

Wenn wir es mit Gott, dem Großen Liebhaber zu tun bekommen, dann müssen wir uns verändern. Denn der Große Liebhaber öffnet uns auf seine fantasievolle Weise die Augen dafür, wie reich und vielfältig unser Leben sein könnte und ist, sodass unser bisheriges Spiel plötzlich sehr fade wird. Solche Spiele limitieren die Möglichkeiten der Liebe. Sie verhindern, dass die Große Liebe uns erreicht. Das Enneagramm kann Menschen helfen, sich von ihrem Selbstbild zu lösen: „Lass los! Du brauchst das nicht! Du musst dich nicht selbst einsperren in das beschränkte Bild, das du von dir hast. Es ist nicht wichtig, ob du dieses bist oder jenes. Du bist Gottes lieber Sohn, Gottes liebe Tochter – das ist entscheidend.“ Unsere Identität wird primär durch diese Beziehung gestiftet und ist nicht etwas, was wir schützen, definieren und verteidigen müssen.15 Das Enneagramm kann uns helfen, innerlich abzurüsten, die Verteidigung jenes Selbstbildes aufzugeben, das wir selbst geschaffen haben. In diesem Sinne sind es gerade unsere Gaben, die uns zum Verhängnis werden können. Wir identifizieren uns übermäßig mit dem, was wir gut können. Wir alle spielen diese Rollen; wir können sie genauso fieberhaft daheim in unserer kleinen Welt verteidigen wie auf der öffentlichen Bühne.

So wird jede Gabe, auf die wir uns übermäßig fixieren, paradoxerweise zu unserer Sünde. Unsere Gabe und unsere Sünde sind zwei Seiten derselben Medaille. Um deiner Gabe zu begegnen, musst du deine Sünde gleichsam kauen, essen, dir einverleiben. Iss sie, schmeck sie, fühl sie, lass dich von ihr demütigen! Das ist sehr traditionelle kirchliche Lehre. Jeder Gottesdienst beginnt damit, dass die Sünde beim Namen genannt wird. In der Liturgie heißt das Confiteor (Sündenbekenntnis) oder Allgemeines Schuldbekenntnis (Bußakt); es wird relativ formalistisch vollzogen. Im Zusammenhang mit dem Enneagramm kommt „Butter an die Fische“. Wir werden unsere konkrete Sünde fühlen, erkennen und sehen, wie übertrieben, exzessiv und absurd das alles ist. Wenn wir unsere Dunkelheit schmecken und kauen, wenn wir fühlen, wie sie mich und andere Menschen verletzt hat, wie sie mir erlaubt hat, nicht zu lieben und mich nicht wirklich lieben zu lassen – wenn wir das tun, werden wir wach für die andere Seite, für unsere echte Begabung oder besser: für die eigentliche Tiefe und den Sinn unserer spezifischen Gabe.

 

Damit das möglich ist, müssen wir geläutert und gereinigt werden. Unser altes Selbst, unser alter Adam, unsere alte Eva muss sterben. Das fühlt sich wirklich wie Tod an. Da gibt es nichts romantisch zu verbrämen, das macht auch keinen Spaß. Es tut weh. Man wird sich fühlen, als ob einen alle anderen auslachen. Man wird das Gefühl haben, viele Beziehungen verhunzt und kaputtgemacht zu haben, wenn einem klar wird, wie viele Menschen man ausschließlich dazu benutzt hat, das eigene Selbstbild aufzubauen und aufrechtzuerhalten.

Das ist der Grund, weshalb im geistlichen Leben unsere Feinde unsere besten Freunde sind. Deswegen ist das Gebot Jesu so wichtig: „Liebt eure Feinde!“ Wenn wir dem Feind dort draußen vor der Tür, diesem Nicht-Ich, nicht gestatten, unsere Welt zu betreten, werden wir niemals fähig sein, unserer Sünde oder unserer dunklen Seite ins Gesicht zu sehen. Menschen, die mir auf den Wecker gehen, die mich bedrohen und die mir Angst machen, müssen zwar nicht unbedingt meine Busenfreunde werden, aber sie haben eine wichtige Botschaft für mich. Das Enneagramm kann dazu verhelfen, für diese Botschaft empfänglicher zu werden. Wir werden sehen, dass es bestimmte Typen gibt, die von Haus aus bedrohlich für uns sind, weil sie unser Spiel aufdecken – oder weil sie unser Spiel nicht brauchen. Das ist der Grund, warum wir die Kirche als „Leib Christi“ verstehen. Das bedeutet unter anderem, dass wir die Wahrheit von bestimmten Leuten nur zu bestimmten Zeiten verkraften. Es gibt Leute, für die bin ich mit meiner Art in ihrer momentanen Situation geradezu Gift.

Die Wahrheit ist einfach und schön

Einstein war ständig auf der Suche nach einer universellen Energietheorie. Er war überzeugt, dass die Erklärung der Welt und ihrer Ursachen letztlich einfach und schön sein müsste. Er war ferner der Meinung, dass eine „Weltformel“, die nicht einfach und schön ist, auch nicht wahr sein kann. Das lässt sich aufs Enneagramm übertragen: Es vermittelt eine Erfahrung, die uns erschreckt und herausfordert, die aber zugleich einfach und schön ist. Das Enneagramm ist schön, weil es uns als kleine, partielle und gebrochene Menschen zeigt. Es ist schön, wenn wir endlich nicht mehr so tun müssen, als seien wir mehr als das – und wenn wir merken, dass wir alle im selben Boot sitzen. Wir spielen alle unsere Spiele, kultivieren unsere Vorurteile und unsere unerlöste Sicht der Welt.

Deshalb müssen wir unsere Gabe annehmen, um unsere Sünde zu sehen – und wir müssen unsere Sünde annehmen, um zu erkennen, wie begabt wir sind. Wir müssen unsere Gabe begrenzen, sonst wird unsere Sünde zur Falle – während wir sie „Tugend“ nennen. Auch das ist traditionelle kirchliche Lehre. Thomas von Aquin und viele Scholastiker haben bereits gesagt, dass alle Menschen etwas wählen, was gut aussieht. Niemand tut willentlich Böses. Jeder von uns hat sich sein System zurechtgelegt, mit dessen Hilfe wir erklären, weshalb das, was wir tun, richtig und gut ist. Deshalb ist es so nötig, die „Geister zu unterscheiden“, wie es in der Bibel heißt. Wir brauchen eine Hilfestellung, um unser falsches Selbst zu entlarven und uns von unseren Illusionen zu distanzieren. Dazu ist es nötig, dass wir eine Art „inneren Beobachter“ installieren; manche reden auch von einem „fairen Zeugen“. Zunächst klingt das recht kompliziert, aber nach einer Weile wird es ganz natürlich. Es geht im Grunde um jenen Teil von uns selbst, der ehrlich ist – nicht nur im negativen Sinne, sondern auch im positiven. Er sagt uns zum Beispiel: „Du liebst Gott wirklich und sehnst dich nach ihm. Du bist gut. Hör auf, dich selbst so brutal niederzumachen! Du bist eine Tochter Gottes! Du kannst mitfühlen!“ Er hilft uns, Moralismus von echter Moral zu unterscheiden, Schuldgefühle von wirklicher Schuld, falschen Stolz von echter Stärke. Bei der Selbsterkenntnis, die das Enneagramm vermittelt, geht es nicht nur um Sündenerkenntnis. Es geht auch, und am Ende vor allem darum, alles, was nur scheinbar gut ist, loszulassen, damit wir das an uns entdecken, was wirklich gut ist.

Vor allem für diejenigen, die in einer religiösen Umgebung aufgewachsen sind, dauert es meist eine Weile, bis sie diese positiven Stimmen hören können. Da sind all die negativen Stimmen im Inneren, die ständig Urteile fällen: „Gut, besser, am besten, richtig, falsch, heilig, Todsünde, lässliche Sünde, verdienstlich, unwürdig, verdammenswert“ – und alle Stufen dazwischen. In gewisser Weise gibt es nichts Schwierigeres, als mit religiösen Menschen zu arbeiten. Sie haben solch einen Hang zum Moralisieren, dass sie unfähig sind, die Wirklichkeit anzunehmen und ihr direkt zu begegnen. Deshalb können wir so viel von der Schöpfungsspiritualität, von der indianischen Spiritualität und von echter franziskanischer Spiritualität lernen. Sie alle lassen die Schöpfung, die Natur, die Erde – also all das, was ist – zu uns sprechen. Religiöse Menschen hingegen neigen dazu, mit vorgefertigten Schlussfolgerungen, Bibelzitaten und Dogmen daherzukommen, sodass sie es gar nicht mehr nötig haben, die Realität und den gegenwärtigen Augenblick wahrzunehmen. Wir hoffen, dass das Enneagramm dabei hilft, diese moralistischen Werturteile aus dem Weg zu räumen, weil es zeigt, wie übertrieben sie sind. Es zeigt die Vorurteile, die uns daran hindern, die ganze Wirklichkeit zu erfahren.

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier

Unsere Sünde („unerlöste“ Weltwahrnehmung) ist paradoxerweise auch die Methode, die uns hilft, an unsere Antriebskraft zu kommen. Wenn wir unsere „Lieblingssünde“ begehen, sind wir „voll da“. Deswegen können wir sie nicht einfach „aufgeben“. Sie gehört ja zur Art und Weise, wie wir unserem Leben Ziel und Richtung geben. Sie gehört zur Überlebensstrategie, die wir uns als Kind zugelegt haben, sie gehört zu dem Raum, in dem wir daheim sind. Wir alle sind „Gewohnheitstiere“. Wir ziehen uns immer wieder dorthin zurück, wo wir uns zu Hause fühlen. Deshalb ist dort, wo unsere Sünde daheim ist, auch unsere Gabe zu finden.

Ich (Richard Rohr) gehe dabei von mir selbst aus: EINSer sind idealistisch und perfektionistisch. Sie wollen die Welt vervollkommnen. Sie ärgern sich – meist heimlich –, weil die Welt nicht vollkommen ist. Gleichzeitig sind sie Genies der Wahrnehmung: Deutlicher als andere sehen sie, was tatsächlich nicht in Ordnung ist. Es kann für sie selbst und andere die Hölle sein, mit dieser Gabe zu leben. Wenn EINSer in ihrer Fixierung bleiben, werden sie hyperkritische Nörgler, Leute, deren Gegenwart anderen mit der Zeit auf den Geist geht. Denn zu viel des Guten wird automatisch etwas Schlechtes. Das gilt für alle neun Typen: Das Zuviel des Guten macht jede Gabe zum Fluch. Deshalb geht es um die Frage: Wie können wir unsere jeweilige Energie so freisetzen, dass sie dem Leben und der Wahrheit dient? Als EINSer weiß ich nicht, wie ich an meine eigene Energie herankomme, es sei denn dadurch, dass ich mich darüber aufrege, wie dumm und absurd diese Welt ist. Durch den Zorn (meine Hauptsünde!) zapfe ich tatsächlich meine beste Energiequelle an. Aber gleich im Anschluss muss ich genügend Freiheit besitzen, um mir zu sagen: „Jetzt reicht’s wieder!“ Ich muss mich von mir selbst lösen können: „Ja – aber … Ja, das alles stimmt schon, aber du übertreibst! Du hast Recht – aber du liegst auch falsch.“ Das ist die Funktion des „objektiven Beobachters“: Ich kann etwas wahrnehmen, aber auch wieder loslassen. Bindung und Freiheit arbeiten auf diese Weise konstruktiv zusammen. Nur wenige Menschen haben diese Freiheit. Vor allem in religiösen Kreisen begegnen einem häufig Ideologen: Rechte, Linke, Liberale, Konservative. Sie alle kontrollieren das Leben von einem imaginären Kontrollturm aus, der sich in ihrem Kopf befindet. Irgendwann wird das ermüdend. Solange alle an ihren Vorurteilen kleben und sich mit ihren vorgefassten Ansichten und Gefühlen identifizieren, ist echte Gemeinschaft unter Menschen unmöglich. Du musst an den Punkt kommen, wo du dich auch von deinen Gefühlen lösen kannst, sonst hast du am Ende keine Gefühle mehr, sondern die Gefühle haben dich. Manchmal begegnet man Menschen, die frei sind von sich selbst: Sie drücken aus, was sie bewegt – und können dann gleichsam einen Schritt zurücktreten. Sie bringen sich ein, aber man merkt ihnen an, dass sie nicht meinen, die Wahrheit gepachtet zu haben. Ohne diese Art von innerer Arbeit, die darin besteht, dass ich mich zugleich einbringen und relativieren kann, ist Gemeinschaft zum Scheitern verurteilt. Wie viele Kirchengemeinden scheitern zum Beispiel an der Unfähigkeit ihrer Kirchenvorstände und Pfarrgemeinderäte, so miteinander umzugehen! Das zu lernen bedeutet harte Arbeit! Das ist weit mehr als ein unterhaltsames Gesellschaftsspiel.

Obsessionen

Wenn wir mithilfe des Enneagramms unsere eigene Falle oder Sünde entdecken, werden wir merken, dass sie ähnlich „funktioniert“ wie eine sexuelle Obsession. Junge Männer haben angeblich alle zehn Minuten sexuelle Impulse. Mit der Enneagrammenergie verhält es sich genauso. Sie bestimmt uns mindestens alle zehn Minuten. Sie ist wie eine Sucht. Vielleicht wird sie deshalb Leidenschaft genannt. Ich bin alle zehn Minuten eine EINS oder eine ZWEI, wahrscheinlich sogar alle fünf oder alle drei Minuten. Mein Muster steckt in meinen Gliedern, in meinen Knochen, es liegt mir im Blut, ist meine Haut, mein Atem, meine Denkweise, meine Mimik, meine Gestik.

Manche wollen eine wirkliche Umkehr vermeiden, indem sie sagen: „Ich bin ein bisschen VIER, ein bisschen SECHS und ein bisschen ZWEI.“ Das stimmt natürlich. Wir haben alle ein bisschen von allem in uns. Wir alle nehmen an den gängigen Gesellschaftsspielen teil und begehen alle neun Hauptsünden. Aber es gibt ein Hauptdilemma, eine Hauptwurzel des Übels, ein Lieblingslaster bei jeder und jedem von uns, das allen Bereichen unseres Lebens Farbe und Geschmack gibt. Diese eine Falle ist so allgegenwärtig in unserem Leben, dass wir sie selbst nicht erkennen. Wir waren schon immer so. Deswegen müssen wir versuchen, sie gleichsam mit List zu fangen. Wenn das gelingt, ist das in der Regel mit einem großen Aha-Erlebnis verbunden. Mit einem Schlag wird klar, warum ich all das gemacht habe, was ich gemacht habe. Ich sehe, dass ich dasselbe Verhaltensmuster schon als kleiner Junge oder als kleines Mädchen „drauf hatte“. Es ist der rote Faden in meinem Leben. Es erklärt alles: warum ich bestimmte Freunde gewählt habe, warum ich eine bestimmte Sportart ausgeübt habe usw. Überall verläuft der rote Faden. Das zu erkennen und zuzugeben ist tatsächlich mehr als ernüchternd.

Wenn wir in der Falle unserer „Nummer“ und unserer Energie sitzen, sind wir nicht frei – das ist offensichtlich. Dann erlauben wir äußeren Ereignissen und anderen Menschen, unsere Energie zu determinieren. Sie bestimmen, ob sie uns für unser Verhalten belohnen oder bestrafen. Wir leben nicht wirklich aus uns selbst heraus.