Das Enneagramm

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Erster Teil DER SCHLAFENDE RIESE

Eine dynamische Typologie

Das Enneagramm ist eine Typenlehre, die sehr alte Wurzeln hat und neun verschiedene Charaktere beschreibt. Die vergröbernde Reduktion menschlichen Verhaltens auf eine begrenzte Anzahl von Charaktertypen hat es mit vielen anderen Typologien gemeinsam:

Die Astrologie beschreibt zwölf Menschentypen entsprechend dem Tierkreiszeichen, in dem sich die Sonne während der Geburt befindet. Der griechische Arzt Hippokrates (gestorben 377 v. Chr.) hat seine vier Temperamente (sanguinisch, melancholisch, cholerisch, phlegmatisch) auf verschiedene „Körpersäfte“ (Blut, schwarze Galle, Galle, Schleim) zurückgeführt. In unserem Jahrhundert hat Ernst Kretschmer (1888 – 1964) den Zusammenhang zwischen dem Körperbau und der Neigung zu bestimmten seelischen Leiden untersucht. Er unterscheidet 1. pyknische (untersetzte), 2. leptosome (dünne) und 3. athletische Körpertypen und ordnet ihnen 1. zyklothyme (Neigung zu manisch-depressiver Erkrankung), 2. schizothyme (Neigung zur Schizophrenie) und 3. visköse (Neigung zur Epilepsie) Charakterzüge zu. Carl Gustav Jung (1875 – 1961) geht davon aus, dass es drei Funktionspaare gibt, die bei jedem Menschen unterschiedlich akzentuiert sind: Extraversion – Introversion; Empfinden (sinnliche Wahrnehmung) – Intuition; Denken – Fühlen. Jeder Mensch bevorzugt jeweils eine der beiden Möglichkeiten; daraus ergeben sich acht mögliche Kombinationen oder Typen, zum Beispiel der extravertiert-intuitive Denker oder der introvertiert-empfindsame Fühler. Die Amerikanerin Isabel Briggs Myers hat ein weiteres Funktionspaar hinzugefügt (judging – perceiving, das heißt, Neigung zu schnellen, klaren Urteilen und Entscheidungen gegenüber Empfänglichkeit für viele Einflüsse und Informationen) und in Anlehnung an Jung den Myers-Briggs Type Indicator entwickelt, einen Test, der 16 Typen unterscheidet; in den USA ist er sehr verbreitet.1 Karen Horney (1885 – 1952) diagnostizierte ursprünglich drei unterschiedliche Arten, wie Menschen ihre Lebensangst zu bewältigen versuchen: Unterwerfung (Hinwendung zu anderen Menschen); Feindseligkeit (Aggression gegen andere); Rückzug (Isolation von anderen). Später entwickelte sie ein Modell, in dem sie vier Hauptweisen aufzeigte, durch die Menschen versuchen, sich gegen ihre Grundangst zu schützen: Liebe, Unterwürfigkeit, Macht und Distanzierung. Dieses letzte Modell entspricht in etwa dem Schema, das der Psychoanalytiker und Astrologe Fritz Riemann (1902 – 1979) formuliert hat. Er geht von vier menschlichen Grundängsten aus: 1. Angst vor Nähe, 2. Angst vor Distanz, 3. Angst vor Veränderung, 4. Angst vor Beständigkeit. Daraus ergeben sich vier Grundtypen: der schizoide, depressive, zwanghafte und hysterische.2

Alle diese Modelle versuchen – unter verschiedenen Voraussetzungen – der Erfahrung Rechnung zu tragen, dass die Menschen zwar verschieden sind, dass es aber zugleich „Typen“ gibt, die sich auffallend ähneln. Jede der erwähnten Typologien lässt sich mit einer Landkarte vergleichen, die das Ziel hat, den Überblick über das Reich der menschlichen Charaktertendenzen und Verhaltensweisen zu erleichtern. Wie es Landkarten mit geologischem, politischem oder verkehrstechnischem Schwerpunkt gibt, so verfolgt auch jede der genannten Typologien ein besonderes Interesse und hat deshalb ihre besonderen Stärken und Schwächen. Keine von ihnen ist allumfassend; keine von ihnen ist die Sache selbst. Das Studium einer Landkarte ersetzt niemals die „Er-Fahrung“ des Landes selbst.

Alle Typologien haben den Nachteil, dass sie die Einmaligkeit, Originalität und Besonderheit des Individuums notgedrungen vernachlässigen. Deswegen begegnen ihnen viele PsychologInnen mit Vorbehalten. Die Gefahr, sich und andere in die Schublade eines bestimmten Tierkreiszeichens oder eines Enneagrammmusters zu zwängen und auf diese Weise festzulegen, ist unübersehbar. Das biblisch-christliche Menschenbild geht davon aus, dass Gott nur Originale geschaffen hat, keine Abziehbilder oder Schablonen. Niemand ist eine Nummer. Gott hat uns „mit Namen gerufen“. Die Entdeckung von „Gesetzmäßigkeiten“ im menschlichen Verhalten hat nur dann einen Sinn, wenn zugleich die Möglichkeit der Veränderung und der Befreiung vom Zwang der Determiniertheit in den Blick kommt. Diese Möglichkeit eröffnet das Enneagramm in besonderer Weise. Es geht darum, dass die Fixierung in einem „Typus“ gelockert wird, damit das unverwechselbare und einmalige Original ans Licht kommen kann.

Das Enneagramm beschreibt wie andere Typologien unterschiedliche Charaktermuster. Aber das ist nur der Anfang. Über die Beschreibung von Zuständen hinaus enthält das Enneagramm eine innere Dynamik, die auf Veränderung zielt. Es ist eine ausgesprochen anspruchsvolle Einladung zum seelisch-spirituellen Wachsen und Reifen – jedenfalls wenn es angemessen vermittelt wird. Es ist weit mehr als ein unterhaltsames Selbsterfahrungsspiel. Es geht um Veränderung und Umkehr, um das, was einige spirituelle Traditionen Bekehrung oder Buße nennen, andere Erwachen. Es konfrontiert uns mit den Festlegungen und Gesetzen, unter denen wir unbewusst leben, um uns zu ihrer Überwindung und zu Schritten in den weiten Raum der Freiheit einzuladen.

Der Ausgangspunkt des Enneagramms sind die Sackgassen, in die wir Menschen bei unserem Versuch geraten, unser Leben vor inneren und äußeren Bedrohungen zu schützen. Der Mensch, so wie ihn Gott geschaffen hat, ist nach biblischer Auffassung seinem Wesen nach „sehr gut“ (1. Mose/​Genesis 1,31). Diese seine Essenz, sein „wahres Selbst“, ist schon während der Schwangerschaft und spätestens vom Augenblick seiner Geburt an dem Ansturm bedrohlicher Kräfte ausgesetzt. Die christliche Lehre von der Erbsünde weist auf diese Tatsache hin, indem sie betont, dass es den unverletzten, freien und „sehr guten“ Menschen zu keinem Zeitpunkt seiner Existenz real gibt. Wir sind von Anfang an destruktiven Einflüssen ausgesetzt und deshalb erlösungsbedürftig. Das genetische Material, aus dem wir zusammengesetzt sind, enthält bereits Programmierungen, die unser Wesen vom Moment der Zeugung an mitbestimmen. Das familiäre System, in das wir hineingeboren werden, legt uns von vornherein Erblasten auf.

Die Außenwelt begegnet dem Kind zunächst vor allem in Gestalt seiner Eltern und Geschwister, später durch Kameraden, Lehrer, die Werte und Normen der Gruppe, Religion und Gesellschaft und den jeweils herrschenden Zeitgeist. Viele unterschiedliche Faktoren kommen zusammen, prägen uns und verdichten sich zu Denk- und Handlungsstrukturen. Sie manifestieren sich als innere „Stimmen“, lassen sich meist in kurze und prägnante Sätze zusammenfassen, begleiten uns – oft unbewusst – durchs ganze Leben und wirken sich maßgeblich auf unser Verhalten und unseren Charakter aus. Manchmal wurden uns diese Stimmen verbal übermittelt („Sag immer schön danke!“); manchmal haben sie sich als Reaktion auf das nonverbale Gesamtverhalten der Umwelt herausgebildet („Komm mir nicht zu nahe!“).

Der heranwachsende Mensch reagiert auf diese Stimmen, indem er bestimmte Ideale internalisiert („Ich bin gut, wenn ich …“), Vermeidungsstrategien entwickelt, um Strafen oder anderen unangenehmen Folgen des „Fehlverhaltens“ zu entgehen, und spezifische Abwehrmechanismen aufbaut. Schuldgefühle treten immer dann auf, wenn man dem eigenen Ideal und Anspruchssystem nicht gerecht wird. Die eigentliche Fehlhaltung, die sich im Enneagramm in neun „Leidenschaften“ oder „Wurzelsünden“ manifestiert, bleibt dagegen meist verborgen. Sie gehören ja gerade zu den Mitteln, die wir bei der Verfolgung unserer falschen Ideale einsetzen. Das Enneagramm deckt diese illusionären Ideale und falschen Schuldgefühle auf und hilft uns, unserem wahren Dilemma ins Auge zu sehen.

Wir gehen davon aus, dass wir zugleich von „ererbten“ Anlagen, von familiären (systemischen) Konstellationen und von Umwelteinflüssen geprägt sind. Wichtiger als die Ursachenforschung (die Frage nach dem „Woher“) ist die Frage nach dem Ziel unseres Lebens („Wohin?“). Als Jesus und seine Jünger einem Blindgeborenen begegnen, fragen sie den Meister: „Wer hat gesündigt, er selbst oder seine Eltern, dass er blind geboren wurde?“ Jesus antwortet: „Weder dieser noch seine Eltern haben gesündigt, sondern die Werke Gottes sollen an ihm sichtbar werden!“ (Johannes 9,1 ff.). Das Enneagramm kann uns helfen, einen Blick für unsere Zukunft und Bestimmung zu bekommen, für jenes wahre Angesicht, das wir noch nicht „haben“, das aber bereits in unserer Tiefe schlummert.

Das Enneagramm (von griechisch ennea = neun und gramma = Zeichen oder Figur) wird als Kreissymbol dargestellt. Er symbolisiert die Ganzheit, aber auch eine energetische Bewegung im Uhrzeigersinn. An der Peripherie des Kreises befinden sich im Abstand von jeweils 40 Grad neun Punkte, die von EINS bis NEUN durchnummeriert werden, wobei NEUN der „obere“ Ausgangspunkt ist. Die Punkte DREI, SECHS und NEUN sind durch ein Dreieck miteinander verbunden, die Punkte ZWEI, VIER, EINS, SIEBEN, FÜNF, ACHT (und ZWEI) durch einen unregelmäßigen sechseckigen Stern. Jeder der Enneagrammpunkte bezeichnet einen bestimmten Energiezustand, die Übergänge zwischen den Zuständen sind fließend. Die Verbindungslinien verweisen auf die Dynamik zwischen bestimmten Energiepunkten. Aber bevor wir uns diesen Energien und ihrer Dynamik detailliert zuwenden, sind noch eine Reihe weiterer Vorinformationen nötig, die insbesondere die Entstehungsgeschichte dieses Symbolsystems betreffen.

 

Figur 1: Das Enneagramm

Das Geheimnis der Zahl 153

Die Ursprünge des Enneagramms lagen lange wie hinter einem Schleier verborgen. Das machte die Sache einerseits besonders geheimnisvoll – andererseits nährte es Spekulation und Skepsis und trug kaum zur Glaubwürdigkeit oder gar zu einer ernsthaften akademisch-wissenschaftlichen Würdigung des Systems bei. Es waren ja keinerlei schriftliche Quellen bekannt, aus denen man hätte nachvollziehen können, dass es sich tatsächlich um eine „uralte Weisheitslehre“ handelt, wie die beiden „Entdecker“ oder „Erfinder“ des Enneagramms behauptet haben. Auch wir mussten 1989, als unser Buch erschien, dieses Manko bekennen. Man wusste zunächst nur, dass das Enneagramm im Abendland erstmals 1916 von George Iwanowitsch Gurdjieff (1866 oder 1872 bis 1949, selbst sein Alter verschleierte er!) vorgestellt wurde – und zwar als umfassendes Symbol der harmonischen Struktur und der Dynamik des Kosmos, als kosmisches Prozessmodell – und nicht als Charaktertypologie. Gurdjieff gab niemals explizit Auskunft über seine Quellen. J. G. Bennett, einer der prominentesten Schüler Gurdjieffs, vertrat die Ansicht, Gurdjieff hätte das Enneagramm von asiatischen Sufis gelernt. Oscar Ichazo, der in den frühen 70er Jahren das „Enneagramm der Fixierungen“ entwickelte, benutzte Gurdjieffs Modell und verwies in mehreren – zum Teil sehr kryptischen – Aussagen ebenfalls auf geheime sufistische Quellen, aber auch auf Engelsvisionen und Ähnliches. Das macht die Sache nicht schlüssiger. Auch Ichazo (geb. 1931) hält seine Quellen bis heute letztlich geheim.

Die gängige Entstehungslegende des Enneagramms, die in der Zeit des ersten Enneagrammbooms in den 70er Jahren kolportiert wurde, lautet in etwa: Die Ursprünge des Enneagramms reichen viele Jahrtausende zurück bis in den Nahen Osten, wo die Wiege der großen Menschheitsreligionen stand. Dieses Wissen, das alle großen Religionen beeinflusst habe, sei im Lauf der Jahrtausende von vielen angereichert und tradiert worden. Bennett nennt in diesem Zusammenhang insbesondere die „Magi“, jene morgenländischen Weisen des ersten vorchristlichen Jahrtausends, die zugleich Priester, Philosophen, Astronomen, Astrologen, Psychologen, Theologen und Magier waren. (Nach Auskunft des Matthäusevangeliums kamen solche Magier nach der Geburt Jesu nach Jerusalem, um dem neugeborenen Heiland zu huldigen!)

In die Schule der Magi war auch Pythagoras eingeweiht, der große Universalgelehrte, Mathematiker und spirituelle Meister aus Samos (ca. 569 – 496 v. Chr.). Er war als junger Mann Priester geworden und hatte lange Jahre in den großen religiösen Zentren seiner Zeit, insbesondere in Ägypten und Babylonien, zugebracht. Am Ende seines langen Lebens gründete er in Süditalien eine Weisheitsschule, die in eine „exoterische“ und eine „esoterische“ Abteilung gegliedert war. In der exoterischen Schule wurde Lebensweisheit für jedermann gelehrt; in der esoterischen Abteilung wurden die Adepten in die geheimen Zusammenhänge des Kosmos eingeweiht, über die sie strengstes Stillschweigen bewahren mussten. Eine entscheidende Rolle im Weltbild des Pythagoras spielten – wie in der späteren jüdischen Kabbala – die Zahlen von eins bis neun, während die Zahl zehn den Kosmos als Ganzen bezeichnete. Diese Zahlen hatten für Pythagoras sowohl eine quantitative Bedeutung als auch einen qualitativen, symbolischen Sinn, der in der Antike weithin Common Sense war, von uns aber mühsam entschlüsselt werden muss.

Nun klafft in der Legende eine Zeitspanne von 1000 Jahren. Es handelt sich immerhin um jene geschichtlich bedeutenden 1000 Jahre, in denen das Römische Reich aufstieg und unterging und in denen das Christentum entstand, zunächst verfolgt wurde und sich schließlich als Staatsreligion etablierte.

Nach dem Entstehen des Islam (etwa 1000 Jahre nach Pythagoras) – so die bisherige Legende weiter – sei das alte Geheimwissen insbesondere durch eine Sufischule aufbewahrt, entwickelt und tradiert worden. Der „Sufismus“ bezeichnet die große mystisch-asketische Bewegung innerhalb des Islam. Die Sufimeister hätten das Enneagramm nie als Ganzes weitergegeben, sondern einer/​einem Ratsuchenden jeweils nur diejenigen Teile offenbart, die für die spirituelle Entwicklung dieses Menschen nützlich gewesen seien. In der gesamten sufistischen Literatur findet sich allerdings nicht der leiseste Hinweis auf das Enneagramm. Das wurde von den Anhängern dieser Legende in der Regel damit begründet, dass es sich um Geheimwissen gehandelt habe, das ausschließlich mündlich weitergegeben werden durfte.

1995 stieß ich (Andreas Ebert) auf einen Text des altchristlichen Wüstenvaters Evagrius Pontikus, der mich verblüffte. Auch wenn ich nicht alles verstand, hatte ich sofort das Gefühl, dieser Text müsste etwas mit dem Enneagramm zu tun haben. Handelte es sich womöglich um die erste und einzige alte schriftliche Quelle, die auf die Entstehung des Enneagrammsymbols hindeutete? Im Januar 1996 veröffentlichte ich meine Entdeckung in Heft 11 des „Enneagram Monthly“, einer internationalen Enneagrammzeitschrift („Are the Origins of the Enneagram Christian after all?“). Im April und Mai 1996 folgte in derselben Zeitschrift ein großer Aufsatz von Lynn Quirolo („Pythagoras, Gurdjieff and the Enneagram“), die unabhängig von mir zur selben Zeit dieselbe Entdeckung gemacht hatte. Lynn Quirolo ist eine Absolventin von J.G. Bennetts „International Academy for Continuous Education“ in Sherborne (England). Ihrem Artikel habe ich eine Reihe von zusätzlichen Erkenntnissen zu verdanken, insbesondere die Entschlüsselung der pythagoräischen Zahlensymbolik (siehe unten). Der Text, der uns synchron zugefallen war, enthält allem Anschein nach wesentlich klarere Hinweise auf die Ursprünge des Enneagramms als alle früheren Legenden und Spekulationen.3

Sollten die Ursprünge des Enneagramms doch christlich – und nicht sufistisch – sein? Schon der Jesuit Bob Ochs, einer der ersten Enneagrammschüler Claudio Naranjos, „war überzeugt, dass das Enneagramm zutiefst in der christlichen Mystik verwurzelt war … Ochs erkannte die Tradition der Wüstenväter wieder, einer Gruppe von Mönchen des vierten Jahrhunderts, die die christliche Sicht der sieben kapitalen Leidenschaften entwickelt hatten, die die Typen energetisch aufladen …“4 1992 hat dann auch und unabhängig von Ochs der deutsche Benediktiner Anselm Grün die erstaunlichen Parallelen zwischen dem Enneagramm und der Lehre von den Leidenschaften festgestellt, wie sie Evagrius entwickelt hatte.5

Die Wüstenväter oder „Anachoreten“ waren eine Bewegung des 4. nachchristlichen Jahrhunderts. Als die christliche Kirche nach langen Zeiten der Verfolgung im 4. Jahrhundert allmählich toleriert und schließlich sogar privilegiert und zur Staatsreligion erhoben wurde, ließ der Ernst der Christusnachfolge allenthalben nach. Opportunisten drängten zur Taufe. Bald wurden die heidnischen Tempel geschlossen und manche „Unbekehrbare“ ebenso grausam verfolgt wie seinerzeit die Christen durch die Heiden. Die neue Amtskirche hatte große Angst vor heidnischer Unterwanderung ihrer Lehre und vor „häretischen“ (insbesondere gnostischen) Strömungen. Mit staatlicher Unterstützung setzte sie ihre Version von „Rechtgläubigkeit“ durch. Gleichzeitig bemerkte sie nicht, wie „heidnisch“ sie selbst wurde. Anstelle eines schlichten Christusglaubens und echten Leidensbereitschaft trat immer mehr der Kampf um ein dogmatisches Monopol und um gesellschaftliche Privilegien und Macht.

Zahllose Menschen, Männer und Frauen, die Christus ernsthaft nachfolgen wollten, sahen sich zum Rückzug gezwungen. Sie zogen aus den städtischen Zentren in die Wüste, um in kleinen Gemeinschaften oder als Einsiedler zu leben. Sie verzichteten auf die Ehe, auf weltliche Güter und weltliche Betätigung, um zur Ruhe des Herzens (hesychia) zu finden. Die Lebensgeschichte des ersten großen Wüstenvaters Antonius, die literarisch stark an die Lebensgeschichte des Pythagoras angelehnt ist, hat nicht zuletzt die bildende Kunst immer wieder inspiriert. Beliebt ist etwa die Darstellung der Versuchungen des Hl. Antonius, wie sie zum Beispiel Matthias Grünewald auf dem Isenheimer Altar dargestellt hat.

Das Leben in der Wüste diente der Auseinandersetzung mit den Leidenschaften oder „Dämonen“, die sich insbesondere in Gestalt von Fantasien und Gedanken des Eremiten bemächtigten. Sie galt es zu besiegen. In heutiger psychologischer Sprache würde man eher von der „Integration des Schattens“ sprechen. Verdienst der Wüstenväter und -mütter war es, diese Leidenschaften zu identifizieren und gezielte Methoden zu entwickeln, wie man mit ihnen „fertig werden“ könnte.

Evagrius Pontikus wurde im Jahre 345 in Ibora in der Provinz Pontus (im heutigen Georgien) als Sohn eines Bischofs geboren. Mit 34 Jahren wurde er zum Diakon geweiht. 381 ging er nach Konstantinopel, musste aber die Stadt wegen einer Liebesaffäre verlassen. Nach einem Zwischenaufenthalt in Jerusalem begab er sich nach Ägypten, um dort als Mönch zu leben. Bis zu seinem Tode im Jahre 399 blieb er in einer Einsiedelei in der nitrischen Wüste. Dort verfasste er seine wichtigsten Werke. Besonderen geistigen Einfluss übten auf ihn die Werke des Origenes aus, der wiederum von pythagoräischem Denken beeinflusst war und sich für eine allegorische Bibelauslegung einsetzte (das heißt, man suchte zwischen den jedermann zugänglichen Zeilen der biblischen Texte nach einem geheimnisvollen symbolischen Sinn; dabei spielte die Zahlenspekulation eine wesentliche Rolle). Die Origenisten wurden von den „Anthropomorphisten“, die nur die wortwörtliche Bibelauslegung gelten lassen wollten, bekämpft und schließlich verfolgt.

Im Jahre 399, kurz nachdem Evagrius gestorben war, mussten seine Gesinnungsfreunde fliehen. Auf diese Weise fanden seine Werke, die sie mitnahmen, weite Verbreitung. Sie gelangten über die Grenzen des römischen Imperiums hinaus nach Armenien und in die arabische Welt, wo sie später auch die persischen Sufis beeinflussten. In Armenien genießt Evagrius bis heute große Verehrung; zum Teil wurden seine Schriften überhaupt nur in armenischer Übersetzung aufbewahrt. Die Lehre des Evagrius und der Wüstenväter übte und übt vor allem auf die Mönche der Orthodoxie, etwa auf dem Berg Athos, einen gewaltigen Einfluss aus – trotz der einstmaligen Verfolgungen und Verurteilungen. Auf dem Konzil von Konstantinopel (553) nämlich wurde neben Origenes auch Evagrius verurteilt. Drei spätere Konzilien wiederholten diese Verurteilungen.


Versuchung des Hl. Antonius (Matthias Grünewald), Isenheimer Altar

Das Werk des Evagrius berührt sich an zwei Punkten eng mit dem Enneagramm: In seiner Lehre von den Leidenschaften und in der Beschreibung einer auf pythagoräischer Zahlenspekulation beruhenden Figur, die wesentliche Züge des Enneagrammsymbols zeigt.

Evagrius entwickelte erstens eine Liste von acht bzw. neun Lastern bzw. ablenkenden „Gedanken“, die den Weg zu Gott und zu leidenschaftsloser Herzensruhe behindern. Ausgangspunkt war für ihn jenes seltsame Jesuswort Matthäus 12,43 – 45: „Wenn ein böser Geist einen Menschen verlässt, dann schweift er über ödes Land und sucht nach einem Ruheplatz. Wenn es keinen findet, sagt er sich:, Ich will in mein Haus zurückkehren, das ich verlassen habe!‘ Also geht er zurück – und findet das Haus leer, sauber und geordnet vor. Dann geht er und bringt sieben andere böse Geister mit, die noch schlimmer sind als er selbst, und sie kommen und wohnen hier. So befindet sich der Mensch am Ende in einem schlimmeren Zustand als am Anfang.“ Nach Evagrius ist der erste böse Geist die „Völlerei“, die sich schließlich die sieben weiteren Laster „einverleibt“, sodass es zur Achtzahl kommt. In seiner Neunlasterschrift, die in unserem Zusammenhang besonders interessant ist, ordnet er drei Leidenschaften der sinnlich-materiellen Welt zu (bei ihm sind dies Völlerei, Unzucht und Geiz), drei der „erregbaren Seele“ (Traurigkeit, Zorn und „Trägheit“) und drei dem geistigen Bereich, der allein dem Menschen vorbehalten ist (Ehrsucht, Neid und Stolz). Die „Furcht“, die im Enneagramm Typ SECHS zugeordnet wird, fehlt. Papst Gregor I. hat die Liste der acht bzw. neun Leidenschaften später auf die bis heute gängige Liste der sieben klassischen Hauptsünden reduziert (oft fälschlich als die „sieben Todsünden“ bezeichnet). Er fasste Ruhmsucht und Stolz sowie Traurigkeit und Faulheit zusammen. Ergebnis war ein Jahrhunderte lang gültiger Katalog: Stolz, Neid, Zorn, Traurigkeit, Habgier, Völlerei, Unkeuschheit. Im 7. Jahrhundert wurde die Traurigkeit durch die Trägheit ersetzt. Als die sieben Hauptsünden bezeichnet die katholische Kirche gegenwärtig Stolz (superbia), Habsucht (avaritia), Neid (invidia), Zorn (ira), Unkeuschheit (luxuria), Unmäßigkeit (gula, immoderatio), Trägheit oder Überdruss (pigrata oder acedia).

 

Auch wenn Evagrius neun Laster nennt, ist doch offenkundig, dass er sie noch nicht als jenes „Enneagramm der Fixierungen“ systematisiert hat, das Oscar Ichazo in den 70er Jahren entwickelt hat. Er ordnet sie zum Beispiel nach anderen Gesichtspunkten der physischen, psychischen und geistige Sphäre zu, als es Oscar Ichazo mit den neun Leidenschaften bzw. Fixierungen im Enneagramm getan hat.

Neben der Identifikation von neun Leidenschaften und drei Zentren, denen jeweils drei Leidenschaften zugeordnet werden, beschreibt Evagrius auch ein geometrisches Symbol, das sich nur erschließt, wenn man die Zahlensymbolik des Pythagoras kennt. Dabei geht es um die Darstellung einer geheimnisumrankten biblischen Zahl: Gegen Ende des Johannesevangeliums wird berichtet, wie Jesus nach seiner Auferstehung an Ostern seinen Jüngern gebietet, das Fischernetz im See Genezareth auszuwerfen. Sie gehorchen ihm und fangen 153 große Fische. Warum nennt der Evangelist diese Zahl? Das Johannesevangelium ist voll von hintergründigen und mehrdeutigen Redewendungen mit „doppeltem Boden“. Hinter einer platt wörtlichen Bedeutung steckt immer ein tieferer Sinn. Weil die Menschen – einschließlich der Jünger Jesu – seine Worte allzu buchstäblich deuten, kommt es im Johannesevangelium ständig zu kuriosen Missverständnissen. Es ist offenkundig, dass diese Zahlenangabe nicht willkürlich ist, sondern einen symbolischen Sinn hat. Hieronymus (um 420) deutet die Zahl so: Man hätte seinerzeit angenommen, es gäbe insgesamt 153 Fischarten. Die Zahl sei also ein Hinweis auf die Universalität und Vollständigkeit der Kirche, die alle Völker umfasst. Spekulativer ist bereits Augustinus:

„In der Anzahl der Fische, die unser Herr nach seiner Auferstehung auf der rechten Seite des Schiffes zu fangen befiehlt, um dieses neue Leben zu zeigen, findet sich die Zahl 50 mit drei multipliziert. Wenn man drei hinzuzählt (das Symbol der Trinität), ist das heilige Geheimnis noch offenbarer. Dann (im neuen Leben) soll der neue Mensch, vollendet und zur Ruhe gekommen, durch die lauteren Worte Gottes an Leib und Seele geläutert, die wie entschlacktes Silber sind, das siebenmal gereinigt ist, seinen Lohn erhalten – die Münze. Mit diesem Lohn begegnen sich die Zahlen sieben und zehn in ihm. Denn in dieser Zahl (17) findet sich – wie in anderen Zahlen, die eine Kombination von Symbolen darstellen –, ein wundervolles Geheimnis … Und wann wird der Körper endgültig von allen Feinden befreit sein? Ist es nicht dann, wenn der letzte Feind, der Tod, vernichtet sein wird? Bis zu dieser Zeit also wird die Zahl der 153 Fische reichen. Denn wenn die Zahl 17 als Seite eines gleichseitigen Dreiecks genommen wird … beträgt die Gesamtsumme der Einheiten 153.“6

Diese Deutung ist ein Beispiel für die spekulative Art und Weise, mit Zahlen umzugehen, wie sie in der Antike und in der Frühzeit der Kirche gang und gäbe war.

Auch Evagrius interpretiert die Zahl 153 mit Rückgriff auf die pythagoräische Zahlensymbolik. Seine Interpretation findet sich in der Einleitung zu einem Büchlein mit dem Titel „153 Kapitel über das Gebet“, einem Leitfaden zur Kontemplation. Diese 153 kurzen Kapitel sind auch Teil der „Philokalia“, jener berühmten Sammlung altkirchlicher Anleitungen zum Gebet, die die spirituelle Grundlage ostkirchlicher Mystik ist und die es jetzt endlich auch in einer deutschen Gesamtausgabe gibt. Evagrius schreibt in der Einleitung:

„Ich habe diese Abhandlung über das Gebet in 153 Kapitel eingeteilt. Mit ihnen sende ich dir einen Leckerbissen des Evangeliums, damit du dich an einer symbolischen Zahl erfreuen kannst, die eine dreieckige und ein sechseckige Figur miteinander verbindet. Das Dreieck steht symbolisch für die Trinität, das Sechseck für die geordnete Erschaffung der Welt in sechs Tagen. Die Zahl 100 bezeichnet ein Quadrat, die Zahl 53 ein Dreieck und zugleich einen Kreis. Weshalb? Weil sie die Summe von 25 und 28 ist. 28 ist das Dreieck und 25 der Kreis, da 25 fünf mal fünf ist. So stellt diese Summe eine quadratische Figur da, da sie die vierfache Qualität der (sieben) Tugenden symbolisiert. Der Kreis drückt durch seine runde Form den Fluss der Zeit aus und ist zugleich ein angemessenes Symbol für die wahre Welterkenntnis. Im Fluss der Zeit folgt Woche auf Woche, Monat auf Monat, Jahr auf Jahr und Jahreszeit auf Jahreszeit, wie es die Bewegung von Sonne und Mond, Frühling und Sommer und so weiter zeigen. Das Dreieck, das in der Zahl 28 zum Ausdruck kommt, bezeichnet die Erkenntnis der Heiligen Trinität. Oder wir könnten die ganze Summe von 153 als ein Dreieck deuten, das die asketische Praxis, die Kontemplation der Natur und die Betrachtung des spirituellen Wissens von Gott bedeutet – oder Glaube, Hoffnung und Liebe, oder Gold, Silber und Edelsteine. So viel zu dieser Zahl …“

Diese Interpretation des Evagrius ergibt nur Sinn, wenn man mit der pythagoräischen Zahlensymbolik vertraut ist. Pythagoras unterschied unter anderem Dreieckszahlen, Quadratzahlen, Sechseckzahlen und Kreiszahlen:

Dreieckszahlen: Die Summe aufeinander folgender Zahlen, beginnend mit 1. Beispiele:

3 = 1 + 2; 6 = 1 + 2 + 3; 10 = 1 + 2 + 3 + 4 usw.

2. Quadratzahlen: Die Summe von Zahlen, beginnend mit 1, wobei jeweils eine Zahl ausgelassen wird. Beispiele:

4 = 1 + 3 (2 ausgelassen); 9 = 1 + 3 + 5; 16 = 1 + 3 + 5 + 7 usw.

3. Sechseckzahlen: Die Summe von Zahlen, beginnend mit 1, wobei jeweils drei Zahlen ausgelassen werden. Beispiele:

6 = 1 + 5 (2, 3 und 4 ausgelassen); 15 = 1 + 5 + 9; 28 = 1 + 5 + 9 + 13 usw.

4. Kreiszahlen: Eine Zahl, die Produkt einer Zahl ist, die sich beim Quadrieren an letzter Stelle wiederholt. Beispiele:

25 = 5 x 5; 36 = 6 x 6.

Für die Zahl 153 bedeutet das: Sie ist nach pythagoreischer Interpretation „dreieckig“ (1 + 2 + 3 + … 17) und zugleich „sechseckig“ (1 + 5 + 9 … + 33). Deshalb hat diese Zahl zugleich „dreieckige“ (trinitarische) und „sechseckige“ Qualität; das Dreieck bezeichnet nach Evagrius die göttliche Wirklichkeit und das Sechseck – wie erwähnt – die sechs Schöpfungstage und somit die irdische Welt. Es gäbe mehrere Möglichkeiten, diese Kombination von Dreieck und Sechseck bildlich darzustellen:


153 lässt sich nach Evagrius aber auch als Summe von 100 + 28 + 25 verstehen. 100 ist eine „Quadratzahl“ (1 + 3 + 5 + 7 … + 19). Evagrius deutet 4 x 7 als Hinweis auf die vierfache Qualität der (sieben) klassischen Tugenden. 28 ist ein „Dreieck“ (1 + 2 + 3 + … 7) und bezeichnet die Heilige Trinität. 25 ist ein „Kreis“ (5 x 5). Der Kreis ist für Evagrius ein Hinweis auf den Lauf der Zeit und auf wahre (vollständige) Erkenntnis. Graphisch ließe sich die Kombination von Quadrat, Dreieck und Kreis wiederum auf unterschiedliche Weise darstellen:


Eine dritte Möglichkeit sieht Evagrius darin, die gesamte Zahl 153 als „Dreieck“ zu interpretieren (1 + 2 + 3 + … 17). Das könnte man graphisch als gleichseitiges Dreieck mit der Seitenlänge 17 (Punkte) darstellen:


Zusammenfassend kann man sagen: Evagrius hat eine Charakterpsychologie entwickelt, die auf acht bzw. neun „Gedanken“ oder Leidenschaften basierte. Gleichzeitig hat er eine Kosmologie entworfen, die durch eine Kombination von Kreis, Dreieck, Viereck und Sechseck symbolisch dargestellt werden kann. Es gibt allerdings keinen Hinweis darauf, dass Evagrius selbst seine Leidenschaftslehre und das kosmische Symbol miteinander verquickt hätte. Das Enneagramm der Fixierungen dürfte eine Neuschöpfung Oscar Ichazos aus dem 20. Jahrhundert sein. Es wäre also abwegig zu behaupten, das Enneagramm, so wie wir es kennen, ginge als solches auf die Wüstenväter zurück. Richtig ist jedoch, dass sich die zwei wichtigsten Elemente moderner Enneagrammkunde (kosmisches Prozesssymbol, das – neben dem Quadrat – Dreieck, Kreis und Sechseck enthält, plus eine Charakterlehre, die auf den „Hauptleidenschaften“ basiert und sie den drei Zentren Körper, Seele und Geist zuordnet) unmittelbar auf Evagrius, diesen großen frühchristlichen Welt- und Seelenkenner, zurückführen lassen.