Lidwicc Island College of Floral Spells

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Zwei


Was wäre mit mehr Furcht vor der Magie passiert?

Die Kletterpflanze, die vom Dach wuchs, zog sich wieder zurück. Langsam schlängelte sich der Efeu wie eine Welle die Steinmauer hinauf, bis er an der Stelle stoppte, an der sie vorher geendet hatte. Ein paar Ziegelteilchen blätterten dabei von der maroden Fassade ab und rieselten sanft auf den Boden.

Währenddessen zeigten meine beiden Hände zu den Typen vor mir auf den Boden. Zwei Schlafende, die aneinandergeschmiegt dalagen, sich nicht bewegten, und der friedliche Ausdruck in ihrem Gesicht machte alles noch unheimlicher. Na ja, und ich, ich stand wie festgefroren da. Daphne sog neben mir laut die Luft ein und atmete daraufhin so kräftig aus, dass ich glaubte, den Windstoß an meiner Wange zu spüren.

»Du hast nicht gerade wirklich –«

»O Gott, sag es nicht«, unterbrach ich sie.

Eine Wolke schob sich über uns und legte einen grauen Filter über das Szenario. Wieder tauchte er auf. Der plötzlich auftretende Platz-regen. Wasser prasselte auf mich hinab und als die ersten Tropfen mich trafen, kam es mir vor, als zischte mein aufgeheizter Körper. Meine Finger zitterten, doch ich wollte meine Arme nicht senken.

Der kahle Hinterhof verwandelte sich in einen dunstigen Schauplatz, als wären wir in einem Londoner Thriller gefangen. Die alten Häuser, die uns förmlich einkesselten, engten mich ein und ein wenig hatte ich die Befürchtung, dass sich die Mauern zusammenschoben. Der Spalt, durch den wir hierhergekommen waren, schloss sich und der Durchgang, den die beiden Typen benutzt hatten, wurde kleiner und kleiner, bis selbst ein Nadelöhr größer war. Okay, es war amtlich, ich drehte durch.

Ein Kopfschütteln später und alles sah wieder normal aus.

»Margo, du hast die Kerle mit zwei Ranken ausgeknockt.« Daphne ratterte diesen Satz so rasch hinunter, dass es mir unmöglich war, sie aufzuhalten.

So. Es war geschehen. Sie hatte es ausgesprochen. Zu allem Übel verließ mich die Kraft in meinen Armen und sie schlugen gegen meine Seiten. Die klitschnassen Klamotten gaben ein patschendes Geräusch von sich.

Ein Regentropfen traf genau meine Nase und spritzte in mein linkes Auge. Mit meinen Fingern wischte ich das Wasser weg und benutzte sie als Kamm, um meine feuchten Haare zurückzustreichen.

»Margo?«

Nein, noch konnte ich nicht antworten, daher legte ich meinen Kopf in den Nacken und blickte auf die Zuckerwattewolken. Zuckerwatte, die eher aussah wie dreckiger Schnee neben schmutzigen Straßen, lenkte mich für einen Moment ab. Mehr und mehr Tropfen benetzten mein Gesicht, bis ich das, was passiert war, nicht mehr verdrängen konnte.

Das Gedankenkarussell sprang an, schnallte mich ohne Erlaubnis fest und ich musste das Geschehene Revue passieren lassen.

Ein Film in meinem Kopf zeigte mir, wie Lichtpunkte mich umhüllt hatten, ich mich wieder hatte bewegen können, ich aufgesprungen war und ohne zu überlegen die Hände vorgereckt hatte.

Die restlichen Erinnerungen waren verzerrt.

Wie auf Befehl waren die Kletterpflanzen neben uns gewachsen, schlangengleich zu den Typen gekrabbelt, hatten ihre Knöchel umschlungen und ihnen dann den Boden unter den Füßen weggerissen. Zuerst hatten ihre Köpfe wieder Kontakt zum Steinboden gefunden, dann der Rest ihrer Körper.

»Margo, du … das … wow.«

»Ich habe keine Ahnung, was da gerade passiert ist.« Lange könnte ich es ohnehin nicht mehr abwenden, also guckte ich Daphne ohne zu zögern in die dunklen Augen. Was ich fand, war, was ich erwartet hatte. Furcht.

Meine beste Freundin zu verlieren, durfte nicht passieren. Sofort sauste ich zu ihr und stürzte auf die Knie. Direkt in eine Pfütze, die sich gebildet hatte.

»Daphne, keine Ahnung, was das für ein Scheiß gewesen ist. D-d-d, ähm, ich, was soll ich sagen? Kann das nicht irgendetwas Naturphänomenmäßiges sein? Du belauschst doch diese Alte vor der Kirche, die zu laut Podcasts hört.«

»Sie hört True Crime Podcasts, keine Physiklektionen.« Vermutlich wollte sie es unauffällig wirken lassen, aber ich merkte, wie sie sich stärker gegen die Steinmauer drückte.

»Daphne. Hast du Angst vor mir? Wir sind eine Familie, wir haben uns geschworen, uns so etwas nie anzutun.« Meine Empörung brach aus mir, ohne dass ich sie verbergen konnte.

»Ja. Nein. Ich weiß es nicht.«

Ihre nassen Haare rahmten ihr Gesicht ein. Verzweiflung rumorte in meinem Magen und ich wischte mir genervt das Wasser aus dem Gesicht.

»Wie, du weißt es nicht?«

»Bist du eine Hexe?«

»Mach dich nicht lächerlich, Daphne. Ich? Du faselst doch ständig etwas von Universen, Karma und Schicksal.«

»Und du streitest alles ab, wie es Hexen tun würden.«

»Ich klaue mir auch Heftromane, in denen Lords Zofen verführen und bin deswegen keine Historikerin.«

Daphnes Mundwinkel gingen nach unten und sie biss sich auf die Unterlippe, wie sie es stets tat, wenn sie ein Lachen unterdrückte. Ein, zwei Sekunden versuchte ich es auch, bis wir beide loslachten und uns umarmten.

»Scheiße, Margo. Hat uns heute Morgen jemand von den anderen etwas in den Kaffee geschmissen?« Ihre Stimme an meinem Ohr beruhigte mich.

»Schon wieder?«

»Wenn du … Wenn du davon wirklich nichts gewusst hast, also von dem Hexending.«

»Daph!«

»Von dem Pflanzending. Besser? Dann, Shit, weißt du, was wir damit alles machen können?«

Wollte ich das wieder machen? Könnte ich das überhaupt wieder machen?

Ein rasselndes Husten holte mich zurück ins Hier und Jetzt.

»Sie wachen auf.« Daphnes Wispern wäre nicht nötig gewesen, ich hörte es ebenfalls.

»Komm! Weg von hier.« Ich zog sie auf die Beine und wir hauten durch den Spalt, durch den wir gekommen waren, ab.


Genussvoll leckte ich meine Finger ab, nachdem ich mir das letzte Stück Bougatsa in den Mund geschoben hatte. Der Blätterteig knisterte zwischen meinen Zähnen und ich schmeckte den Grießpudding mit der Zimt-Zucker-Mischung, der das perfekte Verhältnis von Süße und Würze hatte. Wie ich das genoss. Der Puderzucker, der Daphnes Mund wie ein Lippenstift zierte, zeigte mir, dass es ihr ebenso ging.

Der Coffee to go, den wir uns teilten, wog schwer in meiner Hand. Zu teuer, sagte mein Gehirn. Mein Herz schrie: Das habt ihr euch nach der Aufregung verdient. Außerdem habt ihr das Geld gerade eh wieder jemandem geklaut, ihr Unbelehrbaren!

Mit einem beherzten Sprung von der Backsteinmauer landete ich auf dem Gehweg vor der byzantinischen Kirche, die gegenüber eines neuen Einkaufszentrums stand. In Thessaloniki roch man quasi, wie sich Antike und Moderne die Hand gaben.

Die Tüte in Daphnes Hand raschelte, als sie ebenfalls neben mir aufkam und wir über die Straße eilten. Zum Glück hatten wir die Sachen vom Kioskgott abgeholt. Als wir auf der anderen Seite angekommen waren, spazierten wir unter dem uralten Galeriusbogen hindurch. Das spätrömische Relikt stellte sich meistens als idealer Platz zum Betteln heraus, da der Triumphbogen ein Touristenmagnet war. Schade nur, dass es nie lange dauerte, bis die Polizei einen vertrieb.

»Zur Seite, Margo. Die machen da ein Selfie.« Daphne zeigte zu einem Pärchen und ich huschte sofort zur Seite.

»Sygnómi.« Das Pärchen betrachtete mich verwirrt, also mussten es Touristen sein. »Sorry«, schrie ich übersetzt hinterher.

»Hach, ist die süß.« Daphne sah dem Mädchen mit den asch-blonden Haaren nach, als ich sie bereits vorwärts drängte. »Ob ich auch jemals eine Freundin haben werde?«

»Klar, irgendeine von der Straße, vielleicht findest du sogar eine, die nicht durchgeknallt ist.« Ich war in Höchstform, positiv und optimistisch wie eh und je. »Wer will schon jemanden von der Straße?«

»Na, danke auch. Kannst du nicht irgendetwas machen? So als Zauberin?«

»Daph.« Wie oft sollte ich noch erwähnen, dass ich nie wieder darüber sprechen wollte. Denn: Sprach man nicht darüber, war es auch nicht passiert.

»Wir können das nicht totschweigen.«

Ich beschleunigte meine Schritte. Daphne ließ sich nicht ablenken. Nicht mal als ich runter zum weißen Turm eilte, der sich vor dem Meer auftat. Überall lagen Studierende, genossen den Tag, warfen sich Getränkedosen zu und lachten zu Handyvideos.

»Ich Sin Boy-e dich.«

Abrupt hielt ich an und drehte mich zu Daphne, die mich mit in die Hüften gestemmten Händen ansah. Ihre Augenbrauen zog sie beide hoch, weil sie nicht nur eine heben konnte.

»Das machst du nicht.« Das war unser geheimer Quasi-Zauberspruch. Sie nutzte unser Geheimwort, um sich einmal im Jahr etwas von der anderen zu wünschen, dafür? Nun zog sie da auch noch unseren griechischen Lieblingsrapper Sin Boy mit rein.

»O doch.« Die Sonne ging gerade unter, als das orangerote Licht auf Daphnes Gesicht fiel und sie in einem wunderschönen Ton zeichnete. Jetzt tat es mir leid, ihr gesagt zu haben, sie würde nie eine Freundin finden, die nicht auf der Straße lebte, träumte sie doch davon, von hier wegzukommen. (Weg von mir?) Diesen Anblick von Daphne würde ich hoffentlich mein Leben lang als verblasstes Bild in mir tragen.

 

»Fein. Was genau willst du von mir?«

»Du versuchst das mit der Magie nochmal.« Wie bei einer Verschwörung sah sie sich um, damit uns auch niemand hörte.

Konnte ich mich da noch rauswinden? Vermutlich eher nicht. Ein langes, dramatisches Seufzen kam als Antwort aus mir. »Bitte. Dann gehen wir nach Hause.«


Wenn Daphne noch länger im Kreis lief, würde sie unseren Unterschlupf durchbohren. Damit mich kein Schwindel überkam, drehte ich mich von ihr weg und blickte aus dem nicht vorhandenen Fenster des Rohbaus. Der harte Beton drückte sich in meine Unterarme, als ich mich dagegen lehnte. Selbst der Geruch von Zement hing noch in der Luft. Für unser ständiges Umziehen kam es mir jedoch gelegen, dass die Leute überteuerte Kredite zum Häuserbau bekamen, die sie dann irgendwann nicht mehr begleichen konnten und mitten im Bau stoppen mussten. Überall in Nordgriechenland ragten die halb-fertigen Rohbaugebäude mitten in der Pampa hervor, die ich liebevoll unsere Villen nannte.

Der Sternenhimmel erstreckte sich über Thessaloniki und ich sah über die ganze Stadt, bis zum Meer hinunter. Dort fing das Wasser das Glitzern des Nachthimmels auf, verzerrte es und rahmte das Mondlicht ein, das über der Oberfläche tanzte.

»Lass uns doch wieder in den Keller abhauen und schlafen gehen. Hier oben ist es ziemlich windig.« Hoffnungsvoll wartete ich auf ein Ja von Daphne.

»Okay, du kannst kein Feuer machen, fliegen willst du nicht probieren …« Aus nachvollziehbaren Gründen! »Und schweben lassen kannst du auch nichts.«

»Ich habe dir doch gesagt, ich bin keine Hexe. Wer weiß, was wir uns da zusammengereimt haben.«

»Genau, beide haben wir uns gleichzeitig dasselbe eingebildet.« Daphne folgte mir mit ihren Argumenten bis in den Keller.

Dort empfingen uns unzählige Kerzen in Flaschen, in Löchern am Boden, auf Tellern, in Tassen oder Teekannen und eine Regenbogenwand aus zusammengeklebten Fertigcroissantverpackungen. Hatte ich erwähnt, dass Daphne die liebte? Das Licht des Feuers brach sich auf den bunten, spiegelnden Verpackungen. Mein Liebling war allerdings der stinkende, uralte, orientalische Teppich, den ich von einer Wäscheleine bei unserem Ausflug in Kallithea geklaut hatte.

»Vielleicht eine dieser komischen, unerklärlichen Begebenheiten. Sowas gibt es doch.« Müde ließ ich mich zurückfallen. Die Matratze quietschte und bohrte mir wie gewohnt ihre Federn in den Rücken. Ohne sie schlafen? Konnte ich gar nicht mehr. Gezielt packte ich meine bronzefarbene Kette, die auf dem Nachttischeimer lag und machte sie mir um. Das einzige Teil, das ich, seitdem ich denken konnte, besaß. Ein Teil meiner Vergangenheit. Etwas, das eine Geschichte besaß, die mir verschlossen blieb und mir, könnte es nur sprechen, sagen könnte, woher ich kam. Wer ich war.

»Da muss mehr dahinter sein.« Daphne legte die Klamotten zusammen, die wir gestern im Waschsalon gewaschen hatten. Zum Glück waren wir heute sogar in die Sporthalle gekommen, da der Aufpasser nach dem Rauchen die Hintertür wieder nicht verschlossen hatte. Wie ich eine heiße Dusche liebte.

Daphne schnappte sich die Gabel, auf die sie einen Rasierkopf gesteckt hatte, und rasierte sich ein paar Härchen von den Ober-armen weg.

»Wir müssen das weiter beobachten.«

Daphne eilte an unserer Feuerstelle, über der ein umgekippter Einkaufswagen lag, den wir als Grillrost verwendeten, und holte unser Moskitonetz von der Truhe dahinter hervor. Es wunderte mich jeden Tag, wie Daphne den Einkaufswagengrill so sauber halten konnte.

»Warum hast du dir ein Erdbeercroissant genommen?«, fragte sie, als sie die Tüte ansah. »Du magst die doch nicht.«

»Ich weiß, aber es ist deine Lieblingssorte, die du dir fast nie kaufst, um die neuen Varianten auszuprobieren.«

»Ach, Margo. Ich kann auf mich achten. Danke. Und du leiste lieber deinen Beitrag und lern besser hexen.«

Dieses Versteck gefiel mir besser als das davor. Ich verfolgte die batterie-betriebene bunte Lichterkette, die sich über den Keller erstreckte, startend bei der Croissantmauer und endend über dem Palettenstapel, der unsere Couch sein sollte. Auf ihm lag der uralte Laptop, den wir gerettet und beim eineinhalb Augen Eric – fragt nicht – aufpoliert hatten. Es reichte zumindest, um geklaute DVDs zu gucken.

»Was erwartest du von mir, dass ich mit den Fingern schnippe und es erscheint ein Geldkoffer?« Ich verschränkte meine Hände hinter meinem Kopf und gähnte laut. Dieser Tag würde mir länger in den Knochen stecken. Nur langsam legte sich die Anspannung, die sich hartnäckig in mir hielt.

»Zum Beispiel. Du musst schon ein wenig – Machst du die Füße kurz hoch? – mitarbeiten.«

Gesagt, getan. Daphne warf das Moskitonetz über den Haken.

»Willst du das echt jeden Tag aufs Neue machen?«

»Wir haben nur das eine und wenn sich tagsüber ein Tier darin verhakt, ist es kaputt. Und: Lenk nicht ab.«

Ich schnippte mit den Fingern. »Siehst du. Kein Geldkoffer.«

Daphne hielt in ihren Kunststücken inne, die sie vollführte, um das Netz zu befestigen. »Du bist furchtbar.«

»Mit Geldkoffern kann ich nicht dienen, –«

Wer sprach da?

»Daphne, hol das Messer!« Noch während ich aufsprang und den Mann, der an der Treppe stand, nicht aus den Augen ließ, verhedderte Daphne sich in dem Moskitonetz.

Drei


Was wäre bei der anderen Abzweigung passiert?

So schnell konnten sich Meinungen ändern. Hatte ich mich bei unserem Umzug noch geärgert, dass wir die freie Stelle in der Außenwand für das Tor zum Keller abkleben mussten, war ich heilfroh gewesen, dass wir dadurch abhauen konnten. Ganz ehrlich? Mich kotzten diese Verfolgungsjagden an.

»Einmal fliehen hätte heute gereicht.« Meine Worte klangen gehetzt und innerlich ärgerte ich mich, dass wir von Thessaloniki wegliefen, anstatt in die Stadt hinein. Ein bescheuerter Fehler. Leider hatte mich das Auftauchen des Kerls mit den türkisfarbenen Haaren durcheinandergebracht.

»Na ja, es ist nach Mitternacht.«

Meinte Daphne das ernst? Morgen war, wenn ich aufwachte.

Nun ja, wenn ich über die Schultern guckte und Türkistyp abdriften sah, erlaubte ich mir, ein wenig gelassener zu werden. Der Schreck saß tief. Wir waren nicht zum ersten Mal in einer Unterkunft von Fremden überraschen worden. Oft jagte uns einer weg, damit wir nicht zurückkamen, indessen besetzten die anderen das Versteck. Besser wurde es deswegen nicht und wann immer ich die ständig präsente Angst davor in mir spürte, erkannte ich, dass ich eben kein normales Leben hatte, sondern mein Geist rund um die Uhr in Alarm-bereitschaft war. Meine Existenz bestand aus täglichem Fliehen.

Es fiel mir zunehmend schwerer, den steilen Weg über die ausgetrockneten Hügel zu erklimmen, bis wir auch noch Oleander-sträuchern ausweichen und in Zickzacklinien zwischen Aleppo-Kiefern laufen mussten. Fabelhaft. Gleichzeitig klopfte die Umhängetasche, die ich geschnappt hatte, gegen meinen Oberschenkel, was das Laufen nicht vereinfachte.

Daphne bog scharf nach rechts ab. Ich tat es ihr nach, wodurch der Kies unter meinen Füßen kratzte. Wir tauchten in das Labyrinth des kleinen Waldes ein. Der Duft von Harz lag in der Luft.

Gerade wollte sich Erleichterung in mir breitmachen, als ein Wurfmesser an mir vorbeizischte und in einem Baum stecken blieb. Shit. Wie hatte er uns so rasch eingeholt?

»Margo! Alles okay?«

»Mhm.« Mehrere Tropfen Schweiß bahnten sich ihren Weg über mein Gesicht.

Daphne preschte vor. Zwischen mehreren ineinandergeschlun-genen Bäumen verschwand sie aus meinem Blickfeld. Der Gedanke, dass sie mich zurückließ, stachelte die Todesangst in mir an.

Wo war Daphne? Wie sollte ich überleben? Meine Sicht trübte sich. Der Wald verschwamm zu einem dunklen Albtraum. Gerade als ich dachte, meine Gefährtin verloren zu haben, packte mich jemand am Arm. Automatisch schlich ein Schrei meinen Hals hinauf. Eine Hand legte sich jedoch über meinen Mund, die mein Rufen unterdrückte. Zarte Haut, die nach Erde roch.

»Shht.« Es dauerte Sekunden, bis ich Daphnes Stimme identifizierte.

Binnen weniger Augenblicke legte sich eine drückende Stille um den Wald, die so laut in meinem Kopf dröhnte, dass ich nicht wusste, ob man sie nicht doch wahrnahm. Das Knacken eines Astes sowie das Rascheln mehrerer Blätter änderte das.

»Hättest du nicht mein Angebot annehmen und mit mir mitkommen können?«

Warum wollte er, dass ich mit ihm mitkam? Suchte er Frauen, die er verkaufen konnte? Neue Leute für seine Bande? Wieso nur ich?

Herzklopfen übertönte meine Gedanken. Ein Surren breitete sich in mir aus. Ich hörte nichts mehr. Bewegte ich mich auch nicht zu viel? Atmete ich zu laut? Immer stärker presste ich meine Lippen und meine Augen zusammen. Alles in mir spannte sich an. Meine Zähne biss ich so fest aufeinander, dass ich Angst hatte, meine Kiefer-knochen würden brechen.

Ein leichtes Ziehen an einer Haarsträhne versetzte mich in Aufruhr. War das Daphne? Was wollte sie sagen? Mist, ich wollte die Augen nicht aufmachen. Nochmal ein beherzteres Ziehen.

Okay. Ich öffnete meine Augen und sah zu Daphne. Sie deutete mit ihrem Kinn nach vorne. Langsam, ganz langsam, bewegte ich meinen Kopf in die Richtung. Nur einen Millimeter. Dann noch einen. Ich schluckte, aber die Spucke blieb mir im Hals stecken, als ich es auch erkannte. Meine Kehle schnürte sich zu.

Hunderte kleine Äste und Wurzeln schlichen sich in der Luft beinah lautlos auf uns zu. Sie schwebten näher in meine Richtung. Ein Ruck zuckte durch meinen Körper und ich wollte loslaufen. Daphne hielt mich. Bis ich erahnte, warum. Der Wald hatte uns eingemauert.

»Glaubt ihr, ihr könnt euch vor mir verstecken?«

Krächzend verbog sich das Pflanzenwerk. Ein kleiner Durchgang öffnete sich. Türkistyp schritt hindurch und nahm einen Zylinder ab. Einen Zylinder! Er musste ein Psychopath sein. Selbst sein Bart leuchtete türkis im Mondlicht.

Daphne ließ mich los. Es war ohnehin vorbei.

»Was willst du von uns?«

Meine Bewunderung für Daphne, dass sie noch sprechen konnte, schoss höher als jeder Aktienkurs.

Er schüttelte den Kopf. »Von dir will ich gar nichts, sondern von ihr.« Sein langer, dünner Zeigefinger deutete auf mich. Sein Fingernagel lief spitz zu.

Da mir die Worte im Halse stecken blieben, zeigte ich auch nochmal auf mich.

»Ja, genau.«

»Was willst du von Margo?«

»Margo. Na, ob das dein Name ist?«

Was meinte er? Woher wusste er, dass ich meinen richtigen Namen nicht kannte?

Was oder wer er auch war, ich ließ mich nicht verarschen. Eine Energie in mir köchelte, doch tief in dieser Energie erkannte ich Potenzial für mehr. Also schritt ich zu ihm vor, bis ich bei seinem Dolchfingernagel zum Halten kam.

»Was willst du?«

»Dass du mit mir kommst. In meinem Zuhause kann ich dir alles besser erklären.«

»Und wenn ich nicht will?« Abwehrend verschränkte ich meine Arme vor der Brust.

»Ohhh.« Zylindertyp betrachtete mich wie ein kleines Kind und schnippte mit den Fingern.

»Margo!« Daphnes Aufkreischen ließ alle Alarmglocken bei mir losschrillen.

Als ich mich umdrehte, schlang sich Wurzelwerk der Bäume aus dem Boden um sie, bis sie völlig eingewickelt war. Nur alles oberhalb ihrer Nase war frei. Sie konnte nichts sagen. Dafür schrien ihre Augen Panik.

Die köchelnde Energie in mir brodelte.

»Du willst mitkommen.« Er baute sich vor mir auf und wie er da stand, mindestens zwei Meter groß, spindeldürr und mit einem Grinsen auf den Lippen, das den Teufel erschaudern ließe, ahnte ich: Dieser Tag würde nicht friedvoll enden.

Etwas in mir ließ mich glühend heiß werden. Die Konturen meines Körpers wurden von Lichtpunkten eingerahmt. Sie pulsierten, färbten sich gelb, dann rosa, später lila, ehe sie mit mir verschmolzen und die Blätter um uns zu rascheln begannen. Sie stellten sich auf, versammelten sich, wirbelten wie ein Hurrikan um mich und erschufen einen Schutzwall. Meine Haare nahmen die Aufforderung des Blätter-strudels an und tanzten in der Mitternachtsmusik des Waldes.

 

Was geschah nur mit mir?

»Hübsch.« Erstaunt sah er sich um. »Nur leider wirkungslos.« Mit einem Kopfnicken erstarrten die Blätter und wiegten sich in der Luft in den Schlaf, ehe sie zu Boden glitten.

Er bekam, was er wollte, und umfasste mein Gesicht. »Du bist der Schlüssel.«

»Lass sie in Ruhe!«

Wer war das nun wieder? Rettung? Noch jemand Schlimmeres?

Bei der Stimme zuckte der Zylindertyp zurück. Seine Augen weiteten sich und Todesangst zeichnete sich in seiner Mimik ab. In Windes-eile wirbelten die Blätter und Äste auf, legten sich um ihn, bis er von ihnen umhüllt wurde.

»Zeig mir dein Gesicht.« Die Frauenstimme näherte sich uns. Sie stellte sich vor mich. Ihr Haar war zu einem Turm hochgesteckt. »Geht es dir zumindest okay?« Sie warf nur einen knappen Blick über die Schulter.

»Äh, ja, ich denke schon.«

»Wer bist du?« Sie näherte sich ihm. Unmöglich mit dieser Kutte und der Kapuze zu erkennen, wie die Frau aussah, außerdem spielte die Nacht ihr in die Karten.

Er wich zurück. Trotz ihrer Deckung wirkte es, als erkannte er sie.

»Hat er seinen Namen genannt?«

»Nein, nicht dass ich wüsste, oder Daphne?«

Ihre Augen straften mich mit einem bösen Blick. Oh, ja, sie konnte gerade nicht sprechen.

»Können Sie meiner Freundin helf-« Noch bevor ich meinen Satz beendet hatte, schnappte mich ein Ast, der meine Hand umklammerte, und zog mich seitlich weg.

Mein Kopf schlug gegen etwas Hartes. Schon wieder. Der Schmerz zog sich wie ein Blitz von oben bis unten. Langsam wurde meine Sicht Schwarz. Schon wieder.

»Liebes! Darf ich dich retten? Darf ich dich mit mir nehmen?«

Mitnehmen? Retten? Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.

Jammernde Geräusche drängten sich aus mir heraus. Angst schwoll in mir an. Lange konnte ich mein Bewusstsein nicht mehr aufrechterhalten, also musste ich mich beeilen.

»Sag! Sag es!«

Wie sollte ich in diesem Augenblick entscheiden, wie ich wählen sollte? Daphne war sonst der Kopf in diesen Dingen. Niemandem trauen. Mit dieser Devise lebte ich seit Jahren besser als früher, als ich naiv gedacht hatte, es gäbe nette Menschen.

»Ich brauche deine Erlaubnis.« Stimmfetzen flehten mich an und auch, wenn ich es bereute, kam ein unmissverständliches Geräusch aus mir: »Mhm.«

Nachdem ich ihre Frage bestätigt hatte, fraß mich die Dunkelheit mit Haut und Haar auf.