Kooperatives Lernen im Englischunterricht

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3. Unterrichtsstudie

Im vorangegangenen Kapitel wurden das Zustandekommen und der Verlauf des Projekts dargestellt und auf der Basis der Forschungsdiskussion zum KL das Erkenntnisinteresse und die Fragestellung des Projekts erläutert. Ziel der hier anschließenden Unterrichtsstudie ist es, wesentliche Merkmale des Unterrichts in den Projektklassen zu rekonstruieren und deren Entwicklung über die Dauer des Projekts nachzuzeichnen. Dadurch ergibt sich ein Blick in das jeweilige Klassenzimmer und damit ein Bild des jeweiligen Unterrichts. Dies ist die Grundlage dafür, die in den dann folgenden Kapiteln rekonstruierten Wirkungen dieses Unterrichts auf die Schüler*innen (Kap. 4) sowie dessen Professionalisierungseffekte bzw. -voraussetzungen seitens der Lehrer*innen (Kap. 5) mit dem Geschehen im Klassenzimmer in Verbindung zu bringen.

Das Ziel dieses Kapitels ist es daher, die Struktur des Unterrichts sowohl in Hinblick auf die Konstitution seiner Fachlichkeit, als auch in Bezug auf KL und weitere relevante Merkmale, wie z. B. die etablierten Machtkonstellationen, zu rekonstruieren. Dazu gehen wir in folgenden Schritten vor. Im ersten Teil des Kapitels wird der unterrichtstheoretische und methodologische Rahmen entfaltet, in dem sich die Studie nachfolgend bewegt. Dabei werden zuerst die zentralen Begriffe geklärt (Kap. 3.1) und anschließend in zwei Fallstudien die longitudinalen Entwicklungen der Unterrichtsstruktur in den beteiligten Klassen rekonstruiert (Kap. 3.2 und Kap. 3.3). Abschließend werden diese im Fallvergleich unter Verwendung des eingangs erarbeiteten theoretischen Rahmens unterrichtstheoretisch gedeutet (Kap. 3.4).

3.1 Theorierahmen: Unterrichtsforschung1

Einen begrifflichen Rahmen für eine Unterrichtsstudie zu konstruieren, ist kein einfaches Unterfangen. So konstatiert Matthias Proske in seinem Sammelband zu Ansätzen der Unterrichtstheorie mit Verweis auf Shulman: „Die Abwesenheit von wissenschaftlichen Theorien über Unterricht […] ist kein Phänomen der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft (Shulman 1986), sie kennzeichnet die empirische Unterrichtsforschung insgesamt“ (Proske 2011, 9). Das gilt auch für die allgemeine Didaktik, die sich zwar als Wissenschaft vom Unterricht versteht, aber keinen gemeinsamen Unterrichtsbegriff hervorgebracht hat (Scholl 2011, 37). Dieses Kapitel hat daher weder eine erschöpfende Abhandlung des Unterrichtsbegriffs noch dessen Festlegung in einer endgültigen Definition zum Ziel. Es geht vielmehr darum, Unterricht von anderen Interaktionsformen abzugrenzen, seine Kernprobleme herauszuarbeiten und einen theoretischen Rahmen zu konstruieren, in dem diese Probleme in Bezug auf den Gegenstand dieser Studie (Kooperatives Lernen im Englischunterricht) theoretisch beschreibbar und empirisch erforschbar werden.

Prinzipiell kann eine Unterrichtsstudie aus zwei Forschungslogiken wählen (vgl. dazu grundlegend z. B. Bohnsack 2014; Kelle 2008). Zum einen ist eine hypothetico-deduktive Vorgehensweise möglich, bei der auf Unterricht mittels vorliegender Modelle zugegriffen wird. Dabei gehen die Forscher*innen davon aus, dass sie die für Unterricht relevanten Merkmale bereits weitestgehend kennen und messen können. Am weitesten verbreitet ist in dieser Form einer in der Regel quantitativ orientierten Lehr-Lernforschung das Angebots-Nutzungs-Modell nach Helmke (2003). Es geht auf ein gleichnamiges Modell von Fend (1980) zurück, in dem eine Angebotsseite (Lehrperson, Räume, Artefakte) und eine Nutzungsseite (Schüler*innen und ihre Handlungen) voneinander unterschieden werden. Beide sind Teil eines Wirkungsgefüges, in dem die Effekte von Unterricht auf Faktoren wie persönliche Eigenschaften der Lehrperson (z. B. Professionswissen), Prozessvariablen (z. B. Qualität des Lehr-Lern-Materials), Aktivitäten der Lernenden und Lehrenden (z. B. Aktive Lernzeit) und Eigenschaften der Lernenden (z. B. Vorkenntnisse) zurückgeführt werden. Diese unterschiedlichen Einflüsse werden durch Tests bzw. Ratings von Videographien in unterschiedlichen Inferenzgraden gemessen und die Faktorenkomplexion durch entsprechende statistische Verfahren (z. B. multivariate Regressionsanalysen) berücksichtigt, so dass die Effekte einzelner Größen bestimmt werden können. Als davon unterschiedliche Vorgehensweise mit anderer Schwerpunktsetzung wendet sich die rekonstruktive Unterrichtsforschung (vgl. Proske/Rabenstein 2018) ihrem Gegenstand als etwas potenziell Fremdem zu, geht also nicht davon aus, alle relevanten Merkmale bereits zu kennen. Um dessen Strukturmerkmale und Eigengesetzlichkeiten zu ergründen und herauszufinden, was in Bezug auf den Gegenstand relevant ist, wird zunächst versucht, das soziale Geschehen in Form von dichten Beschreibungen, Videographien oder deren Transkripten möglichst komplex abzubilden. Dadurch soll gewährleistet werden, dass der Gegenstand nicht bereits vor dessen interpretativer Analyse auf die Relevanzsetzungen der Forschenden zugerichtet wird, sondern an ihm auch potenziell andere Relevanzsetzungen – insbesondere solche der beforschten Akteure – rekonstruiert werden können.

3.1.1 Unterricht: Sozialität und Pädagogizität

In der erziehungswissenschaftlichen Diskussion ist Unterricht unter anderem durch zwei theoretische Zugriffe bestimmt (vgl. Proske 2011, 14f.). Aus sozialwissenschaftlicher und linguistisch informierter Perspektive wird Unterricht als soziale Interaktion, aus der komplementären erziehungswissenschaftlichen Perspektive als pädagogisches Geschehen verstanden. Man geht davon aus, dass Unterricht dann ausreichend bestimmt ist, wenn in einem gegebenen Modell seine Sozialität und seine Pädagogizität sowie deren Wechselwirkungen theoretisch und empirisch erfasst werden können.

In bestehenden Ansätzen zur Unterrichtsforschung kommen diese beiden Perspektiven in unterschiedlicher Gewichtung vor. Am sozialwissenschaftlichen Ende der Skala steht der ethnographische Ansatz (z. B. Breidenstein 2006), der die Betonung des Sozialen soweit zuspitzt, dass die Frage des Lehrens und Lernens in den Hintergrund tritt. Dabei kommt zum Vorschein, dass ein soziales Geschehen für Außenstehende schon dann eindeutig als Unterricht erkennbar ist, wenn auf der Oberfläche Geschäftigkeit sichtbar wird, ohne dass bereits deutlich würde, ob zugleich Lernen oder gar Bildung stattfinden. Weiter zum Pädagogischen hin sind Ansätze zu verorten, die mit der Sprachspiel- bzw. Systemtheorie arbeiten (z. B. Lüders 2011; Meseth/Proske/Radtke 2011). Auch hier wird gefragt, ob es für die Interaktionsform Unterricht typische interaktionale bzw. kommunikative Muster gibt. Der Aspekt des Lehrens und Lernens wird allerdings stärker fokussiert. Im Kern steht dann folgende Frage:

Mit Pädagogizität soll eine besondere Qualität der Sozialität bezeichnet werden, die auf die Ermöglichung und Bestimmung von Lernen eingerichtet ist. Unter dieser gegenstandstheoretischen Prämisse wäre erziehungswissenschaftlich zu fragen, wie im Unterricht unter der Bedingung fehlender Kausalität Lehren und Lernen wirkungsvoll synchronisiert werden (Meseth et al. 2011, 224).

Die auf der pädagogischen Seite der Skala verorteten Ansätze versuchen Unterricht mittels erziehungswissenschaftlicher Begriffe zu bestimmen. So versteht der strukturalistische Ansatz (z. B. Gruschka 2013) Unterricht ebenfalls als ein soziales Geschehen, interessiert sich aber besonders für den pädagogischen Gehalt seiner Prozesse. Diesen pädagogischen Gehalt versteht er nicht global als Lernen, sondern differenziert mit der Begriffstrias aus Erziehung, Didaktik und Bildung drei Formen unterrichtlichen Geschehens aus, die als die Vermittlung zwischen Lernenden und Sache (Didaktik), als die Herbeiführung und Aufrechterhaltung der zu dieser Vermittlung notwendigen Kooperationsbereitschaft der Schüler*innen (Erziehung) und als das Aufscheinen von Sinnüberschuss (Bildung) bestimmt werden können.

Was lässt sich daraus über die Pädagogizität des Unterrichts ableiten? Diese Begriffsbestimmung von Gruschka verweist sowohl auf ein geplantes bzw. auf Erreichen bestimmter Ziele gerichtetes Lehrerhandeln (Gruschka nennt dies Didaktik und Erziehung) als auch auf ein selbstläufig sich ereignendes Geschehen, das über die in die Situation getragenen Absichten der Akteure hinausführt (Gruschka nennt dies Bildung). Die Pädagogizität des Unterrichts scheint sich damit in einem für Unterricht konstitutiven Spannungsverhältnis zwischen bewusst-absichtsvollem oder auch unbewusst-routiniertem Handeln einerseits und spontanem Geschehen andererseits, kurz: zwischen Bekanntem und Neuem zu bewegen. Auf den Aspekt der Intentionalität verweisen historisch wechselnde Normen, die explizit in Plänen veröffentlicht werden. Reflektiert man diese expliziten Ziele und betrachtet Unterricht als in die Institution Schule eingelassene Interaktionsform, gelangt man zu einer Bestimmung der Pädagogizität aus einer sozialwissenschaftlich informierten Makroperspektive. Unterricht von der gesellschaftlichen Funktion der Schule her zu bestimmen führt dazu, die Schule als Sozialisationsinstanz aufzufassen, der zugleich eine konservative und eine innovative Funktion zukommt:

Resümierend ergibt sich, dass aus gesamtgesellschaftlicher Sicht das Bildungswesen vor allem die Funktion der Reproduktion und Innovation von Strukturen von Gesellschaft und Kultur beim biologischen Austausch der Mitglieder einer Gesellschaft erfüllt. Jede neue Generation wird über das Bildungswesen an den Stand der Fähigkeiten, des Wissens und der Werte herangeführt, der für das Fortbestehen der Gesellschaft erforderlich ist. In sich rasch wandelnden Gesellschaften wird das Bildungswesen gleichzeitig zu einem Instrument des sozialen Wandels, wenn es darauf ausgerichtet wird, neue Qualifikationen zu vermitteln, um zukünftige Aufgaben bewältigen zu können (Fend 2006, 49).

 

Diese doppelte gesellschaftliche Funktion schlägt auch auf die Akteure durch. Aus mikroskopischer Perspektive lässt sich Unterricht dann als intergenerationelle Kommunikation rahmen, in der die Generation der Erwachsenen mit der nachwachsenden Generation in Interaktion tritt. Der nachwachsenden Generation stellt sich dabei eine komplexe Aufgabe, nämlich

in Auseinandersetzung mit einer überlieferten Kultur und mit der bestehenden Gesellschaft eine eigene Lebensform und dabei ein individuelles Selbstverhältnis zu finden. Eine Kultur wird nicht durch die Reproduktion von Genen weitergegeben. Sie überlebt nur, wenn Menschen sich je neu eine Vorstellung von der Lebensform machen, die ihnen aus der Geschichte angeboten wird, und wenn sie diese Lebensform daraufhin überprüfen, ob sie sich darin überhaupt verstehen können und ob ihnen in ihr ein gemeinsames Leben auf Zukunft hin möglich erscheint (Peukert 1998, 17).

Damit wird der Unterricht zu einem Ort, an dem die miteinander interagierenden Individuen in einem Spannungsverhältnis zwischen zwei entgegengesetzten Ansprüchen stehen: auf der einen Seite der Anspruch der einzelnen Individuen der nachwachsenden Generation, ihre je eigenen Entwicklungsbedürfnisse durchzusetzen, auf der anderen Seite der durch Lehrer*innen vermittelte Anspruch der erwachsenen Generation, erprobte und für wichtig erachtete kulturelle Wissensbestände weiterzugeben. Dieses Spannungsverhältnis findet sich in verschiedenen Unterrichtstheorien in unterschiedlicher Form. Es kann als dialektisches Verhältnis verstanden werden, so wie in Klingbergs Figur von „Führung und Selbsttätigkeit“ (Klingberg 1987). Es kann als Dualität aufgefasst werden wie im Verständnis der Bildungsgangforschung, die Unterricht als Ort der Vermittlung zwischen subjektiven Entwicklungsbedürfnissen und objektiven gesellschaftlichen Anforderungen versteht und diese Vermittlung mit den Konzepten der Entwicklungsaufgabe bzw. der Sinnkonstruktion konzeptualisiert (vgl. Meyer 2006; Trautmann 2004; Hericks/Spörlein 2001; Hericks 2004). Schließlich taucht dieses Spannungsverhältnis auch – im Anschluss an die Kantsche Frage der Kultivierung der Freiheit bei dem Zwange – als Autonomie-Antinomie (Helsper 1996) auf und weist das beschriebene Spannungsverhältnis als für Schule konstitutiv und unhintergehbar aus. In letzter Zeit geraten zudem zunehmend Fragen der Fachlichkeit von Unterricht in den Horizont schulpädagogischer Forschung; sie belegen, dass die hier diskutierten Spannungsverhältnisse auch in der Sachantinomie bedeutungsvoll sind (Helsper 2016; Bonnet 2019).

Folgt man der Bildungstheorie Peukerts, so haben sich die Pole dieser dialektischen, dualen bzw. antinomischen Struktur in der Postmoderne verändert. Durch zunehmend weniger zu kontrollierende Technologiefolgen und Raubbau an den globalen Ressourcen in der „Risikogesellschaft“ (Beck 2015 [1986]), die Relativierung universaler Normen durch das „Ende“ der traditionellen „großen Erzählungen“ (Lyotard 1994 [1979]) sowie die Flexibilisierung und Pluralisierung von Lebenspraxen im Zuge globaler Migration mache die nachwachsende Generation verstärkt Fremdheitserfahrungen mit den an sie herangetragenen kulturellen Deutungsmustern und Sinnangeboten. Sie sei „angesichts radikaler Widerspruchs- und Kontingenzerfahrungen“ (Peukert 1998, 22) zu besonderen Vermittlungsleistungen herausgefordert.

Betrachtet man diese Situation nicht aus der Perspektive der Schüler*innen, sondern aus der Perspektive der erwachsenen Generation, so erwächst daraus auch ein Problem für Unterricht. Eine zentrale Problematik ist sein Technologiedefizit, also das ungewisse Verhältnis von Lehren und Lernen. Im Sinne des erweiterten Didaktikbegriffs nach Klafki könnte man es auch als methodisches Kontingenzproblem bezeichnen. Im Lichte der oben referierten Gegenwartsanalyse lässt sich aber ein zweites Kontingenzproblem beschreiben. Es ergibt sich daraus, dass unterrichtliche Ziele und (Fach-)Inhalte in der reflexiven Moderne verstärkt zur Disposition stehen; man könnte hier von einem didaktischen Kontingenzproblem sprechen. Damit ist gemeint, dass Lehrer*innen zunehmend mit dem Problem konfrontiert sind, die Auswahl unterrichtlicher Inhalte begründen bzw. rechtfertigen zu müssen – dies gilt auch und gerade für scheinbar kanonisierte Inhalte. Damit lässt sich feststellen, dass Unterricht angesichts seiner doppelten Kontingenzproblematik nicht nur für die Lernenden, sondern auch für die Lehrenden eine stetige Herausforderung darstellt und auf beiden Seiten mit Erfahrungen der Ungewissheit und Fremdheit verbunden ist. Wer die damit verbundenen Konflikte durch disziplinierende Machtausübung über Noten oder Techniken des classroom management zu überspielen versucht, läuft Gefahr, die innovative Funktion von Schule zu verfehlen. Um diese Funktion zu erhalten und in ihrer – angesichts immer kürzer werdender Innovationsintervalle in Technik und Gesellschaft – gestiegenen Bedeutung zu intensivieren, bedarf es einer intergenerationellen Kommunikation, die, mit Peukert gesprochen, „auf der Basis einer elementaren Solidarität Spielräume für die Selbsterprobung in alternativen Weisen des Umgangs mit Realität freigeben oder paradigmatisch vorführen“ (Peukert 1998, 25; Herv. i. Orig.).

Wie an anderer Stelle (Hericks 2007, 2008; Bonnet/Breidbach 2007) dargelegt, stellt die pädagogische Kommunikation über die Sache – sprich: der Fachunterricht – selbst den strukturellen Ort einer solchen Solidarität in der Schule dar. Der Ansatzpunkt hierfür ist die Experten-Laien-Differenz, aus der ein spezifisches Anerkennungsverhältnis zwischen Lehrperson und Schüler*innen erwächst. Indem das in der Experten-Laien-Differenz enthaltene Kommunikations- und Kooperationsproblem explizit zum Gegenstand der Unterrichtskommunikation wird, erfahren die Schüler*innen zugleich Anerkennung als diejenigen, die sich der Auseinandersetzung mit einer für sie zunächst unbekannten Sache und den mit dieser Auseinandersetzung verbundenen Fremdheitszumutungen stellen und dabei eigene, teils originelle und überraschende Fragen und Anschlüsse zu dieser Kommunikation beisteuern können. In einer auf Partizipation angelegten Fachvermittlung ist somit die Anerkennung der Lernenden als grundsätzlich partizipationsfähige Andere immer schon enthalten. Auf diese Weise kann die von Peukert beschriebene elementare Solidariät des intergenerationellen Verhältnisses in eine praktische Solidarität zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen überführt werden. Dies betrifft nicht nur die inhaltlich-curricularen Aspekte des Unterrichts, sondern darüber hinaus auch den interaktionalen und organisational-institutionalen Rahmen der Inszenierungsformen und Notengebung. Wir werden auf diesen Aspekt am Schluss unserer Untersuchung umfassend zurückkommen (Kap. 6 und Kap. 7).

Nachdem die Pädagogizität des Unterrichts als Gleichzeitigkeit oder Dialektik konservativer und innovativer Absichten sowie eines gelenkten und selbstläufigen Geschehens bestimmt wurde, stellt sich die Frage, ob und wenn ja wie sich daraus die spezifische Interaktionsstruktur des Unterrichts bestimmen lässt. Was also macht die Sozialität von Unterricht aus? Auf der Mikroebene finden sich unterschiedliche Ansätze, je nachdem welcher der beiden Pole betont wird. So kann Unterricht von seiner gleichsam konservativen Funktion her bestimmt und dann als Interaktionsform des Zeigens definiert werden (Strobel-Eisele 2011). Diese pädagogische Mikroperspektive geht davon aus, dass die Gestaltung der unterrichtlichen Sache vom Wissensvorsprung des Lehrenden ausgeht. Dies ist aber nicht mit Belehrung gleichzusetzen. Den Lehrenden kommt vielmehr die anspruchsvolle Aufgabe zu, die unterschiedlichen Dimensionen des repräsentativen Zeigens „in eine synchronisierende Handlungsabfolge und damit ‚in Bewegung‘ [zu] bringen“ (ebd., 73), wobei keinesfalls von einer kausalen Folge von Zeigen und Lernen ausgegangen wird (ebd., 74). In dieser Sichtweise werden nur solche Interaktionen als für Unterricht typisch angesehen, die eine immanent zeigende Struktur aufweisen. Andere Sprachspiele wie Forschung oder Beratung werden bewusst nicht als Unterricht aufgefasst (ebd., 75ff.), jedoch sehr wohl als für Schule sinnvoll erachtet. Damit wird die innovative Funktion von Schule auf der Ebene des Unterrichts eingeschränkt, denn diese ist darin immer nur als eine Neuerung denkbar, die die Lehrperson bereits kennt, oder für deren Erschließung sie inhaltlich den Ausgangspunkt vorgegeben hat. Ein Geschehen, in dem für beide Seiten Neues emergiert, ist damit begrifflich vom Unterricht ausgeschlossen.

Derartige Prozesse werden hingegen von solchen Ansätzen erfasst, die neben dem Zeigen und dem dafür konstitutiven Wissensgefälle zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen andere Interaktionsmodi betonen. Dies ist besonders dezidiert bei Dewey der Fall, der, so Meyer (2006, 96), die Schule als „Experiment der Gesellschaft mit der nachwachsenden Generation“ verstehe. Dementsprechend habe die Interaktion zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen in der unmittelbaren Unterrichtsgestaltung weniger direkt zeigenden als vielmehr vermittelnden Charakter. Aufgabe der Lehrer*innen sei es nicht, erklärend oder gar belehrend tätig zu werden, sondern vielmehr einen organisatorischen Rahmen zu schaffen, in dem die Schüler*innen occupations nachgehen, an deren Planung und Ausgestaltung sie in hohem Maße mitwirken. Ein über das Zeigen hinausgehendes Verständnis von Unterricht ist aber auch im strukturtheoretischen Ansatz verwirklicht (Combe 1996). Man kann daher festhalten, dass es als erster Eigenschaft einer für Unterricht besonderen Sozialität bedarf: Einer auf Aneignung bzw. Vermittlung gerichteten, gemeinsam-prozesshaft von Schüler*innen und Lehrer*innen hervorgebrachten, „den Gegenstand konstituierenden Interaktionsbedeutung“ (ebd., 277). Dieses Geschehen steht im Spannungsfeld objektiver gesellschaftlicher und individueller Deutungen.

Kaum formuliert, muss man diese Festschreibung allerdings bereits relativieren. Für die Sozialität von Unterricht scheint nämlich paradoxerweise konstitutiv zu sein, dass sich die aus seiner Pädagogizität ableitende Absicht der Bezugnahme auf eine Sache gar nicht erfüllen muss. Der Begiff der „Routine“, dem im strukturtheoretischen Modell der Begriff der „Krise“ dialektisch gegenübergestellt wird (Oevermann 1991)1, verweist auf habitualisierte und sich wiederholende Interaktionsmuster, wie sie die Diskursanalyse mit dem IRE-Schema gefunden hat (Meseth et al. 2011). Es ist das Verdienst der ethnographischen Unterrichtsforschung (Breidenstein 2006), gezeigt zu haben, wie inhaltliches Lernen bzw. Bildung aus dem Blick geraten, wenn Lehrpersonen und Schüler*innen in erster Linie Geschäftigkeit inszenieren. Die praxistheoretische Forschung hat diesem „Schülerjob“ eine weitere Facette hinzugefügt, indem sie zeigt, wie auch die Inszenierung von Reflexivität und individueller Sinnkonstruktion an die Stelle inhaltlicher Arbeit treten können (Rabenstein 2009). Aus dieser Perspektive scheint es so, als ereigne sich unterrichtliche Interaktion nur mehr ritualisiert in normalisierten Zugfolgemustern. Die äußere Form dieser Muster verweist noch auf die Pädagogizität des Unterrichts, in der Erstarrung der Form ist deren Funktion aber bereits verloren gegangen.

Warum wird diese Praxis aber aufrecht erhalten, wenn Bildung gar nicht mehr stattfindet und ihre Abwesenheit von allen Beteiligten stillschweigend akzeptiert zu werden scheint? Im strukturtheoretischen Modell taucht diese Funktion von Unterricht auf, wird aber mit dem Begriff der Erziehung in den Dienst der Vermittlungsabsicht (Didaktik und Bildung) gestellt. Betont man hingegen stärker die institutionelle und organisationale Verortung von Unterricht, dann wird deutlich, dass die Sozialität von Unterricht nur hinreichend erfasst werden kann, wenn auch die Frage der Macht thematisiert wird.

Man muss wohl auch einer Denktradition entsagen, die von der Vorstellung geleitet ist, daß es Wissen nur dort geben kann, wo die Machtverhältnisse suspendiert sind, daß das Wissen sich nur außerhalb der Befehle, Anforderungen, Interessen der Macht entfalten kann. […] Eher ist wohl anzunehmen, dass die Macht Wissen hervorbringt (und nicht bloß fördert, anwendet, ausnutzt); daß Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; daß es keine Machtbeziehung gibt, ohne dass sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert (Foucault 1994 [1976], 39).

Die Analyse dieser Machtbeziehungen aus historischer Perspektive vermag das scheinbare Paradoxon eines Unterrichts, der ohne Sachbezug und Bildungswirkung auskommt, zu erklären. In dieser Perspektive zeigt sich Unterricht als institutionell-organisational gerahmter Ausübungsort staatlicher Herrschaft, dessen Verwahrcharakter – z. B. zur Vermeidung von Delinquenz oder umstürzlerischen Umtrieben – nicht Unfall, sondern genuiner Zweck dieser „lernbezogenen Menschenhaltung“ (Caruso 2011) ist: „Im Unterricht werden heranwachsende Menschen auch gehalten, damit sie nicht nur in den Genuss kognitiv wertvoller Interaktionen kommen, sondern auch, damit sie bestimmte andere mögliche Interaktionen vermeiden“ (ebd., 25). Hier wird nicht nur Bildung, sondern sogar Lernen als für Unterricht konstitutiv in Frage gestellt.

 

Folgt man der Analyse Foucaults, der den Prozess der politischen Modernisierung als Entwicklung einer neuen Kontrolltechnik – als Übergang von äußerer Strafe zu innerer Disziplinierung – konzeptualisiert, dann ist Unterricht nicht nur Verwahrung, sondern sogar die pädagogische Einflussnahme selbst steht im Zeichen der Machtausübung. Mit dem Konzept der Gouvernementalität wird sowohl theoretisch beschreibbar als auch empirisch rekonstruierbar, wie Erziehung und Lernen als Ausübung von Herrschaft im Sinne der Weitergabe von Handlungsimperativen, deren Verinnerlichung bei den Lernsubjekten zur „Selbst-Beherrschung“ führt, interpretiert werden kann.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Foucault (2004) mit der Einführung seines Konzepts der Gouvernementalität darauf abzielt, Machtbeziehungen unter dem Blick von Führung untersuchen zu können, um damit die Frage, wie andere zu regieren sind, also nach den Techniken der Fremdführung, mit der Frage wie man sich selbst regiert, also nach den Formen der Selbstführung, zu verknüpfen (Rabenstein 2007, 42).

Mikroskopisch gewendet kommt dann mit Hilfe der Diskursanalyse in den Blick, welche Machtstrukturen in einem gegebenen Unterricht aktualisiert werden und wie in der unterrichtlichen Interaktion Handlungsimperative erworben oder auch Herrschaftsansprüche zurückgewiesen werden. Diese historische Entwicklung ist auch beim Übergang von frontalen zu individualisierten bzw. kooperativen Unterrichtsformen zu beobachten. So verweisen die Analysen von Rabenstein (ebd.) darauf, dass gerade diese neuen Unterrichtsformen mit ihren hohen Ansprüchen an Autonomie und Reflexivität die Schüler*innen zu sehr komplexen Selbst-Inszenierungen nötigen, für die jeweils geklärt werden muss, ob die Übernahme dieser Rituale durch die Schüler*innen Akte der Selbst-Unterwerfung oder der ironisierenden Distanznahme darstellen.

Diese machttheoretische Betrachtung könnte den Eindruck erwecken, dass sich der Unterrichtsbegriff mit der Thematisierung der Sozialität maximal von der Pädagogizität entfernt hat. Bei näherer Betrachtung erscheint es allerdings eher so, als schließe sich damit der Kreis. Schon im strukturtheoretischen Modell wird Erziehung als hierarchischem Steuerungsprozess die Funktion zugeschrieben, die interaktionalen Voraussetzungen für die Umsetzung didaktischer Absichten zu schaffen. Bezieht man aktuelle Subjekttheorien ein, löst sich der konstruierte Gegensatz von Pädagogizität und Sozialität auch hinsichtlich der innovativen Seite, d.h. in Bezug auf emergente Bildungsprozesse auf. Das Konzept der subjection (Butler 2001, 2006) beschreibt, dass Individuen eine Handlungsmacht generierende Ich-Position nur einnehmen können, indem sie sich herrschenden Strukturen unterwerfen – diese dann aber durch Prozesse der Resignifikation, also der sprachlichen Umdeutung, in der Interaktion verändern. Im Lichte dieses Ansatzes erhielten auch die von Rabenstein (2009) geschilderten Inszenierungen von Reflexivität und persönlicher Sinnkonstruktion der Schüler*innen in individualisierten bzw. kooperativen Settings noch eine etwas andere Deutung. Sie erscheinen dann nicht mehr (nur) als subversive Akte, in denen Individuen trotz der an sie herangetragenen Herrschaftsansprüche agency entfalten, sondern (auch) als interaktionale Akte, in denen Individuen eine Subjektposition nur deshalb einnehmen können, weil sie sich zuvor einer herrschenden Form unterworfen haben. Es wäre, so gesehen, gerade der Interaktionsrahmen der neuen Unterrichtsformen, der es den Schüler*innen ermöglicht, in der Inszenierung von Reflexivität und Sinnkonstruktion aus diesem Rahmen herauszutreten, sich in Opposition zu ihm zu positionieren und dessen in leerer Form erstarrte Inhaltslosigkeit bloßzustellen. Dabei entstünde ein neues Paradoxon mit einem gehörigen Schuss Ironie: Die neuen Unterrichtsformen ermöglichen den von ihnen programmatisch vertretenen Autonomiegewinn nicht dadurch, dass man ihren Prozeduren folgt, sondern vielmehr in dem Maße, in dem man sich zu ihnen in Opposition setzt. Letzeres wiederum scheint durch ihre Offenheit erleichtert zu werden.

Als zweite Eigenschaft einer für Unterricht charakteristischen Sozialität kann man damit die interaktive Herstellung von Machtverhältnissen in Lerngruppen betrachten, in denen sich Lehrer*innen und Schüler*innen zueinander positionieren. Diese Machtverhältnisse stehen in einer gegenseitigen Beziehung der Dualität von Struktur zu den sie umgebenden organisationalen (Schule) und institutionalen (Bildungssystem) Machtverhältnissen. Einerseits werden die Machtverhältnisse in der Einzelklasse durch den sie umgebenden organisational-institutionalen Kontext maßgeblich bestimmt, andererseits können Verschiebungen der Hierarchien einer Einzelklasse im Sinne der Butlerschen Resignifikation potenziell Veränderungen auf der organisational-institutionalen Ebene bewirken.