Feindin der Wikinger. Die Jelling-Dynastie. Band 1

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Thyra schluckte. Damit war das Schicksal der Dorflinde besiegelt. Die Schutzherrin des Ortes war tot. Beugte sich dem Kampf der Gewalten.

»Es ist Bestimmung«, flüsterte eine Frau. »Nun werden auch wir alle sterben.«

Thyra betrachtete die blassen Gesichter der Kinder in ihren Armen und lächelte.

»Oh, nein. Wir überleben.«

Die Kinder durften die Angst nicht spüren und sie fing an, zuerst leise und stockend, dann immer lauter und kräftiger, ein Lied zu singen. Ein fröhliches Kinderlied!

Mit heller, klarer Stimme sang sie, so laut sie konnte. Die Mutter der Kinder horchte erstaunt auf und blickte Thyra fragend an. Ein zartes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie begriff.

Der Regen prasselte herunter. Hagel peitschte die Erde und die Körper. Doch die Frauen lächelten und sangen so laut, wie ihre Lungen es vermochten.

Der Kammmacher blickte erstaunt auf und fragte sich, was die dummen Weiber dazu antrieb, bei diesem heftigen Unwetter Lieder zu singen. Dann erkannte auch er die angstbesetzten Augen. Lächelte, als er das Staunen und das Weichen des Grauens in den arglosen Kinderaugen erkannte.

Sein Körper zitterte unkontrolliert. Doch auch er stimmte mit ein und fing aus ganzer Kehle zu singen an. Sein kräftiger Bariton ließ die Frauen aufhorchen. Thyra sah aus dem Augenwinkel den singenden Kammmacher und ein heftiger Freudenstoß ließ sie laut auflachen.

Das Unwetter tobte, als ob es keinen Morgen mehr geben sollte! Doch die Gefangenen sangen. Die Kinderaugen strahlten und schweißten die Erwachsenen gegen die Unbilden der Natur zusammen.

Eine Wikingerfrau hörte die Stimmen. Sie sah aus dem Fenster aus einem der Häuser. Durch den fast undurchdringlichen Regen und den weißen Hagelschauer beobachtete sie die Gefangenen, vernahm deren Gesang! Erstaunt riss sie ihre Augen auf, lief vom Fenster fort, um einen Nordmann zu holen. Fest packte sie seine Hand und zog ihn zum Fenster.

»Hörst du, wie sie singen?«

Still standen beide am Fenster. Der Regen prasselte platschend in die Pfützen und ließ das Wasser auf der Oberfläche tanzen. Es hagelte nicht mehr! Die Eiskörner lagen jetzt wie ein weißer Teppich auf der Erde und kühlten die Temperatur der Luft auf fünf Grad herunter. Sie standen lauschend im Haus und endlich hörte auch der Mann die singenden Stimmen der Angelsachsen. Er schüttelte seinen Kopf und sah seine Frau staunend an.

»Ein merkwürdiges Volk, diese Angelsachsen«, murmelte er und ging ans wärmende Feuer zurück.

Das Unwetter, welches den Himmel gelbgrün gefärbt hatte, war vorüber.

Die Götter zürnten wütend.

Das glaubte jetzt endlich auch Thyra.

Kein Windhauch strich über die dampfende Ebene.

Zitternd stellte sie sich auf und entließ die beiden Kinder, die sich sofort an den üppigen Busen der Mutter drückten. Ruhig blickte Thyra auf die Gefangenen.

Dort lagen die Dorfbewohner im Schlamm, manche zusammengekauert, andere zitternd und fröstelnd zu Menschenbündeln aneinandergeschmiegt. Thyra starrte auf den verwundeten Bauern. Sie erkannte sein blasses lebloses Gesicht, die Augen starr, ohne Glanz. Erschrocken wanderten ihre Augen weiter zum Fassmacher! Sie suchte eine Weile. Dann fand sie ihn und blickte in die trauernden Augen seiner Ehefrau. Sie hatte den Kopf ihres Mannes auf ihren Schoß gebettet. Streichelte wie in Trance sein nasses Haar. In der tiefen Bauchwunde des Fassmachers schwammen weiße, schmelzende Eiskörner im noch warmen, roten Blut.

Er war nicht der einzige Tote. Die Kampfverletzungen während des Überfalles zollten letzten Endes ihren Tribut.

Thyra drehte ihren Kopf weg. Sie ertrug das Leid in den Augen der Überlebenden nicht.

Sie wollte es nicht spüren, nicht weinen, nicht trauern.

»Das vergiftet meine Gedanken. Das kann ich jetzt nicht gebrauchen. Wir müssen hier raus! Sonst sterben wir alle!« Hasserfüllt umkrallte Thyra die Gitterstäbe und brüllte: »Ich will euren Häuptling sprechen!« Ihr Atem entwich dampfend. »Hört ihr! Ich will mit eurem Häuptling sprechen!«

Ein Nordmann ging am Gefangenenkäfig vorbei, ohne sie zu beachten.

Thyras Gesicht verfärbte sich hochrot vor Zorn. Sie bückte sich und kratzte mit den Fingernägeln einen kantigen Stein aus der feuchten, festgetretenen Erde.

»Nun mach schon!«, weinte sie vor Wut. Der Stein schien mit der Erde verwachsen. Unnachgiebig drückte Thyra ihre Fingernägel in die klebrig, nasskalte Erde und kratzte den lehmigen Sand um den Stein fort.

»Bitte!« Ihre Unterlippe zitterte. »Bitte«, flehte sie und Tränen rannen von ihr unbemerkt über die Wangen. Der braune Lehm quetschte sich schmerzend unter ihre Nägel. Unbarmherzig scharrte Thyra. Plötzlich hielt sie den Stein in der Hand. Blut rann über den kantigen grünblau schimmernden Flintstein. Ihr Blut!

Thyra sah es und betete. »Das ist mein Geschenk!« Sie fixierte den Stein. »Hilf mir!«

Unbewusst prüfte sie sein Gewicht, hob den rechten Arm und zielte mit einem kräftigen Schwung auf den Wikinger. In einem schwachen Bogen flog er auf den Nordmann zu. Der Stein war schnell! Doch ihr kam es wie eine kleine Ewigkeit vor.

Er klatschte mit einer spitzen Kante gegen seine Schulter.

»Au!«, rief der Nordmann erschrocken und griff mit der Hand an die Stelle, die jetzt blutete. Erstaunt sah er aufs Blut und dann in das blasse Gesicht dieser Frau. Eindringlich starrte sie ihn durch die Gitterstäbe an! Unbewusst drehte er sich um, schaute nach, ob hinter ihm noch jemand stand.

»Meint sie wirklich mich?« Doch er sah weder neben noch hinter sich eine andere Person. Bedächtig drehte er sein Gesicht zu der Gefangenen, die mit beiden Händen die Stäbe umkrallte und ihn fordernd anstarrte.

»Ich will euren Häuptling sprechen!« Thyra giftete den Mann an, der sie endlich beachtete.

»Þá tekr þú dirfð á þik!«,52 fauchte er wütend und stampfte zu der Gefangenen. Unwillkürlich wich Thyra zurück und ließ den Griff der Hand des Mannes, die sie durch die Holzstäbe packen wollte, ins Leere gehen.

Plötzlich war sie nicht mehr ganz so mutig, als sie ins zornige Gesicht des Nordmannes blickte, sagte aber mit fester Stimme: »Ich will euren Häuptling sprechen!«

»Óskaplig kona! Hvernig kemr þér í hug at kasta stein í mik?«,53 fauchte Geiri.

Thyra musterte sein junges Gesicht. Blonder Bartflaum bedeckte dürftig sein Kinn.

»Ein Jüngling. Auch das noch! Wie soll so ein Bengel mir den Häuptling herbringen?« Seufzend trat sie einen Schritt auf den Burschen zu und befahl mit befehlsgewohnter Stimme: »Ich will deinen Häuptling sprechen. Hole ihn!«

Geiri wich erschrocken einen Schritt vor der schönen Gefangenen zurück und blickte sich unsicher um. ›Hoffentlich hat das keiner gesehen!‹ Aber das Seefahrervolk schlief noch.

»Hvat vilt þú?«,54 fragte er vorsichtig, denn sie musste etwas Besonderes sein. Eine gewöhnliche Frau hätte es niemals gewagt, so mit einem Krieger aus dem Norden zu sprechen.

›Endlich‹, erkannte Thyra. ›Er begreift.‹

»Ich will euren Häuptling! Euren Anführer! Euren obersten Krieger sprechen!«

Geiri musterte mit zusammengekniffenen Augen das Weib und die anderen Gefangenen. Sie war nicht verletzt. Das stellte er schnell fest. Nicht krank oder gebrechlich! Sie wollte etwas anderes!

Thyra legte lächelnd den Kopf schief. »Du willst verstehen.«

Sie hob ihre Arme und zeigte eine große Person, formte die Hände zur Krone, griff an ein imaginäres Schwert und deutete einen Kampf an.

Geiri beobachtete sie genau. Thyra verschränkte ihre Arme vor der Brust und ahmte König Alfred nach, wenn er den Untergebenen Befehle erteilte. Sie imitierte seine Stimme, den herablassenden Blick und den Tonfall, um den Knaben zu verdeutlichen, dass sie einen Häuptling, einen Herrscher suchte.

»Ich will deinen Häuptling sprechen. Hole ihn für mich! Bitte!«

»Held ek at víta, hvat þit viljið.«55 Er grinste lausbübisch. »Ek fæ manninn«,56 und schon rannte er fort.

Hoffnungsvoll sah Thyra ihm nach.

»Bitte! Bitte lass es ihn verstehen.«

Sie sah, wie er im Haus des toten Fassmachers verschwand.

Doch – nichts geschah! Ihre Füße wurden kalt und sie trat auf der Stelle, um das Blut in Wallung zu bringen. Mit heftigen, raumgreifenden Bewegungen schlug sie die Arme um den Oberkörper.

Das Haus ließ sie nicht aus den Augen.

Die Zeit verstrich.

Nichts geschah!

Die Sonne schickte ihre warmen Strahlen endlich zur Erde und die Eiskörner schmolzen auf dem grünen Gras.

»Herrlich.« Thyra genoss die Wärme. Tief atmete sie ein und öffnete wieder ihre Augen.

»Ah!«, fuhr sie erschrocken zusammen und stolperte zurück. Vor ihr stand ein Wikinger!

Der Nordmann!

Der Wikinger vom Lagerfeuer, bei dem ihr Herz aus dem Takt geriet – und neben ihm der strahlende Knabe.

»Er hat es begriffen!«, jubelte Thyra.

»Hvat viljið þit?«,57 fragte Gorm grimmig.

Thyra sah ihn aus ihren strahlend blaugrauen Augen hoffnungsvoll an. Sie legte bewusst ihre ganze Hoffnung und Intensität in diesen einen Blick. Nutzte ihre gesamte Energie, ihr verlockendstes Lächeln, um diesen Mann zu betören, um ihn davon zu überzeugen, ihr zuzuhören!

Thyra sah ihm direkt ins Herz, in seine Seele und brachte sein Gleichgewicht ins Schwanken.

»Fœrþú út hana!«,58 befahl er Geiri, der ihn erstaunt anstarrte, aber nicht wagte, eine Frage zu stellen. Gorm war der Häuptling!

 

Zornig stierte Gorm Thyra an, so dass sie schon an ihrem Entschluss zweifelte. Dann ging er! Ohne ein Wort, ohne sie zu beachten. Einfach so!

Thyra verlor ihr Lächeln und starrte erschüttert auf seinen Rücken.

»Nein!«, schrie sie ihm nach. »Gehe nicht weg! Bitte! Bleib!« Verzweifelt rüttelte sie am Gitter. »Nein!«

Die Dorfbewohner im Käfig atmeten erleichtert aus. Diese dumme Adelsgöre würde sie mit ihren Eskapaden noch alle ins Grab bringen.

»Sie soll endlich still sein und schweigen«, knurrte der Schmied.

»Sie bringt uns noch allen den Tod«, schrie eine zahnlose Bäuerin und schüttelte sich voller Abscheu.

Thyra ignorierte das Geflüster hinter ihrem Rücken.

»Du verdammter Hundesohn! Du elender Schweinekopf! Gebraten sollst du werden!« Zornesbebend brüllte sie dem Häuptling hinterher. Weiß traten die Knöchel ihrer Hände hervor, so fest rüttelte sie an den Stäben.

Die Frau des Kammmachers sah Thyra erstaunt an und raunte grimmig: »So eine bist du also! Von wegen vornehm und Adel und so. Du kannst genauso fluchen wie jeder von uns.«

Wütend stierte Thyra die Kammmacherfrau an. Augenblicklich drehte diese ihren Kopf zur Seite und drückte ihren kleinen rundlichen Körper zwischen die anderen.

Heftig hob und senkte sich Thyras Brustkorb, so wütend war sie, und sämtliche Käfigbewohner wichen vor ihr zurück.

Thyra fühlte, wie ihr Arm umklammert wurde, und drehte sich aufgebracht um. »Was?«, fuhr sie die Person an, die erschüttert vor ihr zurückwich. Thyra hörte noch, wie die Umstehenden heftig zischend die Luft einsogen, als sie den Jüngling erkannte. Zornbebend stand sie vor ihm, stemmte die Hände in ihre Hüfte und fauchte Geiri an: »Was willst du?«

»Höfðingi sagði mér, at ek mun taka þik inn í húsinu.«59 Er sah sie schüchtern an und biss sich auf die Lippen.

›Gewiss, ich bin ein Kämpfer, ein Nordmann und ein Wikinger! Aber diese Frau ist eine Herrscherin. Bestimmt!‹, spekulierte er und hoffte inständig, dass keiner aus seinem Seefahrervolk ihn jetzt beobachtete.

Thyra schnaubte verärgert.

»Komþú!«,60 flehte er mit jugendlichem Charme. »Komþú með mér, ek bið þik!«61 Er konnte sie doch nicht schlagen und aus dem Käfig schleifen. Allein der Gedanke ließ ihn zögern. Doch was sollte er seinem Häuptling sagen, wenn sie sich weigerte?

Thyra versuchte, ihren Gesichtsausdruck nicht zu verändern, doch innerlich jubilierte und grinste sie.

›Geschafft! Ich kann mit dem Häuptling reden.‹

Ohne auf den Jüngling zu achten, schritt sie auf die Käfigtür zu und wartete, bis er sie öffnete. Geiri wollte sie erneut packen, doch ein frostiger Blick von ihr auf seine Hand genügte und er entfernte diese zaudernd.

Langsam ging Thyra hinaus und wartete auf den Nordmann. Er sollte ihr den Weg zeigen und deutete diesen mit einem Kopfnicken an. Zitternd atmete Geiri. Was sollte er mit so einem Weib anstellen? Er kannte nur Frauen, die gehorchten, wenn ein Mann ihnen etwas auftrug. Aber diese benahm sich selbst wie ein Häuptling!

»Sie wird uns ins Grab bringen.« Beschwörend sah der Schmied die Dörfler an. »Alle!«

Geiri zögerte kurz. Dann ging er zügig voran. Hörte an ihren schnellen Atemzügen und den eiligen Schritten, die in die Pfützen und auf die nasse Erde platschten, dass sie ihm folgte.

Er achtete nicht auf die anzüglichen Blicke seiner Kameraden, die jetzt am Feuer saßen oder arbeiteten. Sollten alle glauben, dass diese Frau ihm folgte wie ein Hund. Er grinste.

********************

Thyra trat in das Dunkel des Hauses und sah sich suchend um. Ihre Augen schienen blind. Sie zögerte! Wartete auf eine Aufforderung, auf einen Zuruf! Doch nichts!

Sie stand im Lichtschein des Türrahmens und wartete, dass sich ihre Augen an die Dunkelheit im Raum gewöhnten.

Er saß entspannt auf wärmenden graubraunen Wolfsfellen mit dem Rücken gegen die Lehmwand gelehnt und beobachtete sie.

Er atmete leise. Sie sollte ihn nicht hören. Er wollte diesen Augenblick genießen, wie sie im Lichtschein der offenen Tür stand. Stolz zwar, doch auch ängstlich und anmutig. Er musterte ihre Haare, die der Sturm gelöst hatte, und begutachtete genüsslich ihre weiblichen Rundungen.

Lautlos schluckte er. Was für eine Frau! Er sah den wohlgeformten Schwung ihrer Hüfte, welche durch ihre schmale Taille deutlich hervorgehoben wurde. Ihr nasser Rock klebte an den Oberschenkeln und ließ nichts im Verborgenen. Jeden Muskel, die Silhouette ihrer schlanken Beine, die üppige Form der Brust. Alles betrachtete er fasziniert im Dämmerlicht. Er sah, wie sie zitterte und wie sie versuchte, ihn im Raum ausfindig zu machen.

Doch er wollte ihren Körper noch etwas genießen, sehen, wie sie reagierte.

Thyra schlang ihre Arme um den Oberkörper und blickte suchend durchs Dämmerlicht. Schließlich blieb ihr Blick an Gorm haften. Ihre Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit.

Gorm räusperte sich ertappt, hob den Kopf und deutete mit einer einladenden Armbewegung an, dass Thyra sich setzen sollte. Seine Stimme würde ihm noch nicht gehorchen, das ahnte er. Aber er registrierte, dass die Frau seiner Order folgte, und lehnte sich zufrieden zurück.

Thyra sah ihn genau! Dort in der Ecke starrte er sie mit seinen kalten Augen an. Sie erschrak abgrundtief und beherrschte sich trotzdem, blieb bewegungslos stehen. Nur ihren Blick wandte sie jetzt nicht mehr von ihm ab. Starr fixierte sie den Wikinger und erkannte schaudernd, wie er einladend auf den Fellplatz neben sich zeigte.

»Was? Ich soll mich zu dir auf dein Lager setzten?«

Vorsichtig trat sie ans Felllager und setzte sich umständlich ans äußere Ende der Bettstatt, auf die warmen Wolfspelze. Mit zitternden Fingern strich sie ihren Unterrock glatt und blickte bestürzt an sich herab, sog zischend die Luft ein.

»Ach, du meine Güte!«, presste sie entsetzt hervor, als sie den feuchten Stoff an den Beinen kleben sah. »Daran habe ich überhaupt nicht …«

»Hvat vilt þú?«62 Gorm unterbrach ihre Gedanken.

»Ich …«, fing Thyra erschrocken an und drückte den Rücken durch.

»Was habe ich mir nur dabei gedacht? Wie konnte ich nur? Wenn er dich jetzt vergewaltigt! Allein – mit diesem Mann – im Haus.«

Fest ballte sie ihre kalten Hände zu Fäusten. »Lass die Dorfbewohner frei. Sie verhungern und sterben! Sie leiden!«

Herausfordernd fixierte sie Gorm.

Ein Hund bellte auf dem Dorfplatz. Tauben flatterten aufgeregt. Thyra wartete. Suchte in seinem Gesicht nach einem Verstehen, einem Erkennen ihres Anliegens.

»Ek heiti Gormr. Ek em höfðingi víkingana, danskr víkingr, svartr maðr, skipherra þeirra. Hvat heitir þú?«63

›Was will er?‹ Sie musterte den Mann und blickte direkt in diese graublauen Augen. ›Verdammt! Sieh ihn nicht an.‹ Darauf war sie nicht vorbereitet. Auf anderes! Nur nicht darauf, dass ihr Magen flatterte, ihre Knie zitterten und der Verstand sich verabschiedete.

»Ich bitte dich, lass die Dorfbewohner frei. Sie müssen ihre Wunden, ihre Kinder und das Vieh versorgen, die Äcker bestellen. Sie sterben!«, prasselte es aus ihr hinaus, doch sie erntete nur den fragenden Blick ihres Gegenübers.

»Ek heiti Gormr. Hvat heitir þú?« Gorm wiederholte stoisch seine Frage und betrachtete eindringlich seine sinnliche Geisel. Er hatte Schwierigkeiten, seinen Verstand und seinen Körper unter Kontrolle zu halten.

Zu gut roch sie! Zu schön ihr Körper!

Gleichwohl, sie war eine Angeln-Frau! Vielleicht wirklich von Adel? Möglicherweise konnte sie ihm und seinem Volk eine wertvolle Sklavin sein? Aber es war auch denkbar, dass sie das Medaillon gestohlen hatte.

»Síðarr«, versprach er sich. »Síðarr – munt þú vera mín ok mun ek liggja hjá þér!«64

Thyra sah ihn fragend an. Doch Gorm grinste mit der Gewissheit, dass sie ihn nicht verstand.

»Aesa.« Er rief nach einer jungen Wikingerin, die sein Schiff begleitete, um Heilkräuter zu suchen und diese zu verarbeiten und um die Verletzten zu versorgen.

»Aesa«, brüllte er ein zweites Mal und sein kräftiger Bariton schwang im Raum.

»Nimm dieses Weib mit und bring ihr unsere Sprache bei«, knurrte er die junge Wikingerin an, als sie den Raum betrat. »Und das schnell! Wir haben nicht viel Zeit.«

Er ging hinaus und ließ Aesa mit Thyra allein. Wo sollte die Angeln-Frau auch hinlaufen. Überall lagerten seine Ascomanni, seine dänischen Wikinger – die Danskir víkingar.

Sie hatte keine Chance!

Ratlos sah Aesa dem verschwindenden Häuptling hinterher.

»Was soll ich mit dieser Angeln-Frau anfangen?«

Thyra verstand kein Wort.

Unwirsch stampfte die Wikingerin auf Thyra zu, packte eine Hand und besah sich fluchend die zarte Handinnenfläche. Mit den Fingern rieb sie darüber, so dass Thyra nur staunend dastand und sich alles gefallen ließ.

Wütend stieß Aesa die Hand der Angeln-Frau weg.

»Genau das habe ich erwartet! Das ist keine Magd, die die Rinder füttert und melkt. Dieses Gestell kann feine Näharbeiten erledigen. Vielleicht noch leichte Gartenarbeit. Mehr nicht!«

Sie fluchte!

»Das kann ich gerade noch gebrauchen! Kann Gorm nicht einen der vielen Männer mit diesem Weib beschäftigen? Ich habe mehr als genug mit den Verletzten zu tun. Dann die Mahlzeiten kochen und nun auch noch eine Sklavin, die ich unsere Sprache lehren soll!«

Aesa zeterte und tanzte erbost um Thyra herum. Hob ihre Hände in die Höhe und ballte die Fäuste. Stampfte mit den Füßen auf den festgetretenen Lehmboden. Funkelte wütend, so dass Thyra ihr schließlich grinsend mit den Augen folgte, während sie sich um ihre eigene Achse drehte. Aesa erinnerte Thyra an Solvor. Und Solvor hatte sie geliebt.

Plötzlich blieb Aesa stehen und sah die Sklavin erstaunt an. Das Lächeln dieser Frau ließ sie verblüfft innehalten und sie betrachtete Thyra eingehender. Prüfend legte sie den Kopf schief.

»Þú kannt hjálpa mér at samna jurtir ok læra at lækna sárin.«65

Wortlos starrten die Frauen einander an. Musterten sich und fanden sich auf eine eigenartige Weise sympathisch.

»Þá kannt þú koma með mér strax.«66 Aesa packte Thyra und zog sie hinter sich her, raus aus dem Haus.

Völlig überrascht folgte Thyra der Wikingerin. Sie stolperte hinterher und versuchte, Schritt zu halten. Aesa ging in raschem Tempo über den Dorfplatz. An der schwarz verkohlten Dorflinde vorbei. Entlang der Lagerfeuer, ohne auf die Wikinger zu achten, und ließ sämtliche Gefangenenkäfige hinter sich.

»Bald ist es so weit! Bald sind wir alle tot, weil die Königstochter uns verrät!«, hörte Thyra es zischeln. Doch als sie sich umdrehte, standen alle stumm hinter den Gittern.

Aesa plapperte derweil ohne Unterlass.

»Die Pappel heilt Kopfschmerzen. Siehst du die Weide, die Rinde benötigen wir gegen das Fieber. Und schau da.« Aesa bückte sich und pflückte Blätter des blaublühenden Gundermanns. »Der heilt den Bauch, wenn du ohne Pause scheißt und deine Scheiße dünn wie ein Wasserstrahl aus dir raus schießt.« Sie sah Thyra nachdrücklich an. »Hast du verstanden, was ich sage?«

Thyra betrachtete die Wikingerin mit den blauen Blumen in der Hand nur verständnislos. Sie fror, der nasse Unterrock wärmte nicht.

Aesa zuckte mit den Schultern.

»Du verstehst kein Wort.« Sie seufzte erbärmlich. »Das wird ein hartes Stück Arbeit.«

Erneut griff sie Thyras Hand und ging zum Fluss, dort, wo die Schiffe vor Anker lagen. Sie brauchte Freiheit zum Atmen und wollte ihre angestaute Wut auf den Häuptling bezähmen. Dies gelang ihr stets, wenn sie über das Wasser in die Ferne blicken konnte.

Die Heilerin liebte das Rauschen der Meereswellen, den salzigen Geschmack auf der Zunge und die nach Meer, Algen und Fisch duftende Brise, die einem bei Wind ins Gesicht schlug. Sie brauchte die unendliche Weite, wo sie am Horizont die Wellenberge weiß schäumend brechen sah, wo die Sonne verschwand und der Mond sein Unwesen trieb.

Hier gab es kein Meer – aber einen Fluss.

Auf dem Strom kräuselten sich die Wellen im Wind. Die Blätter in den Baumkronen raschelten und Aesa hörte das sanfte Plätschern der winzigen Dünung am Flussufer. Sie beruhigte sich zunehmend. Die Wikingerin schloss die Augen. Still und lauschend stand sie mit nackten Füßen auf dem weißen weichen Sand im Wasser und genoss es.

 

Staunend betrachtete Thyra die respekteinflößenden und imposanten Kriegsschiffe. Sie atmete ruhig und verlangsamte die Schritte. Aesa bemerkte es. Lächelte. Sie kannte das Gefühl, welches einen beim Anblick dieser prächtigen Schiffe übermannte. Die Heilerin beobachtete die Angeln-Frau, die ehrfurchtsvoll die Seeräuberschiffe, ihr uthlaupsship, huldigte.

Thyra schnappte nach Luft. Das war mehr als beeindruckend! Die Wikingerschiffe knarrten und knackten, rochen nach Meertang und Seeungeheuern. An den Eichenplanken der Bootsrümpfe klebten Tausende Muscheln und Seepocken, die von abenteuerlichen Reisen über mystische Meere voller grauenerregender Ungeheuer heimliche Geschichten flüsterten.

Sie schob den Kopf in den Nacken, um an einer Bordwand emporzublicken. Hoch oben auf dem Mast hockte eine Möwe, die schreiend ihren Aussichtspunkt verteidigte. Thyra bewunderte ein Schiff vom Heck bis zum Bug und erstarrte.

»Was ist das? Das Schiff hat einen Schädel!« Entgeistert deutete Thyra mit dem ausgestreckten Arm auf die Gestalt.

Aesa hatte auf diese Reaktion gewartet. Denn dieses war ein besonderes Schiff – ein herskip. Stolz sagte sie: »Dieses Kriegsschiff ist ein Drache und es wurde Odin geweiht. Unser Gott beschützt dieses Schiff. Und Hel, unsere Todesgöttin, gab ihm seinen Namen: dreki

Erwartungsvoll sah sie Thyra an und wurde nicht enttäuscht.

»Dieses Kriegsschiff gleicht den todbringenden Drachen aus dem Meer.«

»Wie lang ist es?«, fragte Thyra beeindruckt, nicht daran denkend, dass Aesa ihre Worte nicht verstand.

»Mit dem Drachen segeln wir übers keltische Meer, mit seinen Meeresungeheuern, die so groß wie die Hügel hinter dem Fluss sind. Die Wellen lassen den Drachen tanzen und fauchen.« Ernst sah die Wikingerin zur Angeln-Frau.

»Das Wasser ist eisig kalt. Die Winde blasen ins Segel und treiben uns voran. Bisweilen kämpft der Drache Wochen, manchmal Monate mit dem Meer.« Aesa beobachtete die Gefangene. »Das ist eine lange Zeit. Männer sterben. Oder das Trinkwasser reicht nicht. Manchmal wird es faulig.« Aesa rollte mit den Augen. »Dann grollen bei jedem Seefahrer die Därme im Bauch.« Sie lächelte. »Aber das ist selten.«

»Der Drache ist dreizehn Krieger groß, das Holz stammt aus unseren Wäldern, aus Dänemark.« Aesa plapperte drauflos, erzählte der Angeln-Frau alles, was ihr einfiel. Irgendwann, irgendwann würde sie verstehen!

»Im Norden sind die Nächte im Winter lang und oft bricht die Sonne selbst am Tag nicht durch die Wolkendecke. Der kalte Westwind bringt viel Regen, während der Ostwind eisige Kälte schickt und die Wolken Unmengen von Schnee tragen.«

Thyra bemerkte die Sehnsucht in Aesas Stimme.

»Doch der Drache wird uns bald zurückbringen in meine Heimat!« Sie seufzte schwermütig. »Dann ist es Sommer«, strahlte Aesa Thyra an. »Auf den Feldern reift das goldgelbe Korn. Überall blühen Blumen auf den Wiesen und in den Wäldern versteckt sich das Wild.«

Träumend ließ Aesa ihren Blick über den Fluss schweifen. »Ich vermisse meine Familie, die Wälder, die duftenden Moore – und das Meer und den Wind.«

Abrupt drehte sie sich um und schleifte die Angeln-Frau mit.

»Hey!«, empörte sich Thyra. »Was soll das?« Sie nahm ihre andere Hand und bog die rauen Finger der Wikingerin weit nach oben, um den festen Griff zu lockern. Was auch gelang.

Wütend blieb Aesa stehen und schlug Thyra ohne Vorwarnung ins Gesicht. Der feurige Abdruck ihrer Hand zeichnete rote Streifen auf Thyras Wange.

Heftig schnappte Thyra nach Luft, schlug für Sekunden ihre Augenlider nieder, sammelte sich, hob gefährlich langsam den Blick und starrte bedrohlich ins Gesicht der Wikingerin. Mit undurchdringlicher Miene starrte Thyra die Barbarin warnend an und sah in ein überraschtes Augenpaar.

Aesa erkannte, wie sich die Sklavin Furcht einflößend aufstellte. Sie sah die Hand der Angeln-Frau nicht kommen und im Bruchteil einer Sekunde spürte sie den Schlag auf der Wange.

Heiß brannte er auf der Haut!

»Wage es kein zweites Mal, deine Hand gegen mich zu erheben!« Thyra fauchte gepresst. »Wage es nicht!« Sie zitterte vor Wut.

Aesa legte ihre Hand an ihre glühende Wange und starrte die Sklavin an.

»Þú!«, giftete sie Thyra an. »Þú ert fönguð, ambátt, gísl! Þú átt at hlýða!«67 Aesa flüsterte gefährlich leise. Ihr Gesicht wurde blass vor Zorn.

»Ich bin Thyra Danebod!« Sie trat wutschnaubend einen Schritt auf die Wikingerin zu. Sie spürte die Wärme der Nordfrau auf ihrer Haut, so eng standen sie einander gegenüber. »Ich bin die Nichte des Königs!«

Thyra zitterte am ganzen Körper.

»Noch nie traute es sich jemand, mich zu schlagen«, schnaubte sie. »Ich erlaube es kein zweites Mal!« Thyra ballte ihre Fäuste. Ohne auf eine Antwort dieser Nordfrau zu warten, drehte sie sich abrupt um und stampfte zornig zum Lager. Thyra ließ Aesa stehen. Sollte die Frau doch machen, was sie wollte! Das tat sie schließlich auch!

Aufgebracht stiefelte Thyra durch die schlammige Erde des Flussufers. Ließ zwei erstaunt blickende Nordmänner zurück, die zum Schiff schlenderten, und kreuzte den Treidelweg, der den Fluss entlang zum nächsten Ort führte.

Doch nur drei Schritte!

Thyra hielt inne und sah sich kurz um. Hinter ihr schnaufte die Wikingerin. Sie überlegte kurz. Fixierte listig lächelnd die Nordfrau, die nur wenige Zentimeter vor ihr stehen blieb.

»Pù!«, fauchte Aesa. »Pù …!« Mehr Worte kamen nicht über ihre Lippen, denn Thyra schubste die Nordfrau mit einem hämischen Grinsen die glitschige Uferböschung herunter.

»Ahhh!«, entsetzt stürzte Aesa den lehmigen Abhang hinunter. Das Gesicht wutverzerrt, griff sie zum Grasbüschel. Allerdings hielten die Wurzeln nicht in der nassen Erde und mit einem schrillen Aufschrei platschte Aesa rücklings in das eisige Wasser der Themse.

»Ohhh! Das wirst du bereuen!« Wutschnaubend kletterte sie am glitschigen Ufer empor.

Thyra sah noch, wie die Wikingerin festen Grund erreichte. Dann rannte sie los. Zurück zum Dorf. Noch während sie lief, sah sie im Augenwinkel den Treidelpfad. Der Weg war dicht bewachsen. Sie kannte ihn. Er war lang und schmal. Mit Windungen wie eine Schlange. Nur kurz zögerte sie. Blickte über die Schulter zurück zur fluchenden Wikingerin. Ein hastiger Blick zum Dorf. Ein rascher Entschluss. Dann nahm sie den Pfad.

Die Zweige schlugen ihr ins Gesicht, zerrten an der Kleidung und behinderten den Lauf. Sie rannte – rannte – rannte.

Pfützen überzogen den Pfad. Der matschige Uferboden ließ ihre Füße einsinken. Rasend atmend drehte Thyra sich um.

Folgte ihr die Nordfrau? Sie sah sie nicht! Hörte sie nicht! Getrieben von Angst hastete sie voran. Das scharfkantige Schilfblatt schnitt in die Haut der nackten Waden. Klaffend floss das Blut aus ihrem Fleisch, lief die Beine herunter, tropfte in den Matsch.

Thyra rannte!

Verlor einen Schuh. Zu tief steckte er im Morast.

»Verdammt«, fluchte sie in Panik, weithin hörbar und viel lauter als beabsichtigt, während sie den Schuh packte und daran zog. Doch der Sog hielt dagegen. Thyra hörte jemanden auf dem Pfad heraneilen.

»Verdammt! Verdammt!« Verzweifelt zog sie den anderen Schuh aus. Schmiss ihn fort. Gehetzt folgte sie dem Treidelpfad.

Rutschte im Schlamm aus.

Rappelte sich auf.

Rannte!

Fischotter tummelten sich am Ufer und nutzten den Weg, um Süßwassermuscheln zu fressen. Myriaden von Muschelschalen lagen achtlos herum. Ließen den Weg wie Perlmutt in der Sonne schillern.

Thyra wusste um die exzellenten, schneidenden Eigenschaften der Muscheln und riss entsetzt den Mund auf. Sog die Luft ein! Doch die Angst trieb sie voran. Sie hatte keine Zeit, biss die Zähne zusammen und lief über die zerbrochenen Muschelschalen.

Messerscharf drangen die nadelspitzen Kanten in die Fußsohle, blieben stecken, drangen tiefer hinein – ins Fleisch.

»Ahhh!« Thyra brach auf die Knie. Schwer atmend griff sie ihren Fuß und starrte auf die blutige Sohle. Eine Muschelscheibe steckte tief im Fleisch. Nur ein kümmerlicher Rest des weißen Gerippes ragte aus der Fußsohle heraus.

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