Feindin der Wikinger. Die Jelling-Dynastie. Band 1

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Из серии: Die Jelling-Dynastie #1
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Zischend sog sie die kalte Luft durch die Zähne.

»Mein Medaillon!«, fauchte sie gereizt und Gnupas lächelte tückisch.

Dies war das Zeichen des Erkennens. Gnupas jubilierte. Es ist die Kette der Angeln-Frau!

Thyra sah ihr Relief nur allzu deutlich im Schein des rotglühenden Feuers schimmern. Die goldene Scheibe, die an den Rändern schlangenförmige Vertiefungen aufwies, zeigte das Symbol der königlichen Familie.

Das Siegel einer Königstochter!

›Sie wissen, wer ich bin!‹, schoss es Thyra durch den Kopf. ›Ist es gut? Oder …?‹ Vor ihren Augen drehten sich wirre, farbenfrohe Punkte. Ihr Blick jagte über die Flammen. Dort stand niemand. Und hinter ihr?

›Nein, da auch nicht!‹, zischte es durch ihre Gedanken. ›Der Wikinger ist weit entfernt!‹

Gnupas beobachtete die hektischen Bewegungen der Gefangenen.

»Ich weiß, wer du bist. Noch brauchst du dich nicht zu fürchten«, raunte die Wikingerin und beugte sich vor. Durchdringend musterte sie die Angeln-Frau. »Noch nicht.«

Thyra ahnte den Wortlaut.

»Du bist also eine Tochter von Ethelred.« Ein Grinsen zog über das faltige Gesicht der ehemals schönen Frau. »Eine Königstochter!«

Thyra riss erschrocken ihre Augen auf. Sie verstand! Auch wenn die Alte den Namen ihres Vaters mit einem merkwürdigen Akzent aussprach. Diese Frau aus dem Norden war nicht dumm.

Thyra fixierte ihr Medaillon. Tänzelnd pendelte es an den goldenen Kettengliedern hin und her. Wie hypnotisiert starrte sie auf das funkelnde Metall und erkannte, dass ihre Eitelkeit sie verraten hatte. Zornig über ihre Dummheit presste sie ihre Lippen zusammen.

Ein wissendes Lächeln umspielte den lauernden Mund der Alten. Behutsam glitt das Geschmeide in ihre Tasche und bedächtig reichte sie der Königstochter einen Becher heißen Tee, nahm sich ebenso einen und genoss, laut schlürfend, das bittere Gebräu.

Thyra blickte in ihren Becher und beobachtete die Blattfetzen, welche sich am Grund des Trinkbechers ansiedelten und ließ sorgenvoll ihre Gedanken schweifen.

»Nichts wisst ihr!« Ihre Worte waren nicht mehr als ein Zischen.

Aufhorchend drehte die Alte den Kopf.

Zum wiederholten Mal starrte Thyra in ihren Becher, wo die Kräuterfetzen im goldenen Wasser tanzten. Hypnotisiert befand sie sich plötzlich in einer anderen Welt.

Ihr Vater, König Ethelred der Erste von Wessex, war der Sohn Ethelwulfs von Wessex. Ihre Mutter Wulfthryth lebte nach dem Tod des Mannes einsam im Kloster, abgeschieden von der Welt, ihren Kindern und der Familie.

Und ihr Vater – ihr Vater war schon lange tot! Gestorben in der Schlacht von Merton am 23. April 871. Erschlagen, als sie ein Jahr war! Er schaffte es nicht, dem Ansturm der Wikinger in seinem Land zu trotzen. Am 4. Januar 871 verlor König Ethelred der I. von Wessex die Schlacht gegen die dänische Invasionsarmee in der Schlacht von Reading. Seine Armee erlitt durch die grausamen Dänen in diesem Kampf größte Verluste.

Das erzählten ihr jedenfalls ihre Brüder mit stolz geschwellter Brust. Außerdem erzählten sie ihr, der jüngeren Schwester, die ihren Vater nicht kannte, vom Sieg des Vaters kurz darauf in Ashdown gegen die teuflischen Wikinger. Allerdings war jetzt ihr Onkel Alfred, der vorherige Secundarius, König. Der Bruder ihres Vaters bestieg den Thron, obwohl Ethelred zwei Söhne hatte! Die rechtlichen Thronerben! Doch in der Zeit der heftigen Wikingerangriffe waren Ethelreds Söhne noch zu jung für dieses Amt.

›Aber Vater wird nach seinem gewaltsamen Tod vom Volk als Heiliger verehrt‹, dachte Thyra stolz.

Traurig zuckte sie mit der Schulter.

›Nur von der Kirche wird er nicht als Schutzheiliger geehrt.‹

Jetzt herrschte ihr Onkel. Sie presste ihre Kiefer aufeinander. Alfred war ein starker und unnachgiebiger, aber charismatischer König.

Das englische Volk nannte ihn Alfred den Großen!

Thyra seufzte und nahm einen Schluck des bitteren Gebräus. Angewidert verzog sie das Gesicht, doch Gnupas lächelte verschlagen.

›Trink, Mädchen! Trink!‹, befahlen Gnupas’ Gedanken und suchten einen Weg zum Geist der Angeln-Frau. Gnupas registrierte den nach innen gewandten Blick der dünnen Frau und wusste, dass sich ihre Vergangenheit in die Gegenwart katapultierte.

Thyra war eine angelsächsische Prinzessin. Eine Tochter von Ethelred und Wulfthryth.

Sie seufzte und flüsterte: »Ich bin fast wertlos. Ich leiste Alfred nur wertvolle Dienste, wenn er mich für seine machthungrigen Zwecke an einen Adligen mit umfangreichen Gütern verheiraten kann.« Ihr wurde übel. »Nur, um seinen Hunger auf noch mehr Land, mehr Geld und mehr politischen Einfluss zu stillen.«

Sie atmete zitternd ein. Sie war für ein langweiliges Leben an der Seite eines fetten, gierigen, langnäsigen, blassen, alten Mannes bestimmt.

Unwillkürlich schüttelte Thyra sich. Allerdings erging es ihren Schwestern ebenso! Deren Aufgabe war es, viele starke Söhne zu gebären, welche den Ehegatten und den König erfreuten, um seine Herrschaft zu sichern.

So sah auch ihre Zukunft aus!

Die Kette in der Hand der Wikingerin erzählte, wer sie war!

Das duftende Harz in den Holzscheiten knackte in der Hitze des Feuers. Die ältere Frau legte einige Scheite nach und beobachtete über den Becherrand die Angeln-Frau, während sie den Tee in kleinen Schlucken genoss.

Thyra dachte an ihre Brüder und die Geschichten, welche sie ihr erzählt hatten.

Dass die Wikingerangriffe erst im Jahr 878 unterblieben, nachdem die Dänen bei Edington eine schwere Niederlage von den Angelsachsen einsteckten. Eine Forderung der unzähligen Friedensvereinbarungen war, dass der große Wikingerkönig Guthrum sich taufen ließ und seinen heidnischen Göttern abschwor. Guthrum durfte fortan nur dem christlichen Gott dienen.

Jedes Mal, wenn ihre Brüder diese Stelle der Geschichte erreichten, schüttelten sie sich aus vor Lachen. Kämpften mit ihren Holzschwertern und keuchend brüllten sie: »Und ab sofort unterblieben die tödlichen Angriffe der Wikingerhorden!« Mit einer anmutigen Verbeugung verneigten sich ihre beiden Brüder vor der jüngeren Schwester Thyra.

»Einundzwanzig Jahre hatten wir Frieden«, murmelte Thyra erschüttert. »Bis jetzt! Bis zum Jahre 892.«

Sie nahm einen Schluck vom nur noch lauwarmen Tee.

Die Zeit verrann. Alfred hatte aufgerüstet. Thyra dachte an die geladenen Aristokraten an der königlichen Tafel. Sie hörte Alfreds unerschrockene Anhänger tönen. Ihre Verwandten sangen Lieder auf des Königs kluge Taten und reimten heroische Verse auf sein militärisches Geschick. Alfred ließ Festungen bauen und rüstete sein Reich gegen die kämpferische, skandinavische Armee. Er ließ an den Ufern der Themse leistungsstarke, umfangreiche Kriegsflotten Stellungen beziehen, deren Anzahl sich nach kurzer Zeit meilenweit am Ufer erstreckte. Soweit das Auge reichte, sah das Volk der Angelsachsen die Masten und Segel der imposanten Kriegsschiffe auf der Themse im Wind segeln.

»Wir dachten, der Frieden währt ewig.« Thyras Blick versteinerte. »Doch jetzt sitze ich als Geisel der Nordmänner an deren Feuer und trinke dieses Gebräu.« Skeptisch starrte sie in den fast leeren Becher. »Und bin ihren teuflischen Handlungen ausgeliefert. Wir fühlten uns sicher. Kein Angelsachse glaubte an die Gefahr eines Überfalles. Unser Volk ist zu arglos!« Sie schüttelte flüchtig ihren Kopf. »So sicher«, flüsterte sie, so dass die skandinavische Frau ihren Kopf hob und sie fragend ansah.

»Aber ihr werdet verlieren und getötet werden!«, sagte Thyra jetzt laut, mit erhobenem Kopf und heroischem Blick zur alten Frau. »Alfred hat Vorkehrungen getroffen. Er wird euch erneut vernichten!«

Die Wikingerfrau hob verwundert den Kopf und musterte Thyra fragend. Doch die Königstochter lächelte nur sinnierend und trank den Rest des Tees.

********************

Es wurde ein langer, langer Tag. Sie saß wieder mit den Dorfbewohnern im Käfig und starrte durch die Stäbe. Argwöhnisch war sie von ihren Mitgefangenen beäugt worden, als sie am frühen Vormittag wieder zu ihnen gesperrt worden war.

Thyra hatte die misstrauischen Blicke ignoriert, sich an den gewohnten Platz gestellt und beobachtete seither die Nordmänner.

Die Sonne brannte erbarmungslos auf die Gefangenen und verbrannte die Haut im Gesicht, auf den Händen, den Armen. Die Kinder weinten, als ihnen die ersten heißen Sonnenstrahlen in diesem Frühling die Lippen aufplatzen ließen und ihre durstigen Körper von Kopfschmerzen und Schüttelfrost gequält wurden.

Thyra klebte die Zunge am Gaumen, der Kopf schmerzte, die Haut verbrannte. Doch die Wikingerfrauen übersahen das Leid der Gefangenen. Nicht einen Blick gönnten sie den weinenden Kindern.

Endlich ging dieser heiße, quälende Frühlingstag zur Neige. Niemand bekam einen Becher mit Wasser oder etwas zu essen. Auch die Kinder nicht! Mit zornigen Blicken und flehentlichen Bettelrufen forderten die Mütter die Wikingerfrauen am späten Nachmittag auf, wenigstens den Kindern einen Becher Wasser zu geben. Doch sie wurden ignoriert. Es war fast so, als existierten sie nicht. Die Mütter sahen, wie ihre Kinder unter der Sonne litten, hungerten und dürsteten. In ihrer Verzweiflung öffneten sie ihre Kleider und gaben ihnen die trockene Brust.

Thyra beobachtete es schweigend. Doch dann hetzten die Mütter ihre Männer in den Käfigen auf, für das Überleben der Kinder zu kämpfen. Beleidigten und forderten den Mut der verwundeten Männer heraus.

»Seid ihr Schwächlinge?«

»Kämpft für eure Kinder!«

»Ich habe einen Feigling geheiratet«, ätzte die eine.

 

»Unsere Männer sind Hasenfüße!«

»Sie sind allesamt Schwächlinge. Seht euch die Nordmänner an! Seht ihre Größe und seht, wie stark sie sind!«

»Sei still, Frau«, versuchte der Ziegenbauer, seine Frau zu besänftigen.

»Ich soll still sein!« Sie fuchtelte wild mit den Armen. »Dein Kind stirbt und ich soll still sein! Du bist eine Memme! Hast keinen Mut in den Knochen! Siehst zu, wie dein eigen Fleisch und Blut vor Hunger und Durst dahingerafft wird.«

»Was soll ich denn machen?«, zuckte er resignierend seine Schulter.

»Kämpfen! Rette dein Kind! Kämpfe!«

Die Hetzjagd der Frauen hatte begonnen – und ihre Männer ließen sich aufhetzen.

Thyra hörte es und spürte, wie die Aggression anschwoll. Sie hörte die wütenden Antworten der Männer. Sah aus dem Augenwinkel, wie sie mit ihren kräftigen Handwerkerhänden an den Käfigstäben rüttelten, zornig ihre geballten Fäuste den Wikingern entgegenstreckten.

Die Frauen hatten ihr Ziel erreicht!

Der Tumult in den Käfigen wurde eindringlicher. Die Kinder schrien vor Angst und einigen Frauen stand Panik ins Gesicht geschrieben.

Thyra wandte ihren Blick nicht vom Lager der Nordmänner ab. Unaufhörlich beobachtete sie das Treiben der Lagerstätte. Die Nacht brach herein und Dunkelheit kroch über das Land. Doch als sich der Mond mit der schmalen, kaum sichtbaren Sichel hinter den Wolken erhob, begriff Thyra, warum sie alle wie Geister behandelt wurden.

»Das ist Kriegsführung! Ängstige deinen Feind, so dass er nur noch sein eigenes und vielleicht das Leben seiner Familie retten will. Bringe deinen Feind dazu, Dinge zu sagen und zu vollbringen, die er sich nie in seinem Leben zugetraut hätte! Demütige ihn! Breche seinen Körper – und danach seinen Geist!«

Die Frauen rüttelten an den Gitterstäben und die Männer streckten ihre geballten Fäuste den Fremden entgegen. Sie überschütteten die Nordmänner mit Spott und Häme.

Die Frauen kreischten, zogen Grimassen. Zwei hoben ihre Röcke und zeigten ihre Vagina. Der Lärm in den Käfigen wurde immer lauter und endlich beobachtete Thyra, wie sich eine Gruppe von elf Nordmännern zu den Gefangenenkäfigen bewegte.

»Sie kommen!«, flüsterte sie vor Erregung lauter als beabsichtigt. »Sie kommen!«

Doch die Wikinger stellten sich nur stumm, in einigem Abstand um die Käfige und sahen dem Treiben gelassen zu.

Irritiert guckte Thyra von einem Mann zum anderen. Kein Nordmann sprach ein Wort. Breitbeinig standen sie den Käfigen zugewandt und taten so, als bewachten sie Geistwesen. Sie sahen einfach durch die Gefangenen hindurch.

»Hier!«, fauchte eine Frau herrisch und schob ihr blasses, hungriges und durstiges Mädchen an die Gitterstäbe. »Seht sie euch an!« Wütend starrte sie nacheinander in die bärtigen Gesichter ihrer Bewacher.

»Seht sie euch an! Sie leidet!«

Keiner der Wikinger beachtete sie.

»Sie leidet!«, schrie die Frau hysterisch. »Habt ihr denn keine Kinder?«

Von Panik überrollt griff sie an die hölzernen Stäbe, erdrückte mit ihrem Körper fast ihr eigenes, schwaches Kind.

»Habt ihr denn gar kein Mitleid?«

Funkelnd weiteten sich ihre grauen Augen und die Farbe ihres Gesichtes wurde von violettem Rot überzogen. Sie rüttelte an den Stäben, schrie und schimpfte, drohte, bettelte, bis sie weinend zusammenbrach und von gnädigen Händen zur Seite gezogen wurde.

Ihr kleines Mädchen lag bewusstlos am Boden!

Thyra sah die Wächter an. Doch in den Augen der Wikinger zeigte sich kein Mitleid. Stur und gnadenlos ignorierten sie das Geschehen.

Der Tumult wurde stärker! Die Frauen kreischten und die Männer taten sich zusammen, um die Behausung zu zertrümmern.

Immer noch keine Reaktion.

»Sie sind sich sehr sicher.«

Thyra beobachtete abseits des Treibens, wenn dies in der Enge überhaupt möglich war.

»Kein Wikinger greift zum Schwert. Sie bewegen sich noch nicht einmal von der Stelle.«

Mit klopfendem Herzen wanderten ihre Augen durch das Lager der Nordmänner.

»Bereiten sie etwas anderes vor?«

Nervös griff sie sich ins Haar, biss auf ihre Lippen.

Der Tumult war kaum noch zu kontrollieren! Die Kinder weinten und die Männer brüllten. Plötzlich stoppte Thyras Blick.

»Was machen die dort?« Sie kniff die Augen zusammen. »Zwei Nordmänner, die sich abseits der verkohlten Häuser unterhalten und uns nicht aus den Augen lassen. Was heckt ihr aus?«

Vorsichtig trat sie in die Mitte der Menschenmenge, wollte von den Beobachtern in der Dämmerung nicht erkannt werden.

»Ihr seid offenbar die Ränkeschmiede des Spektakels. Was ist euer Plan?« Thyra kniff grübelnd die Augen zusammen. »Krieg unter den Gefangenen?«

Sie grinste wissend. Doch als sie sich ihres verräterischen Gesichtsausdrucks bewusst wurde, nahm sie schnell wieder einen unbeteiligten Ausdruck an.

Die zusammengepferchten Männer aus Oxfordshire gaben ihr Vorhaben nach kurzer Zeit auf. Die Käfige standen auf einem festen Fundament. Die Frauen hockten bei ihren schlafenden und manchmal auch weinenden Kindern, beruhigten sie mit sanften Liedern oder sahen mit gebrochenem Blick in die Ferne.

Die Lagerfeuer der Nordmänner brannten und köstliche Düfte von gebratenem Fleisch, Eintopf und Getreidebrei waberten zu ihnen hinüber. Thyra hörte Mägen knurren und schlang ihre Arme um ihren dünnen Körper.

»Barbaren«, murmelte sie, stellte sich wieder an den Käfig­rand und beobachtete das Lager.

Die Nacht war finster, die schmale Mondsichel durchbrach die Dunkelheit nicht. Thyra erkannte, dass einer der zwei Männer, die sie beobachtet hatten, auf sie zukam.

»Was habt ihr vor?« Sie biss sich auf die Zunge. Stattdessen dachte sie: ›Wen holt ihr heute Abend?‹

Einige Nordmänner beobachteten die Gefangenen.

»Ich bräuchte mal wieder eine für meinen Schwanz.« Gierig wanderten seine Augen über die üppigen Brüste der Bäckersfrau.

»Du solltest Gorm fragen.«

Entrüstet blähte er sich auf. »In wenigen Minuten bin ich fertig und mein Samen wächst im Schoß der Frau.«

»Na dann, viel Erfolg für dich und deinen Schwanz.«

Er war groß, blond, mit buschigen Augenbrauen. Er trug die typische Tracht der Nordmänner. Als er sich dem Käfig bis auf einen Meter genähert hatte, befahl er einem Wächter, die Käfigtür zu öffnen. Angstvoll starrte Thyra den Mann an. Fest presste sie sich gegen die Stäbe!

›Nicht ich‹, dachte sie mit einem Anflug von Panik.

Doch sie brauchte sich nicht zu sorgen. Denn zielstrebig ging der nordische Wächter zu einer Frau, die vier Kinder an ihrem Rock hängen hatte. Packte die füllige Frau, riss ihr den Säugling aus der Hand und drückte das schreiende Kind einem in der Nähe stehenden Mann in den Arm. Dann verschwand er mit ihr! Sie wehrte sich und schrie. Zwei Männer zogen die Frau von ihren Kindern weg. Sie schlug mit ihren Fäusten auf den Nordmann ein. Doch er vernachlässigte ihre weiblichen Abwehrversuche und zog sie hinter sich her. Er zog nur einmal kurz eine seiner buschigen Augenbrauen in die Höhe, als sie versuchte, ihn brutal in seine Geschlechtsteile zu treten.

Die Käfigtür schloss sich. Die Frau ließ sich fallen, drehte und wendete sich. Sie schrie und biss einem in die Hand. Doch nur die staubige Schleifspur ihres Rockes und die Kerben der Schuhabsätze in der Erde zeugten von ihrem Versuch zu bleiben. Stumm und paralysiert standen alle im Käfig.

Die Erste!

Sie haben ihr erstes Opfer geholt!

Thyra sah es und ihr Herz klopfte bis zum Hals.

›Wer ist die Zweite? Wer wird als Nächstes vergewaltigt?‹

Die Feuer brannten und färbten die flackernden Schatten der geheimnisvollen Dunkelheit leuchtend orange-rot. Dumpfe Trommelschläge vibrierten und eine kristallklare Mädchenstimme sang im Takt der Trommeln. Die dumpfen Schläge stießen durchdringend wie Messerstiche ins Fleisch. Zogen böig wie der Wind und rhythmisch wie die Wellen der See. Dynamisch wie ein Orkan und überfluteten die Menschen.

Die Skandinavier fielen in den Gesang ein. Die vielfachen Stimmen schwebten übers Feld in die Düsternis. Die dunklen Stimmen der Männer, der helle Klang der Frau im Takt der Trommeln. Jeder Laut drang in Thyras Körper und mit jedem Ton fingen ihr Fleisch und ihr Blut an zu vibrieren. Es war unheimlich, wie sie auf den fremden Klang der Trommeln reagierte.

Doch es war mehr! Ein Gefühl. Eine Ahnung. Es klang nach Abenteuer, Verlangen und – etwas Entferntes – Aufregendes!

Sie wehrte sich nicht!

Ihre Lippen zitterten und krampfhaft umfasste sie das raue Holz.

Die Trommeln pochten!

Weiß traten ihre Fingerknöchel hervor. Holzsplitter stachen durch die Haut und ein dicker Blutfaden lief am trockenen Holz herunter. Sofort wurde der rote Saft aufgesogen. Thyra bemerkte es nicht.

Die Luft vibrierte. Die Feuer tanzten und die Wikinger sangen.

Ein magischer, geheimnisvoller Moment.

Erst als der lange, markerschütternde Schrei einer Frau die Atmosphäre durchbrach, gelang es Thyra, sich in das tatsächliche Geschehen zu katapultieren.

Stille!

Nur das aufplatzende Harz in den glühenden Holzscheiten im Feuer wagte es, die Grabesstille krachend zu durchbrechen.

Dann wieder – dieser grässliche, schmerzverzerrte Schrei. Tränen schossen Thyra in die Augen, als sie das Leid der Frau hörte. Ihre Gedanken wanderten zu Solvor. Wie sie auf dem staubigen Weg im eigenen Blut lag. Thyra schloss die Augen. Doch dann sah sie Beorhtric und die erstarrten Augen von Ethelgiva, umgeben von verkohlten Leichen.

»Was tun sie der Frau an?« Thyra schäumte vor unbändigem Zorn und ballte die Fäuste. »Vergewaltigen sie die Frau erst oder wird sie gleich aufgeschlitzt?«

Wieder ihr Schrei und dann hörte Thyra das gutturale Gebrüll eines Mannes hinter sich.

»Grroaahh!«

So animalisch, so zornig und hilflos, dass Thyra sich erschrocken umdrehte.

Dort stand er! Der vorher feige Ehemann der gefolterten Frau.

Umringt von den anderen Männern im Käfig. Sie hielten ihn fest. Umklammerten seine Arme und seinen Leib.

Doch er wehrte sich, kämpfte, schrie, brüllte.

Brüllte. Boxte sich frei. Brach einem Kameraden die Nase, bevor er wieder von den Männern gepackt und mit einem gezielten Schlag auf seine Schläfe in eine erbarmungsvolle Ohnmacht geschickt wurde. Wieder schrie seine Frau, doch ihre Stimme wurde leiser und schließlich drang nur noch ein gequältes Wimmern an die Ohren. Ihr Ehemann hörte es nicht mehr!

Entsetzt sah Thyra hinaus in die Nacht.

»Diese Barbaren!«

Voller Verachtung und Zorn biss sie ihre Zähne aufeinander, knetete den Rock und ballte erneut ihre Hände zu Fäusten. Sie schwor, dass ihr nicht ein Ton aus der Kehle rinnen sollte, wenn die Wahl der Nordmänner auf sie fallen würde.

********************

Der Morgen graute. Sanft und friedlich begann er mit zartem Vogelgesang. Die Strahlen der Sonne wärmten mild und anheimelnd. Thyra war eingeschlafen und rieb sich mit der Hand die Augen. Ihr Körper schmerzte. Erst allmählich kehrte die Erinnerung zurück. Sie war noch nicht vollständig wach, als sie die Frau sah!

Dort hockte sie. Halb sitzend. Halb liegend, außerhalb der Käfige an eine uralte Eiche gefesselt.

Die zerrissene Kleidung bedeckte nur notdürftig den nackten Körper. Kaum ausreichend über die zerschundene Gestalt gezogen. Das Gesicht blutunterlaufen, von brutalen Schlägen blau und geschwollen. Die Haare standen wirr um den hängenden Kopf.

Thyra setzte sich und wischte den nebelhaften Schleier von ihren Augen fort. Sie erkannte keine Wunde. Doch das Blut lief dunkel an den Innenseiten der Beine herunter. Am glanzlosen Blick des Opfers erkannte Thyra, dass die Vergewaltigung sie fürs Leben gezeichnet hatte. Die Frau hob ohne Eile ihren Kopf und starrte mit leblosen Augen hinauf in die Krone der knorrigen Eiche, die ihren Rücken stützte.

Plötzlich hellwach drehte Thyra sich um und sah zum Ehemann der Frau! Er schlief noch, in seinen Armen die Kinder.

Dies war das Grauen! Purer Horror!

Doch die barbarischen Heiden fingen erst an!

Die Nordmänner schafften es, die Gemeinschaft der Dorfbewohner ins Schwanken zu bringen. Dieser Mann würde vielleicht noch nicht sagen, wo die Vorräte, die Saat und Tiere des Dorfes versteckt waren. Doch vielleicht der Zweite, spätestens der Dritte würde übersprudeln mit seinem Wissen, um seine Frau oder seine Kinder vor diesen Qualen zu retten.

 

›Krieg!‹, erkannte Thyra. ›Sie sind hervorragend in ihrer Kriegsführung!‹

Nervös knetete sie ihren Rock.

»Sie dürfen nicht erfahren, wie erfolgreich sie mit ihrer Taktik sind.« Ihr Körper zitterte. »Sie dürfen es nicht!«

Der Morgen war frostklar. Die Sonne glühte am Himmelsgewölbe und vertrieb die Kälte der Nacht. Eisige Stille herrschte in den Käfigen und die Wikinger behandelten die Gefangenen erneut wie Geistwesen. Kein Essen, kein Wasser, um den Durst zu löschen, kein Eimer, der verschämt in eine Ecke gestellt werden konnte, um die Notdurft zu verrichten. Zorn keimte auf, während Thyra von Stunde zu Stunde mehr erkannte, wie sich Frustration und Hoffnungslosigkeit einnisteten.

Verzweifelt hämmerte Thyra mit der Faust gegen das Gitter.

»Ich gebe nicht auf!« Ihre Augen glühten. »Dieses Volk aus dem Norden kann mir nichts anhaben! Ich kämpfe!«

Immer wieder erneuerte sie dieses Versprechen im monotonen Singsang. Bis es sich tief einprägte. Das sah er, der Wikinger, der Thyra schon seit geraumer Zeit aus dem Schatten der verkohlten Häuser beobachtete. Er sah, wie die anderen resignierten und jammerten, nur diese eine nicht!

»Tochter von Ethelred, wer bist du? Was planst du?«

Der Wikinger folgte ihrer Blickrichtung. »Ich werde auf dich achtgeben müssen«, überlegte der Mann und fuhr mit der Hand durch seinen Bart. Ärgerlich stieß er mit der Fußspitze in den Staub, so heftig, dass kleine Steine wegschleuderten.

»Kluge Frauen sind mir ein Gräuel. Sie machen nur Ärger«, fluchte er zähneknirschend.

Thyra stand am Gatter und beobachtete aufmerksam jede Bewegung der Menschen im Lager. Der Wikinger erkannte, wie diese Frau allmählich begriff! Er erkannte es daran, wie sie kurz eine Augenbraue anhob oder ein kaum erkennbares Lächeln des Verstehens ihre Lippen umspielte.

»Diese Frau könnte für unsere Unternehmen riskant werden! Aber bei Odin! Sie ist zu unserem Glück kein Mann!«

Er erkannte an ihrer Körperhaltung, dass sie begriff! Verstand, wie die hierarchische Struktur des Wikingerheeres aufgebaut war. Wer Handwerker, Krieger oder Bauer war.

Gorm beobachtete diese Gefangene eine Weile, ohne dass sie ihn entdeckte.

»Nicht eine Minute hockt sie sich auf die Erde oder zeigt Schwäche. Diese Angeln-Frau lässt sich nicht von unseren Gräueltaten beeindrucken! Und gerade dieses Weib hätte es nötig!«, knurrte er verärgert, denn am frühen Vormittag hatte er, Gorm, der Häuptling, der styrimannr dieser Wikingerflotte, Hafr auf dem Krankenlager besucht.

********************

Die Heilerin hatte Hafrs Penis vor Stunden dick mit einer grünlichen, merkwürdig stinkenden Kräutermischung eingerieben, sein Glied mit einer festen Schiene gestützt und beides mit weißen Leinenstreifen umwickelt.

»Heilt er?«, fragte Gorm, mit einer lässigen Handbewegung zur Beule unter der Decke deutend.

Wutschnaubend schlug Hafr seine Felldecke zurück und zeigte anklagend zum dicken Penisverband, der wie eine riesige Wespenkugel zwischen seinen nackten Schenkeln lag.

»Siehst du das?«, fauchte Hafr zornesrot. »Sieh dir meinen Schwanz genau an!«

Gorm konnte gerade noch ein Grinsen unterdrücken, denn nur die rötliche Spitze seiner Männlichkeit lugte verschämt aus der Penisverbandskugel heraus.

»Wenn ich diese Frau in meine Finger bekomme«, grollte Hafr gefährlich leise. »Dann werde ich sie ganz langsam und genüsslich zu Tode quälen. Ihre Schmerzensschreie werden tage- und nächtelang über die Ebene bis vor die Tore von Walhalla gellen.«

Energisch schlug er das Fell über seinen fast nackten Unterkörper und starrte mit bösartigem Blick zur Decke der Unterkunft.

›Wenn du dich da mal nicht irrst!‹, dachte Gorm, sagte aber: »Sie steht im Käfig.«

»Noch nicht einmal pissen kann ich!«, überhörte Hafr die Bemerkung.

›Und ficken konntest du sie auch nicht! Wer weiß, ob jemals wieder!‹, schoss es Gorm durch den Kopf.

»Wie ist es denn geschehen?«

»Wie es geschehen ist!« Hafr brüllte aufbrausend und fuhr aus seinem Lager in die Höhe, so dass die Felldecke verrutschte und seine Peniskugel mit der rötlichen Spitze gefährlich hin und her wippte.

»Ich sah sie auf dem Weg stehen. Die Alten hatten wir schon.« Langsam ließ er sich zurücksinken. »Sie sah so verlockend aus.«

»Stimmt«, bestätigte Gorm gedankenverloren.

»Ich rannte los. Doch dieses dumme Weib auch.« Hafr zuckte mit der Schulter. »Sie war schnell.« Unbewusst legte sich ein Grinsen um seine Mundwinkel. »Ich konnte ihre nackten Beine sehen.« Er seufzte und machte eine kurze Pause. »Sie hat versucht, sich in einen Dachsbau zu schieben.«

»In einen Dachsbau?« Erstaunt lachte Gorm.

»Aber sie war nicht schnell genug. Ich hatte sie.«

Hafr schloss seine Augen und Gorm konnte sehen, wie er vor seinem inneren Auge die Situation noch einmal hervorholte.

»Sie wollte nicht«, knurrte er. »Wie fast alle Weiber! Sie wehrte sich!« Er lachte brüllend. »Doch das hat uns noch nie abgehalten.«

»Bestimmt nicht!«

»Sie lag schon so, wie ich sie haben wollte. Ich war kurz vorm Ziel, da packt dieses Weib mit der Hand zu und bricht mir meinen Schwanz!«

Hafrs Gesicht war vor Wut und Schmerz zur Grimasse verzerrt. Aufgebracht schlug er mit einer Faust neben sich aufs Bett.

»Sie hat mir meinen Schwanz abgebrochen!«

Immer noch ungläubig starrte er dem Häuptling ins Gesicht.

Gorm besah sich das Zimmer und meinte leise: »Ich wusste gar nicht, dass so etwas möglich ist!«

»Ich auch nicht«, grummelte Hafr und zog die Decke wieder über seinen Körper. »Doch nun hängt mein Schwanz krumm und schlapp wie die zerrissene Sehne eines Langbogens an mir herunter.« Hafr starrte zu den dunklen Balken an der Decke. »Sie hat mich zum Gespött unseres Heeres gemacht und die Frauen verlieren die Achtung als Mann vor mir.«

»Deine kriegerischen Taten werden ihnen immer im Gedächtnis bleiben«, munterte Gorm ihn auf.

»Ja«, ächzte Hafr. »Aber zuerst werden sie immer an den schlappen Wurm unter meinem Wams zwischen den Beinen denken.«

›Das ist möglich‹, dachte Gorm, schwieg aber.

»Ich bringe sie um. Ganz langsam werde ich ihre Kehle zudrücken und zusehen, wie ihre Augen aus den Höhlen quetschen.«

»Aber erst, wenn du wieder pissen kannst«, meinte Gorm und versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken.

»Sie steht im Käfig?«

»Mit all den anderen.«

»Das ist gut.« Erleichtert ließ Hafr seinen Kopf auf das nass geschwitzte Kissen sinken. »Dann kann sie nicht weg.«

»Nein. Sie ist sicher.«

Eine Frau trat mit einer dampfenden Schale Getreidebrei in den Raum.

»Ich komme morgen wieder«, meinte Gorm mit einem eigenartigen Seitenblick auf den Getreidebrei. »Kein Fleisch?«

»Bestimmt nicht.«

Eilig bückte Gorm sich und ging durch die kleine Tür ins Freie.

»Ganz langsam drücke ich zu«, hörte er Hafr noch murmeln. Dann schloss sich die Tür.

Die Sonne schien Gorm ins Gesicht und blendete ihn.

»Die Angeln-Frau hat es verstanden, aus einem großen, von allen Männern und Frauen angesehenen und geachteten Krieger mit einem Handstreich einen Verlierer zu machen. Einen Nordmann, der von den Kriegern belächelt und dessen Manneskraft von den Frauen nicht mehr bewundernd besungen, sondern verhöhnt wird.«

Mit zügigen Schritten ging Gorm durchs Lager zum Fluss, wo die Schiffe in Reih und Glied vertäut lagen.

»Mit dem Griff einer zarten, dennoch kräftigen Frauenhand«, flüsterte er versonnen, als er den weißen, kreischenden Möwen hinterherschaute.

Plötzlich betrachtete er Frauenhände in einem ganz anderen Licht.

********************

Thyra sah den blonden Wikinger, wie er aus einem der wenigen nicht verbrannten Häuser trat. Und für Sekunden schlug ihr Herz schneller.