Scheidung kann tödlich sein

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Sie tat mir von Anfang an leid. Hatte keine echten Eltern, und Tante Thea nach wie vor keinen Mann, somit Uschi auch jetzt keinen Vater. Was waren das nur für Menschen, die sie zur Adoption freigegeben hatten? Mich bewunderte sie irgendwie, suchte zum Spielen immer meine Nähe. Sie hatte auch sonst niemanden. So bildeten wir eine Art Interessengemeinschaft, weil ich mich bei Oma immer von meinem Alltag erholte, und Uschi mit mir vieles anstellen konnte, während sie sich ansonsten meistens langweilte. Die Initiative für Spiele oder Unfug aller Art ging aber traditionell von mir aus, sie war mehr eine Art Mitläuferin. Mir war das recht, so kam sie mir auch nicht in die Quere, wenn ich etwas Bestimmtes vorhatte.

Als wir eines Tages beide die Nase von unseren Elternhäusern gründlich voll hatten, beschlossen wir, abzuhauen. Wir fingen an, Töpfe, Messer und ein Zelt zu organisieren, um uns auf die große Wanderschaft zu begeben. Das alles horteten wir zunächst in der Holzlege, um nicht aufzufliegen. Dann ging es los. Wir hängten uns die benötigten Gegenstände über die Schultern und schlichen uns aus dem hinteren Gartentürchen. Mein Masterplan sah vor, dass wir zunächst auf den Exerzierplatz flüchteten, um von dort aus die Welt zu erobern. Ich war vielleicht zwölf, Uschi demzufolge so um die neun Jahre alt.

Barfuß wanderten wir also über das Brachland, über das im zweiten Weltkrieg Soldaten marschiert waren. Wir fühlten uns frei und zu allem fähig, dachten mit einem wohligen Schaudern daran, wie dumm wohl alle gucken würden, wenn sie merkten, dass wir weg sind. Aber die Freude währte nicht lange – Uschi musste unbedingt auf eine Silberdistel treten, was eine Umkehr unter großem Gejammer und anschließend einen PinzettenEinsatz an der Fußsohle notwendig machte. Unsere Hinterteile glühten am Abend, denn unsere Absicht war den Erwachsenen leider nicht verborgen geblieben. Aber eines Tages, eines Tages würden wir wieder durchbrennen. Diesmal mit Schuhen.

Mit dieser Uschi also habe ich also beschlossen, dass wir doch schon recht alt sind. Ich fünfzehn, sie zwölf. Da muss man doch zumindest einmal das Rauchen ausprobiert haben, sonst ist man langweilig und völlig ahnungslos. Die anderen geben ständig damit an und verachten jeden, der nicht zumindest mal so einen Glimmstängel in der Hand gehabt hat. Leider raucht keiner der Erwachsenen in unserer Umgebung, so dass man vielleicht einmal so ein Teil entwenden könnte, um es auszuprobieren. Kein Wunder, die sind ja alle Langweiler, müssen uns selber Zigaretten besorgen. Bloß ist das nicht so einfach, im Edeka-Laden am Exerzierplatz kennt man uns und vor allem die Oma. Was, wenn die petzten, was wir eingekauft haben? Und dann mein Bruder Peter. Wenn der das mitkriegt ... Also lassen wir uns eine sowas von unauffällige Ausrede einfallen: die Zigaretten seien nämlich für den Papa. Und es müsse unbedingt die neue Sorte sein, die mit dem echten Jeansstoff um die Verpackung. Denn Jeans sind so was von cool, ich ziehe andere Kleidung nur unter Zwang und Protest an.

Wir wandern also unauffällig guckend in den Markt, holen die begehrten Stinkestäbchen und versuchen harmlos auszusehen, obwohl wir Blut und Wasser schwitzen. Zu unserem Erstaunen kratzt es die Kassiererin überhaupt nicht, was wir da unter heftigen Beteuerungen, dass die Zigaretten ja nur im Auftrag des Vaters gekauft würden, besorgen. Oder, oh je: tut die nur so unbeteiligt, weil sie es am Nachmittag der Oma stecken will? Uns ist mulmig, doch gleichzeitig fühlen wir uns wie nach einer Großtat. Ach, sind wir toll. Haben Zigaretten in der Hosentasche.

Und nun? Jetzt müssen wir die irgendwie rauchen, nur herumtragen reicht ja nicht. Auf dem Exerzierplatz? Zu auffällig, da ist man weithin sichtbar. Wir verbringen Stunden damit, nach geeigneten Örtlichkeiten zu suchen und die Ideen gleich wieder zu verwerfen. Irgendein Haken ist immer dabei, der nach aufkeimendem Ärger riecht. Schließlich finden wir eine prima Lösung: wir gehen zum Mistelbach runter, der hinter dem Stadtfriedhof durchfließt. Dort ist kein Mensch, und zum Friedhof hin ist eine hohe Mauer. Wenn die Hände dann nach Rauch riechen, kann man sie gleich im Bach abwaschen. Genial! Was sind wir doch erwachsen. Früher haben wir hier Wasserschnecken für Papas Aquarium gesammelt, und jetzt wird sich hier gewissermaßen das Tor zur Erwachsenenwelt öffnen. Denn wenn man schon mal geraucht hat, dann ist man kein Kind mehr.

Verschwörerisch tigern wir also hinunter zu besagtem Bach, mit Feuerzeug und Zigaretten bewaffnet. Vorsichtig gucken wir uns um, ob wirklich keine feindliche Bekannte der Oma oder sonst wer unser hoch verbotenes Treiben beobachtet. Wir fühlen uns einigermaßen sicher und sind total aufgeregt. Wer zündet das Teil nun an? Ich muss, weil ich die Ältere bin und bestimmt mehr Ahnung habe. Na, klar doch. Mache ich.

Ich tue, als hätte ich das schon oft getan, fühle mich cool. Jedenfalls bis zum Hustenanfall. Uschi vergeht schnell das Lachen, denn ihrer ist gleich noch heftiger. Es schmeckt scheußlich, warum rauchen die Leute eigentlich? Aber das ist egal, es ist cool, und verboten. Das ist, was zählt.

Scheiße, da vorn kommt jemand mit dem Hund. Was sollen wir jetzt bloß machen? Kennen wir die nicht, oder schlimmer noch, die uns? Wohnt die in der Birken? Wir halten die Zigaretten hinter unseren Rücken und grinsen brav. Wird bestimmt nicht auffallen. Nicht eine von uns denkt daran, dass der Rauch hinter dem Rücken schön senkrecht in die Höhe steigt. Sie geht vorbei. Dann eine Woche bangen, ob die nicht doch was gesehen hat. Uns verlässt der Mut, und so beenden wir dieses erste Experiment. Sorgfältig werden die Hände gewaschen, als müssten wir das Blut von einem eben begangenen Mord abwaschen.

Jetzt gilt es, ein Plänchen für künftige Untaten dieser Art zu schmieden. Soll heißen: eine von uns muss die verbotenen Objekte jetzt mit nach Hause nehmen und dort so lange aufbewahren, bis wir wieder Gelegenheit bekommen, eine anzuzünden. Ich? Nein, diesmal nicht. Doch auch Uschi weigert sich beharrlich, wird glatt weinerlich. Ist halt doch noch zu klein für so was, stelle ich mit Verachtung fest. Aber ich will sie auch nicht mitnehmen ... tue es anschließend doch. Die waren teuer, und wegwerfen wäre feige. Wenn meine Mutter das mitkriegt, bin ich eben geliefert. Aber sowas von. Muss ich mich eben opfern.

Auf dem Heimweg denke ich nach, dass der Kopf raucht. Wo verstecke ich die nun eher lästig gewordenen Beweismittel? Ich komme schließlich auf einen Ort, den garantiert keiner finden wird. Auch wenn meine Mutter detektivische Fähigkeiten besitzt, die den KGB, die Stasi oder Sherlock Holmes neidisch machen würden.

Meine Mutter hasst Brettspiele. Was also liegt näher, als die Zigaretten mitsamt ihrer hübschen Verpackung unter den Plastikeinsatz eines solchen in der Pappschachtel zu deponieren? Da wird sie niemals hinfassen. In einem unbeobachteten Moment schreite ich zur Tat, fühle mich erleichtert. Aber nur kurz. Denn Mama muss dringend in meinem Zimmer Staub saugen. Genau vor meiner Spielesammlung. Ich beobachte es voller Sorge aus dem Augenwinkel, während ich meine Schallplatten sortiere. Scheinbar. Mama bleibt stehen, schaltet den Staubsauger aus und schnuppert. Hier rieche es so seltsam, sie könne momentan nur nicht genau sagen, wonach. Irgendwie verbrannt.

In meinem Kopf schrillen sämtliche Alarmglocken, als sie kopfschüttelnd hinausgeht. Nein, die Beweismittel müssen weg. Dringend. In Panik schildere ich am Wochenende Uschi meine Erlebnisse, die sich jedoch nach wie vor weigert, die Glimmstängel an sich zu nehmen. Die Lust auf Rauchen ist uns ebenfalls vergangen, und das gründlich. Aber wegwerfen ... nein, kommt nicht in Frage. Schließlich kommt unser Verbrecherhirn auf einen absolut genialen Gedanken. Vergraben, das ist das Beste. Und zwar in Omas Schrebergarten. Natürlich nicht gerade da, wo sie ihre Rüben anpflanzt, da würden sie beim Umgraben gefunden. Nein, genau neben dem Granitpfosten, an dem das Gartentürchen hängt. Wir entwenden ein Einmachglas, umwickeln die wertvollen Objekte der Begierde mit drei Lagen Stoff und verschließen das Ganze hermetisch. Zur Sicherheit stecken wir das Einmachglas noch in eine Plastiktüte, damit der Tabakduft nicht etwa durch das Erdreich dringt. Denn auch Oma hat detektivische Fähigkeiten. Und dereinst in ein paar tausend Jahren wird ein Archäologe unser Einmachglas finden und sich fragen, welchen seltsamen Kult das damals hier lebende Urzeitvolk wohl begangen haben mag. Vergraben von Räucherwerk zu Ehren längst vergessener Götter. Uschi und ich beschließen, das mit dem Erwachsenwerden noch ein wenig aufzuschieben. Wenigstens das Rauchen. Stattdessen werden wir unsere Energie in das Sammeln von Schallplatten stecken, die die Erwachsenen mit der wüsten Musik in den Wahnsinn treiben. Das macht schließlich auch Spaß.

* * *

Meine schlagartig beendete verwandtschaftliche Beziehung zur Uschi, oder was die Leute nun von uns denken konnten, war nur ein Nebenkriegsschauplatz. Hauptsächlich hatte Attila nun mit der Scheidung und deren Folgen selbst zu kämpfen. Ich half ihm mit Informationen und zusätzlichen Überlegungen, so gut ich konnte. Wir führten gute Gespräche über leider notwendige Strategien, unsere Hoffnungen und Träume und schmiedeten Pläne für unsere eigene Zukunft. Als nächstes wollten wir zusammen leben, weil wir die räumliche Trennung aufheben mussten, in die wir spätestens nachts gerieten.

Also zog Attila eines Tages mit dem Notwendigsten seiner Sachen einschließlich seiner Tochter Solveig zu uns in die Eubener Straße. Das war mehr provisorisch, weil das kleine Reihenhäuschen eigentlich nicht Platz für vier Kinder und zwei Erwachsene bot. So hatten wir ein Matratzenlager im Keller für uns selbst eingerichtet, damit Solveig ein eigenes Zimmer beziehen konnte. Auch wenn wir nur einen feuchten Kellerraum bewohnten, wir waren überglücklich, endlich zusammen einschlafen zu dürfen. Was regelmäßig erst weit nach Mitternacht geschah, weil wir in keiner Hinsicht genug voneinander bekommen konnten.

 

Sowohl Attila als auch ich waren regelrecht erstaunt, was man in einer Beziehung alles haben und verwirklichen konnte. Beide hatten wir immer Kompromisse eingehen und Abstriche machen müssen, was unsere persönlichen Wünsche und Pläne anging. Jetzt endlich konnten wir diejenigen sein, die wir eben sind, und keiner verwehrte es uns. Bei Attila waren es sogar eigentlich selbstverständliche Dinge, die er bisher vermissen musste. Er durfte ja bei Uschi nicht einmal im Ehebett schlafen oder in der Wohnung barfuß laufen. Nur zahlen, das durfte er immer. Für das Geld vorher arbeiten jedoch schon wieder nicht.

Kurzum – wir beide waren glücklich. An einem Wochenende holten wir die Möbel aus Attilas »Fluchtwohnung« in Schwindegg bei München und hatten dann sogar ein richtiges Bett im Keller stehen. Welch Luxus. Er war endlich ein Mann, den ich lieben und respektieren konnte. Und auch bewundern. Alles andere war unwichtig, wir wollten eine gemeinsame Zukunft mit den Kindern haben, die uns eben nach dem Scheidungsverfahren noch bleiben würden. Uschi konnte uns das natürlich nicht gönnen. Sie verspritzte per SMS ständig Gift und ließ in ihren Anwaltsschreiben keinen Zweifel daran, dass sie nur ein Ziel verfolgte: hohe Unterhaltszahlungen, damit sie nicht arbeiten gehen muss, und um Attila und mich fertig zu machen. Anstatt sich auf ihre eigene Zukunft zu konzentrieren, kümmerte sie sich ausschließlich um diese Ziele. So versuchte sie ständig, den Termin für das Ende des Trennungsjahres hinauszuschieben. Sie hätte sich angeblich zwischendurch immer wieder mit Attila versöhnt. Von Anfang an fielen mir ungute Charakterzüge und Gewohnheiten bei Solveig auf. Attila hingegen ignorierte diese, weil er seine Tochter liebte und heilfroh war, sie vor Uschis Einfluss gerettet zu haben. Zuletzt hatte diese ihr ein Buch nachgeworfen, als sie geäußert hatte, zu Papa ziehen zu wollen. Attila wünschte sich eine harmonische neue Familie und nahm Solveigs Eskapaden daher weder ernst, noch steuerte er sonderlich gegen. Er akzeptierte eigentlich ungefragt alle fadenscheinigen Beteuerungen und Entschuldigungen, die sie ihm auf raffinierteste Weise unterschob. Mir war klar, dass ich als Eindringling in die Vater-TochterBeziehung erst einmal alles so schlucken musste, auch wenn es negative Auswirkungen auf die restliche Familie hatte. Solveig musste sich ja erst eingewöhnen, außerdem wollte ich die Tatsache nicht gefährden, dass sie beim Vater leben wollte und dieser glücklich darüber war. Und ich wollte meinerseits das vordergründig gute Verhältnis zu ihr nicht trüben, denn an mich sollte sie sich natürlich im Laufe der Zeit auch gewöhnen, damit ich irgendwann zu einer vollwertigen Ersatzmama werden könnte.

Meine Kinder mochten Attila und auch Solveig, die sie ja bereits kannten, man war ja irgendwie verwandt. Nur Ann hielt sich vornehm im Hintergrund, traute dem Frieden nicht.

Zusammen mit Axel bildete Soli, wie sie sich selbst nannte, ein Chaos-Team, bei dem man vor nichts sicher war. Aber die beiden hatten meist Spaß, wenn sie nicht gerade stritten. Die frisch gebackenen Pyro-Geschwister, bewaffnet mit Chemiekasten, Chips und Süßigkeiten, die sich fast jeden Abend mit selbst gebastelten Wasserbomben bewarfen und die bunten Ballonfetzen zum Leidwesen der Nachbarn auf dem Gehweg liegen ließen.

Dann benahm sich Axel von einen Tag auf den anderen merkwürdig. Plötzlich ärgerte er uns absichtlich, sein ADHS schien schlimmer als je zuvor zu werden. Er bekam eine Dosisanpassung verschrieben, da diese nach Ansicht des Arztes im Vergleich zum Körpergewicht zu niedrig war. Aber das Verhalten wurde nicht besser.

Eines Abends bügelte ich im Keller und Axel drückte sich währenddessen ständig um mich und das Bügelbrett herum, wirkte seltsam betreten. Als ich ihn fragte, was denn los sei, wollte er zunächst nicht mit der Sprache rausrücken. Auf mehrmalige Nachfrage erklärte er dann, seine Geschwister hätten es ja so gut im Vergleich zu ihm. Ich dachte, er fühle sich vielleicht benachteiligt, wegen der neu aufgetretenen Konkurrenz in Form von Solveig, welche im Gegensatz zu ihm auch einen Fernseher im Zimmer hatte. Aber nein, das sei es nicht. Nach einer Viertelstunde sagte er dann schließlich, dass der Papa der Meinung sei, er müsse zwingend zu ihm ziehen. Vor allem wegen der Mathenoten. Früher sei das mehr ein Wunsch des Vaters gewesen, jetzt habe er dies als »zwingende Notwendigkeit« deklariert. Er wolle aber nicht umziehen, sondern bei uns bleiben.

Ich war schon etwas traurig, zumal Theo mit mir noch nicht darüber gesprochen hatte und hoffte, es sei anders und Axel habe es falsch verstanden. Andererseits wusste ich, dass der Umbau in Theos und Sisis Haus der Fertigstellung entgegen ging und so genügend Platz vorhanden wäre, um auch meinen Sohn zu beherbergen. Attila meinte, Axel habe durch sein unmögliches Verhalten in der letzten Zeit einen Rauswurf geradezu provozieren wollen, damit er nicht in die Zwickmühle gerate, mir erklären zu müssen, dass er weggehe. Dies klang plausibel. Leider.

Theo nahm aber keinen Kontakt zu mir auf. Ich schöpfte Hoffnung und wollte glauben, dass die Geschichte doch im Sande verlaufen werde. Aber ich wollte auch sichergehen und schrieb ihm eine Mail des Inhalts, dass er, wenn Axel zwölf werde, den Unterhalt bitte anpassen möge und zu diesem Zweck seine Unterlagen beim Jugendamt vorbei bringen solle, da ich mit den Kollegen über das Prozedere schon gesprochen hätte. Aber keine Reaktion seitens Theos, außer Vorwürfen, warum ich ihn damit belästige. In Gelddingen war er schon immer empfindlich. Er würde das schon von sich aus machen. Da konnte ich nicht mehr anders und konfrontierte ihn mit Axels Geschichte. Und siehe da – sie stimmte! Nicht nur das, Theo wollte das Zeugnis abwarten und mir das dann quasi als Beweis meines Versagens bei der schulischen Überwachung präsentieren. Ein gutes Zeugnis, wohlgemerkt, nur in Mathe konnte er eben keine großen Lorbeeren ernten. Mein Erbgut. Dann beabsichtigte Theo, mir den Umzug als notwendiges Mittel zu präsentieren, um die Mathenote zu verbessern.

Ich war schockiert. Wieder ein Kind, das mich verlassen sollte. Ich wollte Axel ziehen lassen, um ihn nicht einem Gezerre und den gegenseitigen Beeinflussungen aussetzen zu müssen. Schließlich kam auch Ann damals zurück, nachdem sie gemerkt hatte, dass ihr Vater doch nicht das war, was er ihr vorgespielt hatte. Auf Nachfrage wurde klar, dass Axel selber nicht wusste, wohin er wollte. Weiterhin benahm er sich wegen seines seelischen Konflikts total daneben, allerdings auch am Wochenende bei Theo, wo er absichtlich Traubensaft ins Bett schüttete.

Allmählich ging das alles an die Grenzen der Erträglichkeit, und ich wollte lieber gleich Nägel mit Köpfen machen. Es war ohnehin unausweichlich. So setzte ich Axel ins Auto und lieferte ihn in Bindlach ab, bat Theo, seine gesamten Sachen bei mir zu holen. Heulend verpackte ich alles und betrat das Zimmer nicht mehr, um den Kartonstapel nicht ansehen zu müssen. Selbst die eher hartgesottene Solveig heulte.

Axel war weg, und ich hatte verfügt, dass er mich in der ersten Zeit auch nicht besuchen solle, bis sich die Wogen wieder etwas geglättet hätten. Zu seinem und meinem Schutz.

Indes ging der Scheidungskrieg von Attila und Uschi unvermindert weiter, die Bandagen wurden immer härter. Es bestanden völlig gegensätzliche Auffassungen zur Höhe des Unterhalts, über den Trennungszeitpunkt und über die Erziehung der Kinder. Fast jeden Tag flatterten neue Anwaltsschreiben ins Haus, auf die wir reagieren mussten. Ja, WIR, weil Attila immer großen Wert auf meine Sichtweise legte, auch wenn sie praktisch nie von der seinen abwich. Und jeden Tag mussten wir dadurch auch mit einer veränderten Situation leben, weil sich das alles auch auf unsere Nerven, Finanzen – sprich, auf unsere eigene gemeinsame Zukunft auswirken konnte. Es wurde deutlich, dass Uschi nur eines wollte: die totale Vernichtung von Attila, und am besten zuvor noch die totale Vernichtung unserer Beziehung.

Damit nicht genug, ergaben sich ständig Schwierigkeiten mit Solveig. Ich kann die einzelnen Ereignisse gar nicht alle beschreiben, es waren einfach zu viele. Es wurde immer deutlicher, dass diese über ein überzogenes Selbstbewusstsein verfügte, über eine nicht altersangemessene Raffinesse sowie über einen für mich recht fragwürdigen Charakter, was die Hemmschwelle für Lügen und Austricksen anging. Sie manipulierte ihren Vater in einer Weise, die mir schon fast Hochachtung abnötigte. Und Attila merkte es nicht, oder wollte es nicht wahrhaben, um seine Beziehung zu ihr nicht zu belasten. Ich gab ihm vorsichtige Hinweise, die er zunächst verärgert abtun wollte. Irgendwann konnte ich nicht mehr. Ich zog mich jedes Mal, wenn ich merkte, dass Solveig ihren Vater regelrecht verarschte, zurück. Wenigstens nicht mitbekommen wollte ich es, weil ich sonst nicht mehr mit Solveig zurecht gekommen wäre. Auch nicht vordergründig.

Bei mir war sie vorsichtiger. Wir unternahmen gemeinsam Schwimmbadbesuche, Shoppingtouren und gingen zum Frisör. Ab und an bekam sie auch Kleinigkeiten beim Einkaufen, worüber sie sich sichtlich freute. Wie überhaupt über alles, was mit Konsum und Event zu tun hatte. Sie umarmte mich manchmal. Wir übten zusammen Deutsch, und ich versuchte, das kurzweilig zu gestalten. Und doch merkte ich, dass ihr Verhalten mir gegenüber nur geschauspielert war. In Wirklichkeit konnte ich an ihrem Gesicht ablesen, dass sie zutiefst eifersüchtig auf mich war, vielleicht hasste sie mich auch richtig. Ich stand ihr bei Papa im Weg, obwohl ich peinlich darauf achtete, dass ich in ihrer Gegenwart nicht an ihm klebte oder ihr die Aufmerksamkeit stahl. Brachte ihr das Lieblingsessen mit. Kritik übte ich fast keine an ihr, sagte ihr nur gelegentlich, sie solle doch mal das Zimmer aufräumen. Man konnte nicht einmal den Boden saugen, da dieser komplett mit Kleidung und Müll übersät war. Sie brachte es sogar – in meinen Augen absichtlich – fertig, den Müll rund um den Papierkorb zu verteilen.

Attila übte regelmäßig Mathe mit ihr, da das Zeugnis erbracht hatte, dass sich Solveig in der Privat-Schule quasi durchgeschummelt hatte und die Versetzung in die 6. Klasse mehr gnadenhalber erfolgt war. Die Bemerkungen im Zeugnis sprachen eine sehr deutliche Sprache, dass kein Interesse am schulischen Weiterkommen bestand. Fast bei jeder Sitzung brach sie absichtlich auf hysterische Weise einen Streit mit ihrem Vater vom Zaun, der mit Geschrei und Tränen, zum Schluss mit Schuldzuweisungen an Attila endete, er habe sie falsch behandelt. Man konnte darauf warten.

Wenig später schleimte sie Attila derart ein, dass mir förmlich schlecht wurde. Hinterlistig setzte sie sich dann mit einem Lehrbuch oder dem Matheheft ins Bett und erzählte mit leuchtenden Augen, sie habe jetzt gelernt und sie habe den Papa ja so lieb. Jedes Mal dasselbe Schema, und immer ließ Attila es zu und zeigte ihr nicht, dass er sie durchschaut hätte. Doch hatte er das wirklich? Ich war mir nicht sicher. Auch Ann bemerkte die Vorgänge und war entsetzt, was Solveig sich alles erlauben konnte und dass sie auch noch gelobt wurde und stundenlang fernsehen durfte.

Attila hatte mit seiner Tochter vereinbart, dass sie die Aufnahmeprüfung für die Realschule machen solle, und dann zum neuen Schuljahr dorthin überwechseln. Sie tat, als sei sie begeistert, um sich bei Papa lieb Kind zu machen. Nach etlichen, meist missglückten Mathestunden »gestand« sie ihm dann, sie habe alles absichtlich boykottiert, weil sie ja so darunter leiden müsse, auf die Schnelle alle Freunde in der alten Schule zu verlieren. Papa war gerührt und versprach ihr, sie könne ein weiteres Jahr auf der Privat-Schule bleiben und dann von der 6. in die 6. Klasse wechseln, allerdings müssten dann alle Rückstände in Deutsch und Mathe weiterhin aufgeholt werden.

Ich konnte es nicht fassen, sie hatte es wieder geschafft, ihn zu manipulieren und sich heraus zu winden. Das funktionierte selbst bei solch weitreichenden Entscheidungen ihres Vaters, wie der Schulwahl. Mir war klar, dass sie nicht ansatzweise beabsichtigte, sich jetzt anzustrengen, um auf die Realschule zu können. Ich teilte es Attila mit, doch er tat meine Bedenken ab und war mit seiner Entscheidung zufrieden. Es sei doch so nett von ihr, dass sie ihm den Grund für den Boykott genannt habe. Er könne es verstehen, Freunde verlieren sei schlimm. Für mich jedoch war in diesem Moment eine ganze Menge anderer Dinge schlimm.

2009 – Kleines Mädchen, großer Ärger

 

Der Tag war anstrengend. Ich war Arbeiten, habe das Haus auf Vordermann gebracht und mich um das Essen gekümmert. Die Nächte verbringen wir seit einigen Wochen im Keller, der einmal als Hobbyraum angedacht war. Auch wenn dort Rohre die Decken zieren und uns eine unverputzte Kalksandsteinmauer umgibt, so haben wir es doch geschafft, ein einigermaßen wohnliches Ambiente zu schaffen. Mit Hilfe von Wandteppichen, viel Stoff und orientalischen Laternen hat der Raum nun fast schon die Atmosphäre einer gemütlichen Lasterhöhle.

Das ehemalige Schlafzimmer im ersten Stock bewohnt jetzt Attilas Tochter Solveig, die es innerhalb einer bewundernswürdig kurzen Zeit geschafft hat, dieses in eine Müllhalde zu verwandeln. Fast so gut wie meine Tochter Ann es mit ihrem Zimmer kann. Ich habe Solveig einen Papierkorb hineingestellt, doch die Abfälle wirft sie mit Genuss und Absicht genau drumherum. Sie lackiert mit ihren zwölf Jahren alle zwei Stunden die Fingernägel neu und drapiert anschließend die benutzten Wattebäuschchen in ihrem, nein, meinem bisherigen Bett. Komme ich an ihrem Zimmer vorbei, registriert sie mich im Höchstfall aus dem Augenwinkel. Eigentlich verstehe ich es nicht. Ich tue, was ich kann, um die Tochter meines Geliebten zufrieden zu stellen und ihr außerdem so etwas wie eine Freundin zu sein, denn die Mutter werde ich ihr niemals ersetzen können. Sage ihr freundlich »Guten Morgen«, was sie geflissentlich ignoriert. Kaufe ihr Lieblingsessen ein. Gehe mit ihr ins Schwimmbad, obwohl ich hierzu eigentlich gar keine Zeit habe. Bekomme Ärger mit meinen eigenen Kindern, die sich zurückgesetzt fühlen. Mit Recht, denn ich bemühe mich fast schon mehr um Solveig und nehme sie auch viel zu oft in Schutz, wenn ein Schuldiger für Untaten gesucht werden muss. Doch was soll ich tun? Das Mädchen ist verwöhnt, durfte bisher alles, weil ihr Vater ununterbrochen arbeiten musste und der Mutter alles egal war, außer ihr Fernseher und ihre Telefonate mit Freundinnen. Hatte Attila Zeit für sie, so war sie sein erklärter Liebling, und sie wurde fast wie eine Erwachsene behandelt. Sie durfte Attila schon seit Jahren auf Konzerte begleiten, war neu eingekleidet worden und wurde behandelt wie ein rohes Ei.

Ich kann Attila verstehen. Solveig ist derart raffiniert für ihr Alter, dass sie auf der Stelle checkt, wie sie ihren Vater am besten im Griff hat. Nämlich mit der ständig wie ein Damoklesschwert über ihm schwebenden Gefahr, sie könne zurück zur Mutter gehen. Das drückt sie ihm so auch immer rein, wenn ihr gerade etwas nicht passt.

Dieses Mädchen ist außerdem eine Meisterin der Schauspielkunst. Sie will nicht in die Schule? Das gibt dann eine meisterliche Vorstellung des sterbenden Schwans, die ihren Vater in die nächste Apotheke treibt und ihn veranlasst, sie rührend in dicke Pullis zu hüllen und zu bemitleiden. Er übersieht hierbei dieses listige Blitzen in den Augen und das hauchdünne Lächeln in den Mundwinkeln, das sie nicht vermeiden kann, wenn er ihr den Rücken zudreht. Doch ich, ich nehme es wahr. Und sie weiß das, genießt es, dass ich nichts sagen kann. Nicht, ohne Ärger mit ihm zu bekommen.

Hinzu kommt, dass sie außergewöhnlich hübsch ist. Sie hat ein ebenmäßiges Engelsgesicht mit leicht schräg stehenden Augen, die sie eindeutig von ihrem Papa geerbt hat. Und genau diesen Umstand weiß sie einzusetzen, wie es normalerweise nur erwachsene Frauen beherrschen. Attila ist gewissermaßen Wachs in ihren Händen und lässt sie auch dann gewähren, wenn er zwischendurch einmal merkt, dass sie mit Absicht nervt. Übt er doch einmal Kritik, dann lässt sie einen theatralischen Ausbruch vom Stapel, der seinesgleichen sucht. Meine Tochter Ann ist stinksauer, sie kann das Theater fast nicht mehr mit ansehen. Aber was ich hier stattdessen tun soll, das weiß sie auch nicht. Sie zieht sich in ihr Zimmer zurück und hält sich von Solveig so fern wie möglich, kommt teilweise nicht einmal zum Essen herunter.

Gestern Abend wäre ich fast wieder explodiert. Das kleine Weibsstück hatte den ganzen Nachmittag Fernsehen geglotzt, obwohl ich ihr sagte, dass Gerichtsshows nichts für ihr Alter seien und ihr Vater hierüber sicher nicht erbaut wäre. Sie warf die Türe zu. Kurz darauf kam Attila nach Hause. Kaum hatte sie unten die Eingangstüre gehört, schaltete sie blitzschnell den Fernseher aus, holte ihr Mathebuch vom Nachttisch und begrüßte ihren Papa überschwänglich. Sie habe den ganzen Nachmittag gelernt, ob das denn brav sei? Was ihr Attila natürlich bestätigte, er wusste ja nichts von ihren tatsächlichen Aktivitäten.

Vorsichtig wollte ich ihn am Abend aufklären, weil ich nicht einsah, dass er sich derart veräppeln lassen sollte. Aber ich kam erst einmal gar nicht dazu, weil Solveig mehrmals gezielt wieder aus dem Bett kam, jedes Mal unter einem anderen Vorwand. Als ich meine Geschichte dann endlich anbringen konnte, nahm Attila seine Tochter in Schutz und ließ keine Kritik zu. Ich brauchte gar nicht erst versuchen, ihn noch über andere Wahrnehmungen aufzuklären. Wie zum Beispiel, dass Solveig unsere Gespräche regelmäßig belauschte und heimlich mit ihrer Mutter telefonierte. Er hätte es nicht glauben wollen. Traurig lag ich neben ihm im Bett und fühlte mich hilflos.

Und heute? Heute könnte ich ihr, ehrlich gesagt, Eine schmieren. Nach einigen Wochen Theater bin ich an einem Punkt, an dem ich nahezu nicht mehr kann. Auch, wenn ich noch soviel Verständnis für sie und Attila habe und wegen meiner Liebe zu ihm alles in Kauf nehmen werde.

Ich liege in meinem Bett und fühle mich fast noch hilfloser als gestern. So kann das nicht weitergehen. Solveig hat mich wieder absichtlich geärgert, den ganzen Nachmittag lang. Attila war in Neuenstein bei einem Kunden, und ich war am Abend wieder einmal ziemlich fertig. Als Solveig meinte, sie sei jetzt müde und gehe zu Bett, war ich richtig erleichtert. Ich wollte mich nur noch hinsetzen, eine Verzweiflungszigarette rauchen und mich wenigstens auf den Abschluss des Tages freuen, den ich mit Attila würde verbringen dürfen. So setzte ich mich auf das Bänkchen vor dem Haus und wollte da auf meinen Schatz warten.

Natürlich kam Solveig gleich nach zehn Minuten wieder. Ob denn der Papa schon da sei? Ich verneinte und versprach ihr quasi mit letzter Kraft, dass ich ihm Bescheid geben werde, dass er noch in ihr Zimmer sehe, um ihr Gute Nacht zu sagen. Falls sie noch wach sei. Sie trollte sich. Aber leider nur, um ihren Ball zu holen. Sie begann damit, diesen nachts um 22 Uhr lautstark gegen Hauswände zu pfeffern und einen Heidenlärm zu veranstalten. Ich untersagte ihr das, wohnten wir doch in einer Reihenhaussiedlung, wo das garantiert zu Ärger führen würde. Beleidigt verschwand sie im Hausflur. Mittlerweile wollte ich nicht einmal mehr eine Beruhigungszigarette, denn die würde nicht mehr wirken. In etwas härterem Ton bedeutete ich ihr nun, auf der Stelle ins Bett zu gehen, denn morgen sei Schule. Sie schmollte und bedachte mich mit eisigen, irgendwie recht hinterlistigen Blicken.

Als sie wieder im Haus verschwand, dachte ich, ich hätte wenigstens jetzt für Ordnung gesorgt und sie mir auch endlich vom Halse geschafft. Für diesen Tag konnte ich sie nicht mehr sehen, sie ging mir schrecklich auf die Nerven. Ich hatte ja auch nicht nur sie, sondern noch drei eifersüchtige eigene Kinder zu betreuen.