Scheidung kann tödlich sein

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Schließlich müssen wir es einsehen: mit diesem Auto werden wir jetzt, nachts um 1 Uhr, wohl nicht nach Hause fahren. Es ist Brainstorming angesagt. Keiner hat mehr nennenswerte Geldbeträge einstecken, keiner kann eine Abholung organisieren. Zimmer mieten ist nicht. Im Auto schlafen auch nicht, erstens vollgestopft und zweitens saukalt. Ich kann nicht daheim anrufen, weil ein Herzkasper meiner Mutter unter Garantie die Folge wäre. Was also tun? Die dickeren Jungs stecken die Kälte eindeutig leichter weg, und so ziehen sie erst einmal einen vorbereiteten Joint, der eigentlich für die Konzertbesprechung bestimmt war, aus dem Handschuhfach. Gisa und ich genießen es ausnahmsweise, zwischen Stephan und Sigi eingekeilt zu sein. Die sind wenigstens eine gute Kältedämmung. Mitrauchen wollen wir aber nicht, die Stimmung ist uns verhagelt. Ganz besonders mir, denn morgen um 10 Uhr ist meine theoretische Führerscheinprüfung angesagt. Die Vorzeichen für das Bestehen derselben verschlechtern sich nun stündlich, ich bin, gelinde gesagt, recht fertig mit der Welt. Sigi hat der Joint derart selig und wurstig gemacht, dass er beschließt, im Auto zu pennen. Was wir machen, sei ihm Banane. Wir anderen hingegen verlassen fluchend das Gefährt, um eine Polizeistation zu suchen. Wir wollen erstens eine Auskunft bekommen, wo wir kostenlos schlafen könnten, und zweitens die Adresse der ortsansässigen Citroën-Werkstatt. Die gedenken wir am nächsten Morgen aufzusuchen und hoffen, dass die dort die Reparaturen auch ohne Bargeld vornehmen werden, nur nach einem Blick in unsere treuherzigen Augen und der Beteuerung,

dass wir die Rechnung schon bezahlen werden.

Wir haben relatives Glück. Da ist tatsächlich eine Polizeistation, und wir stören die Belegschaft beim abendlichen Smalltalk. Ein Beamter kommt widerwillig an den Tresen und fragt nach einem abschätzenden Blick auf unsere Outfits und die Körperfülle von Stephan, was denn unser Begehr sei. Um diese Zeit. Wir schildern aufgeregt unser Problem, nur um hören zu müssen, dass die Polizei uns da auch nicht helfen könne. Wir sind schon so verzweifelt, dass ich den Polizisten frage, ob wir nicht wenigstens in einer Ausnüchterungszelle übernachten dürfen. Uns sei schon alles egal, nur nicht erfrieren wollen wir. Zu meinem Entsetzen lässt er sich nun darüber aus, dass das etwas koste. 20 D-Mark pro Zelle. Und die haben wir nicht. Meine Güte, warum muss alles so kompliziert sein. Der Bankräuber darf umsonst rein, wir nicht. Armes Deutschland.

Wir diskutieren, ob wir jetzt da vorne bei der Bankfiliale einen Überfall machen sollen, um kostenlos in die Zelle zu dürfen. Da erbarmt sich Unser ein anderer Polizist, der soeben durch Schichtwechsel seinen Dienst antritt und etwas freundlicher ist. Ja, gegen die Preise könne er auch nichts machen. Aber er könne wenigstens anbieten, dass wir im Wartebereich auf den Stühlen auf den Morgen warten dürfen. Da sei es nicht so kalt wie draußen. Die Freude hierüber währt nur kurz, denn die Stühle sind aus Holz und somit Garanten für Bandscheibenschäden. Jede andere Stellung des Rückens als die kerzengerade ist unweigerlich mit Schmerz verbunden. Zudem befindet sich direkt neben dem Wartebereich die Eingangstür, und die geht ständig auf und zu. Jedes Mal erreicht uns ein eiskalter Luftschwall, was sehr unangenehm ist. Nun gut, Sigi hat es im Auto auch nicht besser, da bin ich sicher. Er bestätigt es am nächsten Morgen, liegt mit steifen Gliedern auf der Rückbank. Alle sind wir uns einig, dass dies eindeutig die beschissenste, kälteste und auch längste Nacht unseres Lebens war. Und der lustige Problemreigen ist damit noch nicht beendet, wir sind noch nicht bei der Werkstatt, die hat sich auch noch nicht bereit erklärt, irgendwas mit dem Auto zu tun, und ich bin noch nicht rechtzeitig bei meiner Führerscheinprüfung. Ganz zu schweigen von der zu erwartenden Reaktion meiner Mutter, welche mich wohl ohnehin vierteilen würde. Gut, dann wäre zumindest die Führerscheinprüfung vom Tisch.

Zunächst aber wartet was extrem Unangenehmes. Wir müssen die doofe Karre nach einem neuerlichen Startversuch, der dem Motor nur ein klägliches Ächzen abnötigt, Richtung Werkstatt schieben. Im Berufsverkehr, ohne Handschuhe bei nun immerhin noch minus 19 Grad. Ohne dass die Hände am Blech festfrieren, weswegen wir nun auch noch die dünnen Jeans-Jäckchen ausziehen müssen, um sie um die Hände zu wickeln. Das hat schon etwas von Überlebenstraining.

Moses wird wohl beim Anblick des Heiligen Landes ähnliche Freudenrufe von sich gegeben haben, wie wir beim Anblick einer gammeligen Citroën-Werkstatt, die zum Glück gerade öffnete, als wir völlig erledigt und blau gefroren dort ankommen. Wir sehen wohl so übernächtigt und heruntergekommen aus, dass wir auch einen Stein würden erweichen können. Das Personal jedenfalls hat Riesenmitleid, kredenzt kostenlosen Kaffee und lotst uns in den gut geheizten Verkaufsraum, damit wir auf die Diagnose des Kfz-Meisters warten können. Dieser macht sich sofort an die Fehlersuche.

Nach Stunden taucht er auf, und wir sind beunruhigt, weil er mit einem breiten Grinsen den Verkaufsraum betritt. Muss die Mühle verschrottet werden, wird es ein Vermögen kosten, oder was? Nichts von alledem. Meister Fischer muss mühsam einen Lachanfall unterdrücken, als er uns die Ursache für das Streiken des Fahrzeuges erklärt. Und selbst wir können es nicht fassen und lachen uns halb tot, teils aus Verzweiflung, teils aus Erleichterung. Nein, kosten wird das Ganze uns gar nichts. Stephan hat wohl gestern Abend beim Einparken mit dem Auspuffrohr in einen Schneehaufen gestochert. Der Schnee sei in diesem geschmolzen, weil der Auspuff noch warm war. Wegen der extremen Minustemperaturen sei er anschließend aber sofort zu einem harten Eis-Pfropfen gefroren – und schon konnte das Auto nicht mehr anspringen. Er lacht immer noch, als er mit seinem Feuerzeug demonstriert, wie er das Problem sodann gelöst hatte. Und wie wir es selber binnen Sekunden hätten lösen können, falls wir auf diese Ursache gekommen wären.

Wir fahren im stark beheizten Fahrzeug auf dem kürzesten Wege nach Hause. Alle anderen werden nun zu Hause in ihr Bett gehen und versuchen, die Nacht einfach aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Doch mir steht noch die unheimliche Begegnung der dritten Art mit meiner Mutter bevor ... diese ist erwartungsgemäß nicht sehr erbaut, packt mich an den langen Haaren und schleudert mich erst einmal gegen den Türstock, bevor sie ihren Redeschwall loswird. Keine Ahnung, über welches Thema, denn ich bin mit dem Hirn schon bei der Führerscheinprüfung, welche in einer Viertelstunde stattfinden wird. Kaum hat Mama von mir abgelassen, stürze ich einen viel zu heißen Kaffee hinunter, gefolgt von einem Cognac. Noch bevor Mama auch hierüber mosern kann, bin ich schon weg. Und ich bin stolz darauf berichten zu können, dass ich die Führerscheinprüfung wenig später mit null Fehlern bestehe. Da sage noch einer, der Mensch hält nichts aus.

* * *

Was habe ich durchgeatmet, als ich 1984 endlich meine erste eigene Wohnung bezog. Ich durfte denken und meinen Tag gestalten, wie ich wollte. Hier folgte die einzig längere, als glücklich zu bezeichnende Zeit. Ich entwickelte ein nie gekanntes Selbstbewusstsein und lernte nach einer dreijährigen Beziehung mit einem Kulmbacher schließlich in einer Diskothek Klaus-Werner kennen. Es war schon abstrus, wie ich schließlich seine Freundin wurde. Sein Kumpel und ich hatten darüber diskutiert, wessen Fahrzeug schneller beschleunigen könne. Ich wusste, dass mein Honda Prelude da nicht schlecht abschnitt, das hatte ich oft genug ausgetestet. Also trafen wir ein Abkommen, das wir witzig fanden: wenn es Micha und Klaus-Werner gelänge, mir mit ihrem BMW zu folgen, so würden sie bei mir noch einen Abschlusskaffee für den Abend bekommen. Sonst müssten sie hierfür an die Tankstelle. Mein Auto enttäuschte nicht, und ich bemerkte mit einem erfreuten Blick in den Rückspiegel, dass der Abstand zum BMW immer größer wurde. Noch ein paar Mal abbiegen, und ich hätte die beiden abgehängt. Denn eigentlich hatte ich gar keine Lust mehr, noch ein Kaffeetrinken zu veranstalten, es war inzwischen 2 Uhr morgens. Doch dann beging ich einen Fehler, oder besser gesagt, war ich an einer Kreuzung zu langsam, an der oft Krankenwagen für das nahe Krankenhaus darüber donnerten. Ich wollte nicht unbedingt mit einem solchen kollidieren. Michael hatte mich eingeholt, und breit grinsend stiegen er und Klaus-Werner bei mir vor dem Haus aus dem Auto.

Morgens um 6 Uhr fuhren sie dann nach Hause. Ich hatte noch volle zwei Kannen Kaffee kochen müssen und war nun nach stundenlanger Konversation recht erledigt. Leider hatte ich KlausWerner versprochen, mit ihm am Nachmittag noch einen Kaffee im »Florian« trinken zu gehen. Übernächtigt und mit Augenringen kam ich meinem Versprechen nach. Ich weiß selbst nicht mehr, wie genau es gekommen war, doch tags darauf waren wir zusammen. Nach kurzer Zeit zog ich in sein Elternhaus in Gefrees, in dem uns seine Eltern großzügig mehrere Räume anboten.

Wir hatten beide eine kreative Ader, saßen abends im Wohnzimmer bastelnd und malend beieinander, ich hatte mir außerdem selbst das Nähen von extravaganter Kleidung beigebracht. Jeder von uns gestaltete eine eigene Eisenbahnanlage, und wir überboten uns liebend gerne gegenseitig bei der Detailgestaltung. Hatte er eine Badebucht mit hunderten von Figuren in Bikinis kreiert, so inszenierte ich auf meinem mittelalterlichen Marktplatz eine Mordszene. Das machte echten Spaß. Sich eine Welt nach dem eigenen Willen zu gestalten und zu entscheiden, wo nun Bäume standen, und wo nicht. Wo ein Fluss die Felsen hinunter donnerte, wo Einkaufsarkaden angelegt wurden.

Gerne gingen wir aus, und ich führte meine frisch genähten Modellkleider gleich in einer klassischen Bar vor, die Freunden gehörte. Klaus-Werner pflegte bei solchen Gelegenheiten vor Stolz fast zu platzen, zumal ich als meine eigene lebende Werbung so manchen Auftrag von Damen der besseren Gesellschaft mit nach Hause nahm, die auch ein Seidenkleidchen bestellen wollten.

 

Klaus-Werner war körperlich etwas kleiner als ich, schätzte es aber sehr, wenn ich mit hochhackigen Schuhen herumlief, die natürlich gut zu den Abendkleidchen passten. Er selbst trug immer Stiefeletten mit Absatz, um den Höhenunterschied wenigstens etwas auszugleichen. Allerdings verlieh ihm das ein wenig das Aussehen eines Herrn aus dem Rotlichtmilieu, zusammen mit den Seidenanzügen und seinem Hang zum Pseudo-Luxus, den er mit Goldkettchen und etwas affektiertem Gehabe gerne zur Schau stellte. Für ihn war ich hauptsächlich eine Verzierung, die neben ihm herlief, eine Art lebende Barbiepuppe. Doch glaubte ich, dass er mich auf seine Art und Weise auch liebte. Erst recht, als er mich heiratete und bald mit mir gemeinsam über ein Kind nachdachte, für das es nun langsam an der Zeit wäre. Ich war zu diesem Zeitpunkt auch schon 28 Jahre alt.

Dann kam etwas, was ich nicht für möglich gehalten hätte. Ich dachte doch, wenn man ein gemeinsames Wunschkind bekommt, so macht das die Beziehung noch schöner, auch wenn zunächst Windelwechseln und Geschrei angesagt ist. Wir wohnten ja auch noch mietfrei bei seinen Eltern und hatten keine Geldsorgen bis dato. Aber wie eine Keule traf mich die Erkenntnis, dass ich in keiner Beziehung der üblichen Art gelebt hatte. Wir hatten dieselben Interessen und Hobbys, aber das war anscheinend auch schon alles. Kaum war Ann geboren, war die Beziehung quasi schlagartig tot. Mausetot. Klaus-Werner besuchte mich in den fünf Tagen nach der Geburt nicht einmal im Krankenhaus, er gebrauchte lieber saublöde Ausreden.

So ging es weiter, kein Haushaltsgeld für Windeln, kein Interesse für Ann, dann auch keines mehr für mich. Ich musste finanziell wegen der Verdienstausfälle in der Elternzeit und erst recht in seelischer Hinsicht sehen, wo ich bleibe. Nach vielen vergeblichen Versuchen, die Situation irgendwie zu verbessern, gab ich 1993 auf und zog zurück nach Bayreuth in ein kleines Appartement, überschuldet und ohne meine Tochter. Ich musste ja wieder ganztags arbeiten, ließ sie schweren Herzens bei der Oma und hatte Mühe, das Benzingeld aufzubringen, sie überhaupt am Wochenende holen zu können.

Ansonsten wurde nachts genäht, um die Schulden abzutragen, die mir die Zugewinngemeinschaft bei der Trennung eingebracht hatte. Das Geld steckte in Klaus-Werners Eisenbahnanlage. Während ich mein Bankkonto trotz ebenfalls kostspieliger Hobbys immer in der Balance gehalten hatte, war Klaus-Werner zum Schuldenprinzen geworden, hatte mich hiervon nicht einmal informiert.

Ich lebte von etwa 100 D-Mark im Monat. Dann hatte ich auch noch einen Unfall und zog mir im Knöchel einen Splitterbruch zu, der mich monatelang an Krücken fesselte. Hatte meine Mutter mir in dieser schweren Zeit geholfen, sich überhaupt nur für irgendwelche Gründe interessiert? Nein. Völlige Fehlanzeige. Die war beleidigt, weil ich ihren guten Ruf geschädigt hatte. Ich erdreistete mich schließlich, mich scheiden zu lassen. Ein Kapitalverbrechen. Die Scheidung selber war eine Katastrophe. Ich musste mich beim Richter noch rechtfertigen, dass ich arbeitete, um das Leben zu finanzieren, anstatt mich um meine Tochter zu kümmern. Ich habe sie dann zu mir geholt, als sie endlich im Kindergartenalter war. Nachmittags betreute sie meine Mutter, die mir allerdings zu verstehen gab, ich würde hierdurch ihr Leben zerstören, weil sie ihren Nachmittag nicht mehr frei gestalten konnte. So hatte ich täglich Schuldgefühle, wenn ich Ann nach der Arbeit dort abholte, doch fehlten mir die Alternativen. Nach drei Jahren war die Scheidung endlich durch, aber der Ärger mit Klaus-Werner hat lange Jahre nicht aufgehört.

Zermürbt von alledem wollte ich damals nur noch eines: endlich einen Menschen um mich haben, der mich um meiner selbst willen liebt. Mit dem ich einfach nur leben kann, der meine Tochter mag und uns als Doppelpack akzeptieren würde. Da setzte man mir im Sozialamt einen Kerl mit Pferdeschwanz ins Zimmer, der irgendwie selbst gestrickt aussah und der oft rührend hilflos wirkte. Ach, dachte ich mir, der würde mir bestimmt nichts zuleide tun. Es gab zwar einige unterschiedliche Ansichten und zugegeben – er war auch etwas langsam im Denken und in seinen Handlungen auch nicht sehr entscheidungsfreudig – aber ich glaubte, hiermit leben zu können.

Ich übernahm alles für Theo, was er nicht auf die Reihe brachte. Nach einem halben Jahr mit guten Gesprächen und Freizeitaktivitäten wagten wir den Schritt, uns gemeinsam in einer Wohnung aufzuhalten, entweder in seiner Eigentumswohnung, oder am Wochenende in meiner Mietwohnung in Emtmannsberg. Das ging recht gut, er mochte auch Ann und befasste sich mit ihr. Manch komisch anmutenden Handlungsweisen von ihm schob ich auf die Tatsache, dass er halt lang alleine gewesen sei und sich an eine Familie und alles, was dazugehört, erst gewöhnen müsse. So brauchte er unbedingt ein bis zweimal in der Woche eine »Auszeit« von uns, die er dann alleine in seiner Wohnung verbrachte.

Günther kannte ich damals auch schon, das war ein FußballKumpan von Theo. Ich verstand mich prima mit ihm, machte Fahrradtouren, begeisterte mich wie er für Ägypten und konnte sehr gut über gelegentliche Probleme mit Theo mit ihm reden. Er war mir ein guter Freund geworden, und ich machte im Gegenzug seinen Kummerkasten. Er sah sich immerzu als tragische Figur, wegen seiner Schmerzen und seiner nicht vorhandenen Freundin. Die letzte hatte ihn eiskalt abserviert, ihm nicht einmal die Gründe genannt.

Ich stellte Günther später meiner Cousine Uschi vor, weil er immer hilfsbereit war und auch stets gern neue Leute kennen lernte. Er half dort zunächst den Zaun reparieren und verfrachtete schließlich sein Lager in die Garage, die zum Haus meiner Cousine und deren Ehemann gehörte. Er arbeitete für einen Nahrungsmittel-Konzern und musste als Außendienstvertreter stets Proben und Werbematerial lagern, das er dann in die Supermärkte mitnahm. So brachte er seine Sachen unter, und Uschi hatte ab und an Unterhaltung.

Theo und ich beschlossen eines Tages, dass ein Imperiums-Erbe her müsse. So im Scherz bemerkte er, dass sonst die KurzenmeyerLinie bei ihm enden würde, und wem sollten dann die Häuser seines Vaters vererbt werden? Das war aber eigentlich doch kein Scherz, Theo konnte die Geburt eines Kindes wirklich so sachlich sehen. Also wurde ein Söhnchen geboren, und Theo war anders als Klaus-Werner auch sichtlich stolz darauf und kümmerte sich um den Burschen. Zumal das Babybübchen auch noch haargenau aussah wie er selbst. Zum Verwechseln ähnlich, wenn man ihn mit Papas Kinderfotos verglich.

Bei Axels Taufe lernte ich Attila kennen, den meine Cousine in München geheiratet hatte, und diese beiden hatten ein fast gleichaltriges Baby: Solveig. Stundenlang schob ich mit Uschi den Kinderwagen durch Bayreuth und hörte mir erste Schimpftiraden über ihren Mann und über Exvermieter in Grafing an, von dort waren sie zugezogen. Angeblich war er aggressiv und bekam unangemessene Wutanfälle, wenn sie etwas nicht richtig machte. Ich konnte diese Informationen nicht recht einordnen, so sagte ich nicht viel dazu.

Fast schon dachte ich, jetzt könne für mich alles gut werden. Ich war verheiratet und hatte zwei Kinder, Axel war ein wirklich pflegeleichtes Kerlchen. Meine Finanzen hatten sich inzwischen erholt, die Schulden waren abbezahlt. Aber die Geschichte sollte sich wiederholen. Nur mit dem Unterschied, dass Theo durchaus Interesse für sein eigenes Kind zeigte, dafür aber nach und nach überhaupt nicht mehr für Ann. Die war wegen des ImperiumsErben nun überflüssig. Es wurde nur noch an ihr herumkritisiert, sie konnte Theo nichts recht machen.

Ann ihrerseits wurde immer verschlossener, zog sich zurück und ärgerte ihn manchmal absichtlich, so nach dem Motto »wenigstens negative Aufmerksamkeit«. Sein Verhalten mir gegenüber änderte sich auch ins Negative, wenn nicht gar in Sadismus, außerdem gingen mir seine Langsamkeit, sein stets zögerndes Verhalten und seine Ungleichbehandlung der Kinder immer mehr auf die Nerven. Ich steuerte ständig dagegen, erntete aber nur Unverständnis und Wutausbrüche. Die Kluft zwischen uns wurde immer tiefer, ich saß ja zwischen ihm und meiner Tochter vollkommen zwischen den Stühlen. Kann man jemanden noch wirklich lieben, der die leibliche Tochter hasst?

Es kam, was kommen musste. Ich versuchte ständig, etwas zu verbessern, schon Axel zuliebe. Dazu gehörten auch der Kauf des Reihenhauses und die Eheschließung 1999, weil ich hoffte, dass Theo dann endlich akzeptieren könne, dass wir in der vorliegenden Besetzung zusammengehörten und uns nicht bekämpfen dürften. Gleichzeitig hatte ich das unbestimmte Gefühl, einen Fehler zu machen. Aber ich nahm das in Kauf und dachte mir, dass ich dann eben lebenslänglich für meinen Sohn leiden müsse, wenn das schief ginge. Selbst schuld, ich hätte den Braten eben riechen müssen. Ich saß hinten im Hochzeitsauto und heulte auf dem Weg zum Standesamt. Theo dachte vermutlich, ich täte es aus Rührung oder Sentimentalität und fragte gar nicht danach. Und, oh, Wunder, für ein paar Wochen war nach der Hochzeit die Beziehung tatsächlich etwas besser geworden, bis sich die alten Zustände in den Alltag zurückschlichen.

Ann bekam schließlich eine Neurose in Form einer Zwangskrankheit, mit Anfällen, bei denen sie starr auf dem Boden lag, die Decke anstarrte und nicht mehr ansprechbar war. Das machte eine kinderpsychologische Behandlung notwendig. Zeigte Theo Einsicht, änderte er sein Verhalten? Nein. Im Gegenteil.

Dafür zeigte Klaus-Werner urplötzlich Interesse, das über McDonalds-Besuche und Urlaube mit Ann hinausging. Er war eifrig hinterher, mir klar zu machen, Ann müsse unbedingt zu ihm und seiner neuen Lebensgefährtin ziehen, damit es ihr besser ginge. Nachdem Klaus-Werner aber schon immer sehr am Besitz von Geld interessiert war und von Anfang an auch unglücklich darüber war, dass er für Ann Unterhalt zahlen musste, war mir sofort alles klar. Da wollte jemand von seiner Unterhaltspflicht befreit werden, seinerseits welchen erhalten und das Kind tagsüber seiner Lebensgefährtin zur Betreuung übergeben oder bei der Oma lassen, wodurch sich sein eigener Stress damit in Grenzen halten würde. Klaus-Werner setzte alle Hebel in Bewegung, um dieses Ziel zu erreichen. Er spielte in der Praxis der Kinderpsychologin den verständnisvollen, treusorgenden Vater, und Ann beeinflusste er auf eine Art und Weise, die mich schier verzweifeln ließ. Ich wusste noch sehr genau, wie er sie zuvor links liegen gelassen hatte. Es folgte ein Tag, den ich nie wieder vergessen werde. Ich, Klaus-Werner und Ann vor dem Schreibtisch der Kinderpsychologin. Diese fragte, ob Ann zum Vater ziehen wolle. Ann war total nervös und unsicher, sah mich überhaupt nicht an und blickte unsicher zum Vater. Dann: ja, sie will umziehen. Breites Grinsen bei Klaus-Werner, betretener Blick bei Ann und Freude bei der Psychologin, dass sie diesen Fall endlich vom Tisch hatte. Wie ich an diesem Tag nach Hause gekommen bin, entzieht sich vollkommen meiner Kenntnis. Ich muss wohl so etwas wie einen Filmriss gehabt haben, stand unter Schock. Und Theo? Der freute sich. Er war das lästige Kuckuckskind los. Es steht ja wohl für jeden Menschen, der ein Fünkchen Gefühl in sich birgt fest, dass eine solche Beziehung allenfalls pro forma aufrechterhalten werden kann, wenn sich derartige Dinge ereignet haben.

Und ich hielt sie tapfer aufrecht. Ich litt, ich musste fast kotzen, wenn Theo mich auch nur anfasste. Ich ließ mich beschimpfen, versuchte meinen Sohn zu erziehen und ging nebenbei zur Arbeit. Kein Mensch merkte, was bei uns los war, weil ja alle nur den Anschein einer Beamtenfamilie mit zwei Kindern wahrnahmen, der es ja so gut geht in ihrem neuen Häuschen.

Selbstverständlich merkte auch meine Mutter absolut nichts, sie hatte ja nie etwas von meinem Seelenleben mitbekommen – mangels Interesse. Ich versuchte, mich mit Nähen, Lesen, Malen und langen Spaziergängen im Wald psychisch auf die Reihe zu bekommen. Vergeblich, mein Unterbewusstsein dankte es mir mit Panikattacken, die Krankenhausaufenthalt, Angstzustände und schließlich die ständige Einnahme von Tabletten zu meinen Begleitern machten. Ein Vierteljahr traute ich mich so gut wie nicht aus dem Haus, Autofahren durfte ich sowieso nicht. Bei einer anschließenden Psychotherapie, die mir neuen Mut und neue Kraft gab, reifte in mir der Wunsch, neben einem Leben ohne Theo auch eine Ausbildung als Psychotherapeutin zu beginnen. Günther, auf den ich zwischenzeitlich auch immer wieder getroffen war, gab mir neue Zuversicht.

 

Eben diese neu erworbene Kraft war es, die mich schließlich nach einer leicht tätlichen Auseinandersetzung mit Theo nach Pleinfeld flüchten ließ. Ich hatte mich bei einem Streitthema verbal zur Wehr gesetzt, Theo konnte nicht ausreichend mitargumentieren und wollte daher das Faustrecht wieder einführen, warf mich wütend gegen die Küchenzeile. Als er abends in die Kneipe ging, packte ich Koffer und Kinder ein und fuhr zu meiner Cousine Uschi, die zwischenzeitlich in Pleinfeld mit Attila ein riesiges Haus gemietet hatte. Ich erfuhr zuvor schon von Günther, dass er dort in die Einliegerwohnung im Keller ziehen werde, Uschi habe ihm das angeboten. Das war zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht geschehen.

Uschi quartierte uns alle ein und ich trank abends mit Uschi und Attila noch ein Gläschen Wein, kotzte mich aus. Attila sah ich während dieser zwei Tage selten, bekam von Uschi in abfälligem Tonfall als Begründung zu hören, der arbeite sowieso nur, und das Tag und Nacht. Ich besichtigte seinen Arbeitsplatz unter dem Dach auch einmal und hörte dabei Uschis Klagen, dass er zwischen sechs Computern hin und herarbeite, dann auch noch auf dem Fußboden darunter schlafe. Wahrscheinlich nehme er Drogen, ernähre sich fast ausschließlich von Kaffee. Und sie sitze alleine auf der Couch, müsse ohne ihn fernsehen.

Ich bewunderte Attila insgeheim für sein Engagement, hatte er sich doch selbst den Beruf eines Programmierers beigebracht und versuchte nun, sich einen Kundenkreis aufzubauen. Nebenbei hatte ich noch gesehen, dass er sich nicht scheute, beispielsweise unter dem Vogelkäfig zu kehren, wenn dort Berge von Federn und Streu lagen. Uschi interessierte es herzlich wenig, wie die Wohnung aussah. Sie konnte mühelos Staub und Krümel herumliegen sehen, saß während seiner Bemühungen desinteressiert auf der Couch.

Nach zwei Tagen Aufenthalt in Pleinfeld wurde mir klar, dass diese Flucht zwar notwendig, aber nicht die Lösung war. Ich musste zurück nach Hause, mit Theo reden. Der war erst einmal handzahm und nahm den Warnschuss durchaus als das, was er war. Aber schnell kamen dieselben Probleme wieder auf und mir blieb nichts anderes übrig, als mich mit der Tatsache der Notwendigkeit einer zweiten Scheidung abzufinden. Nebenbei zog ich mein Psychotherapie-Studium durch. Ich traf mich auch mehrfach mit Günther, vollkommen platonisch natürlich, aber trotzdem heimlich. Die Umwelt dachte schließlich nur allzu gerne schlecht über einen und würde keine Schwierigkeiten haben, Geschichtchen zu erfinden. Günther tat mir einfach gut, und umgekehrt schien dies auch der Fall zu sein.

Günther war mittlerweile nach Pleinfeld gezogen, in die hübsche Einliegerwohnung bei Attila und Uschi. Von ihr hörte ich bei nahezu jedem Telefonat, dem Günther gehe es total gut, er schleppe ständig irgendwelche Weiber an, mit denen er jedes Mal an den See gehe. Das klang etwas abfällig, oder sogar auffällig eifersüchtig. Wie konnte man freiwillig an einen See gehen? Uschi tat so etwas niemals. Die konnte jahrelang direkt am Ufer wohnen und würde den See trotzdem nicht behelligen. Ich wurde hellhörig, weil sie auch erwähnte, dass sie selber des Öfteren mit Weinflasche und Kerze bewaffnet zu guten Gesprächen zu Günther in den Keller hinuntergehe, das sei ja so ein netter Kerl, ein Traummann eben. Schon immer gewesen. Nun ja, dieser Meinung war ich auch. Günther hatte einfach immer ein offenes Ohr, wenn jemand Probleme hatte.

Da reifte in mir der Entschluss, mir diesen netten Kerl zu sichern, bevor die anderen, laut Uschi zahlreichen Interessentinnen oder Uschi selbst es täten. Dass Günther eigentlich schon immer mit mir zusammen sein wollte und stinksauer und neidisch auf Theo und dessen Handlungsweisen war, wusste ich schon sehr lange. Genauso war mir klar, dass die Ehe zwischen Uschi und ihrem Mann schon lange herben Krisen ausgesetzt war.

Tatsächlich hatte Günther zu diesem Zeitpunkt gerade eine relativ doofe Tussi in Arbeit, die Bille genannt wurde. Ein unbeholfenes, genau wie Günther ständig kränkelndes Wesen. Aus heutiger Sicht hätte die auch bestens zu ihm gepasst, oder womöglich auch Uschi. Sei es drum. Und was tat ich wohl? Genau. Schon tauchte ich an Günthers Seite freudestrahlend bei Uschi auf, verschwand anschließend mit ihm in seiner Kellerwohnung. Weder Uschi noch Attila wollten sich so richtig mit mir freuen, wenn ich auch heute erst die jeweiligen Gründe dafür kenne.

Theo, den ich sofort über die neue Situation informierte, kapierte natürlich überhaupt nicht, warum ich ihn verlassen hatte. Erst stundenlange Jammergespräche bei gemeinsamen Freunden, Kollegen und seiner Mutter konnten ihm einigermaßen ein Bewusstsein dafür vermitteln, dass er das Dilemma selber herbeigeführt hatte. Er tröstete sich dann mit einer »Neuen«, die er über ein Partnervermittlungsinstitut kennengelernt hatte.

Die Anfangszeit mit Günther war klasse. Wir unternahmen viel, wir redeten viel, wir schmiedeten Zukunftspläne. Alles sollte besser werden, für jeden von uns. Sofort suchten wir uns eine große Altbauwohnung und waren der Ansicht, dass diesmal doch alles gut werden müsse. Zwar hatte ich, wie auch schon bei Klaus-Werner und Theo, so einen Ansatz von ungutem Gefühl in mir, dass die Übereinstimmung doch nicht hundertprozentig sei. Aber natürlich fand ich wieder Gründe, um mich zu beruhigen. Günther sei halt noch keine Familie gewohnt gewesen, sondern war bisher immer allein. Der müsse sich erst an Axel gewöhnen und wohl auch an die Tatsache, dass er nicht mehr alleine in der Wohnung war.

Seine Pechvogelhaltung, die er bei jeder Gelegenheit zelebrierte, sah ich als Spleen und auch zum Teil als gerechtfertigt an, weil er tatsächlich dauernd Pech hatte. Er ließ kein Fettnäpfchen, keine Krankheit und keine Katastrophe aus. Hinzu trat sein Stress auf der Arbeit, auf den er ständig hinwies. Da er immerzu hektisch herumrannte, nahm ich ihm den Dauerstress auch ab und hinterfragte dies nicht. Ansonsten war er lieb zu mir, wie ein großer Bub. Wir wussten wegen meines Alters beide, dass es jetzt höchste Zeit war, wenn wir noch ein gemeinsames Kind haben wollen. Günther wollte ja schon immer Kinder. So wurde dieser Wunsch unverzüglich in die Tat umgesetzt.

Dann erlebte ich ein sehr positives Erlebnis. An einem Besuchswochenende, als ich Ann bei mir hatte, besuchten wir ein Mittelalterfest. Ann wirkte bedrückt und schweigsam. Nach längerem Reden rückte sie schließlich damit heraus, sie wolle nicht mehr zurück zum Vater. Dort sei alles gar nicht mehr schön, die Hanne quäle sie nur noch, lasse sie sogar die Toilette putzen und der Papa halte dann nicht zu ihr, sondern gebe immer der Hanne Recht. Die möge aber nur ihre eigenen Söhne, würde sie offen bevorzugen.

Ich rief Klaus-Werner an, informierte ihn von den Schwierigkeiten unserer Tochter mit seiner neuen Lebensgefährtin und erklärte ihm, ich würde Ann gegen ihren Willen nicht zurückbringen, sondern vielmehr einen Termin mit der Kinderpsychologin vereinbaren, um die neue Situation zu besprechen. Ich wertete das dortige Gespräch als späte Gerechtigkeit, denn es verlief genau entgegengesetzt zu dem vorherigen, das mir einen solchen Schock verpasst hatte. Ann wurde abermals gefragt, wo sie leben wolle. Ja, ich will zur Mama zurück.