Operation Terra 2.0

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Tiberia, KIN-Zeit: 13.5.8.15.6, Freitag

Alanna verschränkte trotzig die Arme vor ihrer Brust. Wie so oft in der letzten Zeit war es auch an diesem Abend wieder zu einem deftigen Ehestreit im Schlafgemach des Regentenpaares gekommen. Die Fronten hatten sich mittlerweile dermaßen verhärtet, dass mit einem einvernehmlichen Konsens nach allen Regeln der Wahrscheinlichkeit kaum mehr zu rechnen war.

Dass dieser dämliche Betonschädel Kiloon aber auch nicht begreifen wollte, was er mit seiner sturen Haltung anzurichten im Begriff stand! Wenn Alanna ihren Gemahl zuerst nur geringgeschätzt und als labil eingeschätzt hatte, so hasste sie ihn inzwischen abgrundtief. Er stand ihren visionären Plänen wie ein ungehobelter Bremsklotz im Wege, obwohl sie ihm ihren unverrückbaren Standpunkt wieder und wieder dargelegt hatte.

»Jetzt denke doch einmal über den Tellerrand hinaus! Was geht uns dieses verflixte Terra überhaupt noch an? Wir haben in der Vergangenheit schon viel zu viele Ressourcen gebunden, indem wir die dortige Bevölkerung ständig überwachten. Tiberia ist derzeit unsere Heimat, über das Wohlergehen dieses Planeten sollten wir uns Sorgen machen! Du weißt, dass momentan einiges im Argen liegt.

Wenn ich nur daran denke, wie viele Missionare im Laufe der Zeit nach Terra unterwegs gewesen sind! Und mit welchem Ergebnis?

Wir haben jedes Mal zwar einige Veränderungen herbeigeführt, jedoch kaum wirkliche Verbesserungen hinterlassen! Terraner verhalten sich mehr wie Tiere, als dass sie typisch menschliche Eigenschaften pflegen. Sie scheinen über sämtliche Zeitalter hinweg immer einen Weg zu finden, alles Gute, Sinnvolle und Schöne zu pervertieren.«

Die ehrgeizige Regentengattin war es gewohnt, dass ihre Argumentationen in sich logisch wirkten und daher kaum zu widerlegen waren. Bei Rededuellen trug sie meistens den Sieg davon. Doch Kiloon knickte zu Alannas Leidwesen seit kurzem bei Diskussionen dieser Art nicht mehr so leicht ein.

Er vertrat weiterhin selbstbewusst seine Auffassung, dass die terrestrischen Menschen zumindest entfernte Halbbrüder und -schwestern des tiberianischen Volkes seien, die man daher nicht einfach aufgeben und ihrem Schicksal überlassen dürfe. Sie empfand es als überaus anstrengend, sich seine stets gleichen Argumente täglich aufs Neue antun zu müssen.

»Na und? Dann bringen sie sich eben im Namen der Religion gegenseitig um! Eine Milliarde mehr oder weniger … es würde das bedrängende Problem einer Überbevölkerung fürs Erste beseitigen, hast du daran schon einmal gedacht?

Wenn die Terraner sich in der bisherigen Geschwindigkeit unbekümmert weitervermehren, dann verhungern sie in spätestens fünfzig TUN sowieso! Oder sie sterben im Kampf ums tägliche Überleben, denn die Anbauflächen für Nahrungsmittel sind weltweit am Ende ihrer Kapazität angelangt.

Terra ist ein unwirtlicher Planet mit zerbrochener Kruste und instabiler Achse; er wird regelmäßig von Naturkatastrophen, Eiszeiten, Asteroideneinschlägen, Seuchen und Kriegen heimgesucht … es gibt dort so unendlich viele Möglichkeiten, auf natürlichem Wege draufzugehen. Die Bevölkerungszahl reguliert sich seit jeher von selbst.

Tot ist tot, was macht es also unter dem Strich für einen Unterschied, auf welche Weise diese Leute verblichen sind?«, fragte Alanna kaltschnäuzig.

»Auf einen sogenannten ›genetischen Flaschenhals‹ folgt stets eine veritable Bevölkerungsexplosion. Werden und Vergehen, mein übereifriger Schatz.«

»Ich bin hier der rechtmäßige Regent und trage die Verantwortung!«, protestierte Kiloon. »Ich will mitnichten als derjenige Herrscher unserer alten Familiendynastie in Erinnerung bleiben, welcher nichts mehr gegen die Selbstausrottung der Terraner unternommen hat. Ich werde wie mein Vater mit Herz und Verstand regieren, dabei beide Planeten im Fokus behalten – und dabei bleibt es!«

»Ach so, da kommen wir dem eigentlichen Kern der Sache schon näher!«, frotzelte Alanna spöttisch. »Es geht hier also in Wirklichkeit um dich, um deine Reputation, dein Vermächtnis und deine Eitelkeit – und nicht bloß um ein paar von der Kirche ermordete Menschen auf einem fernen Planeten, nicht wahr? Kannst es ruhig zugeben!

Ausgerechnet du hast es nötig, auf einmal so respektvoll über deinen Vater zu reden! Du warst damals voller Enthusiasmus mit von der Partie, trägst an den Geschehnissen dieselbe Schuld wie ich. Wir waren uns darüber einig, dass sein zögerliches Verhalten Tiberia nicht mehr zur Ehre gereichte. Willst du jetzt etwa dennoch in seine erkalteten Fußstapfen treten und dich genauso verhalten?«

»Du willst es einfach nicht verstehen!«, seufzte Kiloon. »Es fehlt dir an Mitgefühl, an Verantwortungsbewusstsein und Selbstlosigkeit. Daher fühle ich mich dazu berufen, notfalls an deinem Willen vorbei zu handeln. Ich muss im Interesse meines Volkes nach vorne schauen, anstatt wehmütig in der Vergangenheit zu wühlen – auf welche ich, nebenbei bemerkt, alles andere als stolz sein kann.

Wie ich bereits sagte: Ich bin der Regent!«

»Ach ja? Diese lächerlich einfältige Bemerkung kann eigentlich nur bedeuten, dass du nicht bloß über eine neue Zeitreise-Mission nachdenkst, sondern in aller Heimlichkeit bereits konkrete Pläne ausarbeitest. Mit meiner Zustimmung brauchst du dabei jedenfalls nicht zu rechnen, damit das klar ist!

Wir werden ja sehen, ob du diese Idiotie überhaupt durchdrücken kannst. Die Vordersten-Versammlung wird hierüber nach sorgfältiger Abwägung des Für und Wider zu entscheiden haben, und du kannst hernach lediglich noch deine Zustimmung erteilen, was immer dort beschlossen werden mag. An den Beratungen darfst du im Gegensatz zu mir nicht einmal teilnehmen!

Ich wünsche dir viel Erfolg bei der aufreibenden Überzeugungsarbeit, lieber Gemahl – vor allem bei der Vordersten der Sektion Wissenschaft, Technik, Geschichte und Schrift, auf deren fachlicher Meinung wohl das Hauptgewicht liegen wird! An ihr wirst du dir sämtliche Zähne ausbeißen.«

Voller Selbstzufriedenheit entfernte sie sich, um demonstrativ in einem anderen Raum schlafen zu gehen.

Terra, 20. Mai 2120 nach Christus, Montag

Der päpstliche Astronom rannte die steile Wendeltreppe hinunter, so schnell ihn seine dürren Beine trugen. Er ging mit einer brisanten Mitteilung schwanger, deren Verbreitung keinen Aufschub duldete. Er hatte sie nach einigen Monaten Pause wiederentdeckt, und sie mussten sich ganz in der Nähe befinden!

Ob sie dieses Mal wohl auf der Erde landen würden? Am südöstlichen Mittelmeer vielleicht, falls er den Eintrittswinkel richtig berechnet hatte, mit dem das mutmaßliche Raumfahrzeug in die Atmosphäre eingetaucht war. Und dort lag Israel, das Heilige Land! Konnte das denn Zufall sein?

Wenig später erhielt Papst Franziskus III die frohe Botschaft zugestellt, dass seine in Castel Gandolfo am Lago Albano gelegene Sternwarte um exakt 14.32 Uhr und 46 Sekunden eine UFO-Sichtung gemeldet habe. Eilig scharte er seine engsten Vertrauten um sich, denn auf eine solche Gelegenheit hatten er und seine Vorgänger auf dem Heiligen Stuhl seit langem gewartet.

Es musste für seine Kirche doch im Bereich des Möglichen liegen, irgendwann einen Erstkontakt mit den Außerirdischen herzustellen! Die zahllosen Augenzeugenberichte über Sichtungen, welche schon in grauer Vorzeit die Mythologie vieler Volksgruppen beflügelt hatten, konnten nicht allesamt einfältige Fehldeutungen fantasievoller Zeitgenossen gewesen sein. Jene extraterrestrischen Besucherscharen observierten die Erde in unregelmäßigen Zeitabständen, daran konnte es für ihn keinen Zweifel geben. Er ging sogar mit einiger Überzeugung davon aus, dass einst Jesus von Nazareth aus einer fremden Welt zur Erde gekommen und dorthin zu »Himmelfahrt« auch wieder entschwunden war – was auch den vielsagenden Namen erklärten würde, mit dem man das fragliche Datum seither verband.

Die Freude war jedoch nur von kurzer Dauer. Obgleich das winkelförmige Raumschiff dieses Mal sehr tief geflogen war, so dass jedermann es vom Boden aus mit bloßem Auge betrachten hatte können, schien es schon wieder in den Weiten des Weltalls unterwegs zu sein, noch ehe die Versammlung der höchsten kirchlichen Würdenträger vollzählig in Castel Gandolfo eingetroffen war.

Dieses silbrig glänzende Flugobjekt konnte der Schwerkraft trotzen, sich blitzschnell fortbewegen und dazu abrupt seine Richtung ändern, so dass es innerhalb kürzester Zeit in den vatikanischen Provinzen Griechenland, Italien, Frankreich, Spanien, Deutschland und der britischen Halbinsel beobachtet werden konnte. Die beunruhigte Öffentlichkeit erwartete daher ein Statement der Kirche.

»Wie erklären wir das jetzt unseren Schäfchen? Wenn die Gläubigen spitzkriegen sollten, dass es da draußen noch weitere Welten voller Hominiden gibt, würde das unweigerlich die Schöpfungsgeschichte ad absurdum führen. Ade, Genesis! Wir können andererseits auch schlecht behaupten, dass der wiederkehrende Jesus mithilfe dieser hochmodernen Technik hier auf Erden abgesetzt wurde, oder?«, fragte einer der jüngeren Kardinäle.

»Nein, das ist vollkommen unmöglich!«, bestätigte ein anderer. »Schließlich bemühen wir uns schon seit einigen Monaten, diesen 108-jährigen Mann aus Rumänien als Jesus auszugeben. Wie ich hörte, stellen die ersten Menschen schon einen unmittelbaren Bezug zwischen der sich verbreitenden Seuche und der von ihm angeblich eingeleiteten Apokalypse her. Das verdammte Raumschiff passt uns gerade überhaupt nicht ins Konzept!«

 

Papst Franziskus III bat sich mit einer Handgeste Ruhe aus; ihm gingen ineffektive Diskussionen um banale Spitzfindigkeiten ziemlich auf die Nerven. Er hatte zweifellos besseres zu tun, als sich dieses Lamenti noch stundenlang anzuhören.

Die Leute hatten schließlich gar keine andere Wahl, als die frei erfundene Geschichte ihrer Kirchenoberhäupter widerstandslos zu schlucken. Es wäre erstens niemand in der Lage gewesen, das Gegenteil zu beweisen – und zweitens hatte die Seuche bereits die ersten Todesopfer gefordert. Wen interessierten schon irgendwelche Außerirdische, wenn ihm gerade seine Familie unter den Händen wegstarb?

»Ihr werdet doch hoffentlich in der Lage sein, den Rundflug dieses unbekannten Objekts nahtlos in die Offenbarungsgeschichte des Johannes einzupassen? Seit Jahrhunderten tun wir nichts anderes, als Phänomene aller Art bibelaffin zu erklären. Man könnte diese Raumfahrzeuge als geflügelte Boten der himmlischen Heerscharen oder meinetwegen als apokalyptische Reiter deklarieren. Ich erwarte bis spätestens morgen Abend eine stimmige Verlautbarung, die wir wie üblich über die Abendmessen veröffentlichen können!«

»Wie Ihr wünscht, Heiliger Vater!«, katzbuckelte der päpstliche Sekretär, als er ihm das Portal nach draußen öffnete.

*

Swetlana Emmerson hatte den grausigen Anblick ihres toten Ehemannes noch nicht verkraftet, als sie bei ihrem ältesten Sohn auffällige Krankheitssymptome bemerkte.

Er litt an Fieber, Schüttelfrost und Muskelschmerzen.

Die Leute auf der Straße erzählten sich, dass schon einige Nachbarn an einer rätselhaften Krankheit gestorben seien, die sich seit einigen Wochen in Berlin ausbreite. Ob ihr Thomas wohl ebenfalls hieran erkrankt war?

Als sie an sein Bett trat und die Decke zurückschlug, entfuhr ihr ein Schreckensschrei. Thomas blutete offensichtlich aus dem Darm und klagte über schlimme Bauchschmerzen. Als er deswegen zu weinen begann, färbten sich seine Tränen rot. Swetlana erkannte voller Entsetzen, dass seine Schleimhäute bluteten. Um Himmels willen!

Wie von Sinnen rannte die sechsfache Mutter aus dem Haus und versuchte verzweifelt, medizinische Hilfe zu organisieren. Doch egal, wie intensiv sie an die Heiler appellierte und diese an ihre christliche Pflicht zur Nächstenliebe gemahnte, niemand wollte mitkommen. Selbst die vollkommen überforderten Ärzte der kirchlichen Siechenstation befürchteten Ansteckung und schlugen ihr die Tür vor der Nase zu, als wäre sie aussätzig.

Mit ihrem allerletzten Geldschein kaufte Swetlana auf einem nahegelegenen Markt ein paar Kräuter, denen heilende Kräfte nachgesagt wurden. Vielleicht konnte sie damit wenigstens die quälenden Unterleibsschmerzen ihres Jungen ein wenig lindern. Sie wollte ihm einen kräftigen Tee aufbrühen und die restlichen Kinder vorübergehend im Wohnzimmer schlafen lassen, um eine Art Quarantänestation parat zu haben.

Vielleicht litt ihr Ältester ja doch nur unter einer gewöhnlichen Erkältung, hatte sich zufällig am Auge gekratzt … der Schöpfer im Himmel musste doch Erbarmen mit einem unschuldigen Kind haben! Voll törichter Hoffnung eilte Swetlana Emmerson nach Hause.

Sie sollte sich nicht erfüllen; schon im Treppenhaus kam Tochter Sarah weinend angelaufen und rief ihr zu, dass mit dem Baby etwas nicht stimme. Es blute im Gesicht und rühre sich nicht mehr. Auch dann nicht, wenn sie es anstupse! Und die Oma schreie vor lauter Schmerzen, schon seit einer Stunde ungefähr.

Zwei Wochen später hatte Swetlana ihre gesamte Familie an die unheimliche Seuche verloren. Eines ihrer Kinder lag, in einen Plastiksack verpackt, noch immer in der Wohnung – die Bestatter kamen mittlerweile überhaupt nicht mehr nach, die vielen Toten einzusammeln.

Die junge Russin hatte längst keine Tränen mehr, zu tief saß das Trauma. Sie vegetierte nur noch in einem niemals endenden Wachtraum dahin und wartete darauf, dass sie endlich mit dem Sterben an die Reihe käme. Welchen Sinn hätte ihre weitere Existenz auf Erden noch gemacht, nachdem all ihre Liebsten verstorben waren?

Aber Swetlana wurde nicht krank. Sie fühlte sich zwar müde, schwach und klapprig, doch das lag daran, dass sie seit Tagen fast kein Essen zu sich genommen hatte. Sie beschloss, dem Schicksal ein klein wenig nachzuhelfen, indem sie sich mit einem Küchenmesser die Pulsadern aufritzte. Mittlerweile war es ihr einerlei, ob sie sich damit einer Todsünde schuldig machen würde oder nicht.

Sie könnte ihr Vorhaben jedoch erst dann in die Tat umsetzen, wenn man ihren toten Sohn zur Feuerbestattung mitgenommen hätte, denn so lange wollte sie noch als Mutter über seinen Körper wachen. Dies wäre unwiderruflich der letzte symbolische Akt, durch welchen sie irgendetwas Gutes für ihre Familie tun konnte.

Es klingelte an der Wohnungstür. Swetlana erhob sich mühsam und trottete langsam zum Eingang, wobei sie sich an der Wand des Flurs entlanghangeln musste. Doch draußen stand zu ihrer Überraschung nicht nur jener bedauernswerte Mann, der die Leichen einsammelte; er wurde von zwei Herren in voluminösen gelben Schutzanzügen begleitet, deren Funktion Swetlana nicht kannte.

»Swetlana Emmerson?«, fragte einer der beiden und sah sich kurz in der Wohnung um.

»Ja, die bin ich!«, bestätigte sie leise und musste sich vor lauter Schwäche hinsetzen. »Mein Sohn liegt da drüben. Ich habe mich bereits von ihm verabschiedet!« Die junge Frau zeigte auf den grünen Plastiksack und begann nun doch wieder zu schluchzen.

»Darum kümmert sich nachher der Kollege! Wir beide sind aus einem ganz anderen Grund hier. Du hast wochenlang mit sieben Infizierten auf Tuchfühlung unter einem Dach gelebt, diese sogar ohne Schutzkleidung gepflegt. Dennoch sind dir bislang keinerlei Symptome anzusehen; die übliche Inkubationszeit wäre auch längst vorüber. Wir vermuten daher, dass du gegen das Virus immun sein könntest!«

Swetlana wirkte verunsichert. »Was soll das bedeuten?«

»Nun, einige wenige Menschen besitzen gegen diesen hochansteckenden Erreger natürliche Immunität. Wir entnehmen heute eine Blutprobe. Falls sich unsere Vermutung im Labor bestätigt – wovon ich nach Lage der Dinge ausgehe – bist du eine der Auserwählten.

Freu dich, Frau Swetlana Emmerson – du wärst dann nämlich ein Exemplar jener tiefgläubigen Christen, die nach Jesus‘ Willen diese Apokalypse unbeschadet überstehen werden!«, erklärte der Mann sachlich und packte eine Kanüle aus.

»Aber … was soll denn das heißen? Meine kleinen Kinder waren allesamt gute Menschen, auch mein treuer Ehemann … sie haben niemandem etwas zuleide getan, und doch sind sie alle gestorben! Ich dagegen bin in der Vergangenheit oft ungerecht und aufbrausend gewesen – es kann doch nicht möglich sein, dass ausgerechnet ich es wert sein soll, weiterhin zu überleben?«

»Die Wege des Herrn sind unergründlich! Du solltest seine weisen Entscheidungen niemals infrage stellen!«, mahnte sein Begleiter lächelnd und verpackte das Röhrchen mit der Blutprobe in seinem mitgebrachten Aluminiumkoffer. In dessen dicker Schaumstoffpolsterung standen bereits vierzehn weitere Proben, welche wohl ebenfalls zu mutmaßlichen Gutmenschen gehörten.

»Du hörst in den nächsten Tagen von uns! Sieh zu, dass du solange bei Kräften bleibst«, versprach er augenzwinkernd und drückte Swetlana noch ein kleines Paket in die Hand, das einige Grundnahrungsmittel enthielt.

Tiberia, KIN-Zeit: 13.5.9.0.5, Montag

Mit außergewöhnlich guter Laune kehrte Kiloon von seinem letzten Überzeugungs-Einsatz zurück. Der weit überwiegende Teil der Vordersten hatte sich – jedenfalls den Lippenbekenntnissen nach – klar dafür ausgesprochen, eine neue Mission unterstützen zu wollen. Dasselbe galt für einige Mitglieder aus der früheren Crew der Jehova Suspension.

So fühlte er sich bestens dafür gerüstet, die alles entscheidende Versammlung in Kürze anberaumen zu können. Alanna würde bald merken, wie weit sie mit ihrem unverhohlenen Widerstand kam!

Beschwingt schlenderte er durch die Flure seiner bescheidenen Residenz, wo ihm mehrere Familienmitglieder begegneten. Ihre Mienen zeigten bei seinem ungewohnt fröhlichen Anblick erst ungläubiges Erstaunen, dann pure Freude. Offenbar hatten sie ihm angemerkt, wie depressiv und gestresst er in letzter Zeit gewesen war.

›Blut ist eben wirklich dicker als Wasser!‹, dachte er erfreut.

›Sobald die Mission auf den Weg gebracht ist, muss ich mich unbedingt wieder etwas mehr um das Wohlergehen meiner Familie kümmern!‹

Kiloon beschloss spontan, zur Entspannung noch ein wenig in den Gärten spazieren zu gehen, als er an einem der Ausgänge zum Atrium vorbeikam. Dazu hatte er sich seit jenem schwarzen Tag nicht mehr aufraffen können, an welchem er zusammen mit Alanna das abscheuliche Verbrechen an Tomaaka begangen hatte.

Er erinnerte sich ungern; es war der Tag der Audienz gewesen, an dem sein Vater Tomaaka die junge Missionscrew der Operation Terra 2.0 auf ihre bevorstehende Zeitreise eingeschworen hatte. Gleich danach hatte der alte Regent durch einen stark überdosierten Energieschlag aus dem Chaktivator sterben müssen, um die Herrscherposition für ihn, oder vielmehr, für Alanna freizumachen.

»Sieh ihn dir doch an – der stirbt sowieso bald! Wir ersparen ihm nur ein langes Siechtum!« hatte sie behauptet. Und er war Wachs in ihren eiskalten Händen gewesen.

Wieso konnte ihn dieses selbstsüchtige Weibsstück damals nur so weit bringen, ihr zuliebe wider seine innere Überzeugung zu handeln? Damit war jetzt Schluss! Wenn er sie heute genauer ansah, dann fiel ihm nicht mehr ihre Schönheit als erstes auf, sondern eher jene arrogante Verschlagenheit, welche verräterisch in ihren blauen Augen aufblitzte.

Nachdenklich setzte sich Kiloon auf eine helle Steinbank, die im Schatten eines blühenden Gebüschs aufgestellt war. Zu seinen Füßen plätscherte eine Wasserkaskade die sanfte Anhöhe hinab, um sich am tiefsten Punkt in einem kleinen See zu sammeln. Er hielt diesen wunderbar stillen Nischenplatz wegen seiner Abgeschiedenheit für einen der allerschönsten in dieser liebevoll hergerichteten Gartenanlage. Hier gedachte er den Nachmittag in einsamer Kontemplation zu beschließen, damit seine Seele endlich wieder ein wenig Ruhe und Frieden fände.

Die sonst allgegenwärtigen Wachleute kontrollierten zwar stündlich sämtliche Ausgänge zum Atrium, das inmitten der ringförmigen Gebäudeanlage des Regentensitzes lag – doch im Garten selbst patrouillierten sie nicht, denn ungebetene Eindringlinge hätten ohnehin keine Möglichkeit gehabt, von außen auf direktem Wege dorthin zu gelangen. Das lauschige Plätzchen bot ihm also beste Voraussetzungen, um mit seinem Innersten Zwiesprache halten zu können.

»Was tust du denn hier? Hat der erhabene Regent Tiberias und heimliche Herrscher Terras heute etwa ausnahmsweise keine dubiosen Regierungsgeschäfte zu erledigen, die ihn bis tief in die Nacht hinein durch die Gegend fahren lassen? Hier sitze übrigens ich normalerweise!«

Kiloon war in erfreulichen Gedanken versunken gewesen. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sich Alanna näherte, denn ansonsten hätte er beizeiten das Weite gesucht. Wenn er in diesem Augenblick eine bestimmte Person auf diesem Planeten absolut nicht hören und sehen wollte, dann war das diese hinterhältige Schlange! Er enthielt sich vorsichtshalber einer Antwort, da er sich seine gute Stimmung nicht durch ein sinnloses Wortgeplänkel zerstören lassen mochte.

»Was ist, hat es dir die Sprache verschlagen? Wie auch immer, ich wollte dir heute Abend sowieso ein paar hochinteressante Neuigkeiten mitteilen; da du ja offenkundig gerade Zeit hast, kann ich dir gleich hier und jetzt davon berichten.

Es geht um jenen rückständigen Planeten, welcher dir so sehr am Herzen zu liegen scheint. Ich wollte mich bezüglich der beunruhigenden Vorgänge auf Terra nicht einfach nur auf die bearbeiteten Geschichtseinträge in Ardens Archiv verlassen, sondern habe kürzlich auf eigene Faust ein dreiköpfiges Aufklärungsteam dorthin geschickt.

Meine Männer sind inzwischen hierher zurückgekehrt, und sie haben wahrhaft verstörende Bilder mitgebracht. Das europäische Festland wurde erst vor einigen KIN nahezu vollständig gescannt und ich habe mir Teile der Aufzeichnungen bereits angesehen. Was ich da an Tod und Elend zu sehen bekam, hat mich ziemlich überrascht.

 

Kiloon, du brauchst dort nicht mehr mit einer neuen Mission einzugreifen! Auf Terra ist nämlich eine unheimliche Seuche ausgebrochen, die zurzeit große Teile der Bevölkerung in Windeseile dahinzuraffen scheint.

Ich habe zahllose Massengräber gesehen; wenn das so weitergeht, dann dürften die terrestrischen Menschen entweder vollständig aussterben oder in stark dezimierter Anzahl zu einem Neuanfang gezwungen sein. Die Mortalitätsrate wird alles bisher Dagewesene sicherlich bei weitem sprengen.

Doch nun zur positiven Nachricht: In beiden Fällen wären wir am Ende die Nutznießer! Wir hätten genügend Platz und Nahrungsmittel zur Verfügung, um dorthin die überzähligen Leute aus unserer Landwirtschaftssektion auszusiedeln. Dazu könnten wir noch sämtliche Unruhestifter Tiberias loswerden, was hier so einiges erleichtern sollte.

Wir bräuchten lediglich ein wenig abzuwarten, bis die Seuchengefahr endgültig vorüber ist! Man weiß ja nicht genau, mit welchem Pilz, Virus oder sonstigem Auslöser man es dort zu tun hätte«, strahlte Alanna.

Kiloon konnte es nicht fassen. Hier stand seine egozentrische Gattin und referierte freudestrahlend über das humanitäre Elend und den grausamen Tod von Milliarden, als gäbe es für sie nichts Angenehmeres. Ihre Gefühlskälte widerte ihn so sehr an, dass er am liebsten kommentarlos weggegangen wäre. Aber Alanna neigte leider dazu, ihre Gesprächspartner nicht so schnell von der Angel zu lassen. Bestimmt würde sie ihm folgen und ungefragt weitere Details preisgeben.

»Unser Raumgleiter war absichtlich ohne Tarnschilde und mit voller Beleuchtung unterwegs, so dass die Einwohner ihn problemlos am Himmel sehen konnten. Wenn wir Glück haben, betrachten sie die ›fremden Besucher‹ jetzt als Urheber der Seuche; dieser Nebeneffekt hätte den unschlagbaren Vorteil, dass sie zu gegebener Zeit pure Angst davon abhalten würde, sich gegen unsere Invasion zu wehren.«

»Stopp! Den Rest deiner Ausführungen kannst du dir getrost sparen, ich möchte mir das nicht länger anhören!«, verfügte Kiloon herrisch und stand nun doch von seinem Sitzplatz auf.

»Bist du des Wahnsinns, Weib? Was immer die Ursache für diese Seuche war, wir werden ihren Ausbruch posthum verhindern. Irgendwie wird es doch wohl möglich sein, die Menschen gegen den tödlichen Erreger rechtzeitig zu immunisieren, wie wir es auch hier auf Tiberia mit jedem Neugeborenen handhaben.

Eigentlich muss ich mich bei dir sogar bedanken, denn ohne deine Neugierde hätte ich wahrscheinlich erst erheblich später von der Seuche erfahren. Unter diesen verschärften Umständen muss die Zeitreise-Mission allerdings erst recht stattfinden. So besitze ich dank deiner ungewohnten Mitteilungsfreudigkeit sogar das schlagende Argument, um die Mitglieder der Vordersten-Versammlung hiervon zu überzeugen!«

Alanna schüttelte missbilligend den Kopf, grinste sarkastisch. »Das werde ich schon zu verhindern wissen! Weshalb kannst du jämmerlicher Schlappschwanz nicht einmal für unser marsianisches Volk denken, anstatt ständig ein paar entarteten Hominiden nachzutrauern? Du setzt unser Wohlergehen leichtfertig aufs Spiel, solange du Mensch und Material auf Terras Belange ausrichtest.

Werde doch endlich erwachsen, Kiloon! Stelle dich deinem Amt als würdiger Regent, konzentriere deine Kraftreserven gebündelt auf Tiberia. Und solange du es nicht schaffst, deiner Verantwortung gerecht zu werden, muss ich an deiner Stelle alle Fäden in der Hand behalten.«

Kiloon galt als friedliebender Mensch, doch nun hatte sie den Bogen mit ihren ständigen Demütigungen überspannt. Er packte seine Frau an beiden Schultern und schüttelte sie, doch wieder erntete er dieses siegessichere Grinsen anstatt Respekt oder wenigstens Zurückhaltung.

»Ist das alles, was du an Argumenten parat hast? Körperliche Gewalt gegen eine Frau? Ich wusste gar nicht, dass du so tief sinken kannst! Deine Kritikfähigkeit lässt stark zu wünschen übrig, mein Lieber!«, geiferte sie.

»Genug, das reicht! Du hältst jetzt sofort dein schmutziges Schandmaul, oder du wirst mich von einer völlig neuen Seite kennenlernen!«, quetschte der Regent zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Es kostete ihn ein Höchstmaß an Überwindung, ihr nicht einfach mitten in die überhebliche Visage zu schlagen.

»Oder … sonst?«, fragte Alanna amüsiert und ließ sich von seiner Drohgebärde nicht im Mindesten beeindrucken.

Diese neuerliche Unverschämtheit riss endgültig sämtliche Barrieren der Beherrschung nieder, die Kiloon bislang noch hatte aufrechterhalten können. Er warf seine Gattin in blinder Raserei zu Boden, schob ihr Gewand hoch und vergewaltigte sie brutal. Er machte seinem angestauten Zorn auf diese Weise Luft, reagierte sich vollständig an ihr ab.

»Wir werden ja bei dieser Gelegenheit sehen, wer hier der Herr im Haus ist!«, keuchte er, bevor er zitternd von ihr abließ.

Alanna hatte die ganze Zeit über keinen einzigen Ton von sich gegeben, seine Überreaktion einfach widerstandslos über sich ergehen lassen; langsam setzte sie sich auf, richtete ihr Gewand und wischte feuchte Erde von ihren zerschrammten Gliedmaßen. Ihr starrer Blick verhieß nichts Gutes.

»Das wirst du mir büßen! Jeder Einwohner dieses Planeten soll erfahren, was du mir angetan hast!«

»Das denke ich eher nicht!«, antwortete Kiloon kühl, während auch er seine Kleidung wieder in Ordnung brachte.

»Denn falls du darüber auch nur ein Sterbenswörtchen von dir geben solltest, werde ich Moros jenen Chaktivator übergeben, mit welchem wir Tomaaka den Garaus gemacht haben. Er war auf dich registriert und personalisiert, somit wird er Ermittler unweigerlich zu seiner Besitzerin führen.

Außerdem sind darauf alle Daten abgespeichert – auch der tödliche Energiestoß mitsamt Datum und Uhrzeit. Das Gerät habe ich damals luftdicht verpackt und versteckt, du brauchst also gar nicht erst danach zu suchen.

Die Sektion Schutz und Verteidigung würde die darauf befindlichen Genspuren auswerten, und dann wüssten alle gleich Bescheid. Wer sollte einer überführten Mörderin dann noch glauben, dass ich sie vergewaltigt hätte? Wir beide sind verheiratet, und ich habe mir mein eheliches Recht lediglich mit etwas Nachdruck einfordern müssen – so sieht es aus!«

Als Kiloon den Tatort als Erster verließ, empfand er nur ein schales Triumphgefühl. Sicher, er hatte Alanna in die Schranken gewiesen, ihre Unterlegenheit vollkommen zu Recht demonstriert. Und doch wurde er das unangenehme Gefühl nicht los, dass sich hieraus eine Art Bumerang entwickeln würde, der ihn jederzeit schmerzhaft aus dem Hinterhalt am Schädel treffen könnte.

Ihre hasserfüllten Blicke brannten sich flammend in seinen Rücken, bis er außer Sichtweite war.

*

Seit einigen KIN war es amtlich: Es würde in Kürze eine neue Zeitreise-Mission nach Terra geben! Die ehrenwerte Vordersten-Versammlung hatte Kiloons Lösungsvorschlag mehrheitlich zugestimmt.

Die unselige Hinterlassenschaft der Operation Terra 2.0 sollte baldmöglichst gründlich reformiert werden, so dass der ferne Planet endlich zur Ruhe kommen könnte. Zu Kiloons Freude war gleichzeitig festgelegt worden, dass eine Deportation von Tiberianern dorthin vorläufig keineswegs infrage käme, und das sogar vollkommen unabhängig vom Erfolg der Mission.

In fieberhafter Eile schaffte man Gebäudemodule heran, um das Missionscamp wieder am bewährten Platz aufzustellen. Da Alanna jegliche Mitwirkung an diesem Projekt weiterhin notorisch verweigerte, hatte Kiloon Gabriel gebeten, ihm bei der Missionsplanung zur Hand zu gehen. Seine Gattin verfolgte indessen eigene Pläne – nur welche, darüber war er sich noch nicht im Klaren.

Oft verschwand sie für mehrere Tage und Nächte mit unbekanntem Ziel, um danach gut gelaunt wieder aufzutauchen. Sie hielt seit einem gewissen Vorkommnis Abstand von ihm, womit er sehr gut leben konnte. Wenn überhaupt, kommunizierte das Ehepaar im knappen Telegrammstil miteinander.

Gelegentlich packte Kiloon sein schlechtes Gewissen fest am Wickel, gewiss – aber Alanna hatte ihn absichtlich bis aufs Blut provoziert, so dass ihr eine Teilschuld anzurechnen war. Sie würde es sich in Zukunft reiflich überlegen, bevor sie ihn wieder überall zu deklassieren getraute. Solange sie ihm gekränkt die kalte Schulter zeigte, brauchte er sich wenigstens nicht näher mit ihr zu befassen.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?