Operation Terra 2.0

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Was hatte das zu bedeuten? Allein im aktuellen UINAL waren bis dato 37 Personen zur Jagd freigegeben worden, Tendenz steigend. Da sich das tiberianische Strafsystem in der Zwischenzeit nicht verändert hatte, musste es andere Ursachen für das Phänomen geben.

»Komm, sieh nicht so auffällig dort hinüber! Man könnte sonst glauben, du interessierst dich für die Tätigkeiten anderer Sektionen!«, ermahnte ihn ein älterer Kamerad. Der greise Tirim legte ihm sanft eine Hand auf die Schulter, sah ihm sorgenvoll ins Gesicht. »Oder hast du gar ein persönliches Interesse daran, was dort vor sich geht?«

Arden erschrak fürchterlich. Sah man ihm sein schlechtes Gewissen bereits derart deutlich an, konnte ihm diese Schwäche zum tödlichen Verhängnis werden? Sein Körper begann kalten Schweiß abzusondern, deswegen bemühte er sich zur Ablenkung um eine Ausrede, gepaart mit einem verbindlichen Lächeln.

»Aber nein, wo denkst du hin? Mir ist lediglich aufgefallen, wie sehr unsere Wächter momentan mit Arbeit belastet werden. Deswegen habe ich mitfühlend darüber nachgedacht, ob das deren Gesundheit nicht langsam aber sicher abträglich sein müsste!«

Tirim schien ein Stein vom Herzen zu fallen. »Ach, du weißt es doch – unsere Mediziner sind zur Stelle, wo immer sie gebraucht werden. Konzentriere dich besser auf das Jetzt und Hier, anstatt in solch unfruchtbaren Überlegungen zu schwelgen. Lass uns lieber wieder hineingehen und uns nützlich machen.«

Mit diesen Worten setzte der Alte sich gemächlich in Bewegung. Arden wusste sehr genau, dass er ihm auf dem Fuße nachzufolgen hatte, ohne den Blick nochmals in Richtung der Sektion Schutz und Verteidigung zu lenken. So trottete der junge Geschichtsschreiber ergeben neben Tirim her, verwickelte ihn bis zum gemeinsamen Eintreten in die schirmartige Gebäudekonstruktion in ein belangloses Gespräch über jene Fakten, welche als nächstes in die Chronik Tiberias einzutragen waren. Würden sie bis zur Dämmerung die weltweite Jagdfreigabe Nummer 38 in Händen halten, welche einem bedauernswerten Kameraden oder einer ganzen Gruppierung das Leben kosten sollte? Auszuschließen war das nicht!

Fast ein wenig wehmütig betrachtete er die smaragdgrünen Lichtreflexe, die den Boden des in allen Grüntönen verglasten Eingangsbereichs mit immer neuen Mustern verzierten. Nein, einen Ausschluss aus seiner Sektion würde er kaum verkraften können. Es durfte beim Informationsaustausch mit Solaras einfach nichts schiefgehen!

Terra, Zeit: 13.5.5.6.9, Montag

Wütend schmetterte der 1 KATUN und 15 TUN alte Philipp André Emmerson die Küchentüre hinter sich zu. Er hatte die ständige Jammerei seiner um drei TUN jüngeren Ehefrau allmählich satt. Besonders nach anstrengenden Tagen wie diesem konnte er alles gebrauchen – nur keine leidigen Diskussionen um dieses immer gleiche Thema.

Das ging jetzt seit gut und gerne fünf TUN so. »Andere Frauen bekommen doch auch Kinder, warum darf ich dann keines haben … ?« Als ob er Swetlana nicht schon hunderttausendmal die vielfältigen Gründe hierfür genannt hätte!

Philipp ließ sich müde in einen Sessel plumpsen. Ihm steckten 0,58 KIN harter Arbeit in den Knochen; konnte dieses begriffsstutzige Weibsstück das denn nicht kapieren? Draußen ging bereits die Sonne hinter der Großstadtsilhouette unter, wodurch der Himmel eine schmutzig-gelbe Farbe annahm. Er ging im Dunkeln aus der Wohnung, und er kehrte bei Dunkelheit zurück.

Jeden KIN derselbe eintönige Trott. Tun-ein, Tun-aus. Zuerst durfte er um 5 Uhr morgens aufstehen, um kurz darauf in luftiger Höhe Scheiben in die verspiegelten Glasfassaden von neu erbauten Wolkenkratzern einzupassen. Danach hetzte er unter Zeitdruck zur nahegelegenen U-Bahn-Station und fuhr ans andere Ende der Stadt, wo sein mies bezahlter Nebenjob bereits auf ihn wartete.

Nach weiteren 0,17 KIN Knochenarbeit in einer Putzkolonne schleppte er sich endlich wieder zur U-Bahn zurück, um gerädert in seine kleine Mietwohnung zu fahren. Heim zum lieben Eheweib, das dort schon sehnsüchtig auf ihn wartete, um jemanden mit beißender Nörgelei belästigen zu können. Meistens durfte er für Swetlanas Frust herhalten, gelegentlich auch ihre Mutter. Das waren die für ihn eindeutig besseren Tage.

Manchmal dachte Philipp ausgiebig über Selbstmord nach. Was sollte das Ganze überhaupt, warum strengte er sich bis zum Umfallen an? Auch Swetlana ging einer Vollzeit-Arbeit als Köchin nach, trotzdem reichte das Geld hinten und vorne nicht aus. Woran sollten sie jetzt noch sparen? Auf welche Perspektiven konnte er hoffen, bevor sie ihn eines schönen Tages auf den Friedhof trugen?

Ach ja – nicht einmal den würde er sich leisten können! Da blieb eines sicher nicht mehr allzu fernen KIN nur die staatlich bezahlte Verbrennung aus Seuchenschutzgründen, und dann ab ins Meer mit der Asche!

Philipp lebte mit seiner Ehefrau in einer 27 Quadratmeter kleinen, spartanisch eingerichteten Wohnung, die er sarkastisch den ›Hühnerkäfig‹ nannte. Sie lag im 46. Stockwerk eines Hochhauses aus dem zweiten KATUN des dreizehnten BAKTUN, das langsam baufällig wurde. Überall bröckelte der Beton und es war nur eine Frage der Zeit, wann dieses marode Gebäude einem ehrgeizigen neuen Bauvorhaben weichen musste.

Sämtliche kündbaren Versicherungen hatte er aus Kostengründen im vergangenen Jahr abgeschafft, was unter anderem bedeutete, dass die staatlich garantierte Grundrente später zum Leben nicht ansatzweise ausreichen würde. Da würde er zusammen mit den anderen verarmten Opas in den Abfällen wühlen müssen, wenn er dereinst im Alter von 4 KATUN endlich in Rente gehen durfte. Eine nette Vorstellung!

Das Elektroauto – selbstverständlich ein bulgarisches Billigfabrikat – war längst verkauft, seit der Strom sich um eine astronomische Summe verteuert hatte. Noch immer begründete der Konzern die Preissteigerungen mit dem endgültigen Ausstieg aus der Atomenergie, obwohl der schon vor einigen Jahrzehnten stattgefunden hatte. Was konnte er denn dafür, dass man mit der Windenergie aufs falsche Pferd gesetzt hatte?

Klar, zunächst waren alle ganz wild auf erneuerbare Energien gewesen. Doch man hatte bald realisieren müssen, dass sie sich wegen der hohen Bauund Wartungskosten für die Offshore-Windparks nicht auf Dauer rechneten. Viele Windräder wurden durch die zerstörerischen Orkantiefs beschädigt oder zerstört, kaum dass man sie installiert hatte. Dazu kamen explodierende Kosten für den Netzausbau.

Windräder erzeugten im Vergleich zum Aufwand sowieso viel zu wenig Energie, was den Aktionären überhaupt nicht behagt hatte. Der Bedarf stieg im Gegensatz zu den Kapazitäten konstant an, seit fast alle Fahrzeuge mit Elektroantrieb ausgestattet über die Straßen schnurrten.

Wenn man es wenigstens noch geschafft hätte, den Klimawandel einzubremsen … aber nein, seit dem Zeitpunkt 13.0.0.0.0 waren die Temperaturen um durchschnittlich siebeneinhalb Grad Celsius gestiegen, und das weltweit. Eine desaströse Wetterkapriole jagte die nächste, weswegen schon überhaupt keine Berichterstattung hierüber mehr stattfand. Die Meteorologen warnten einfach nur noch die Bevölkerung in jenen Regionen der Welt halbherzig vor, für welche der nächste verheerende Paukenschlag des Himmels vorgesehen war.

Nach dem Unwetter war vor dem Unwetter. Versichern konnte man sich gegen die hierbei entstehenden Milliardenschäden ohnehin schon seit ungefähr vier KATUN nicht mehr.

Inzwischen entstanden seit dem Zeitpunkt 13.1.15.0.3 überall Kernfusions-Reaktoren, als wären diese kein total wahnwitziger Risiko-Faktor für Mensch und Umwelt! Vergessen waren die Gründe, weshalb man sich einst von der Atomspaltung verabschiedet hatte.

Nicht auszudenken, wenn solch ein neumodisches Ding eines Tages hochgehen würde! Ein paar Beinahe-Katastrophen sprachen deutlich Bände darüber, wie nahe die Menschheit am Abgrund spazieren ging. Aber man nahm mittlerweile alles in Kauf, so lange die Rendite stimmte. Die Zeche für die neuartige Technologie zahlte schließlich traditionell der wehrlose Verbraucher.

Philipp hegte längst den Verdacht, dass die energieerzeugenden Kraftwerke vorrangig zu Forschungsund Testzwecken gebaut wurden. Der Hauptgrund für die vorschnelle Einführung dieser Technik lag seines Erachtens nämlich eher in der Entwicklung effektiverer Waffensysteme; darüber hinaus arbeitete man fieberhaft daran, einen sogenannten ImpulsAntrieb zu konstruieren.

Da die fossilen Brennstoffe des Planeten mittlerweile zur Gänze aufgebraucht waren, wollte man künftig mithilfe dieses innovativen Antriebs ins Weltall vordringen, dabei weitere Strecken als je zuvor zurücklegen können. Dabei gab es hier unten auf der Erde genügend drängende Probleme, die Vorrang gehabt hätten!

Gestern hatte Philipps Krankenversicherung zu allem Überfluss mitgeteilt, dass zukünftig keine Behandlungskosten für psychische Krankheiten mehr übernommen würden. Die lapidare Begründung schlug dem Fass den Boden aus und trieb Philipp die Verzweiflungstränen in die Augen.

›In den letzten TUN sind die Gesamtkosten für solche Therapien und Medikamente um ein vielfaches gestiegen, so dass wir sie der Solidargemeinschaft zuliebe nicht mehr abrechnen können. Die allgemeine ambulante Versorgung der Kranken wäre ansonsten durch diesen Kostenfaktor gefährdet.‹

Verdammt noch eins, er litt aber nun einmal seit zwei TUN an einer schweren Depression! Wie sollte er bitteschön ohne die kleinen Pillen weiterleben und arbeiten, die seine Last bis dato wenigstens ein bisschen leichter erscheinen ließen? Was für ein menschenverachtender, widersinniger Hohn. Am liebsten wäre Philipp einfach für immer in seinem Sessel sitzengeblieben, bis er zusammen mit dem Möbelstück zu Staub zerfallen wäre.

 

Und trotz alledem kam Swetlana dauernd daher und wollte ein Kind. Ha! Was dachte die sich nur dabei?

All das ging Philipp durch den schmerzenden Kopf, bevor er sich mühsam aus dem Sessel erhob und mit hängenden Schultern zurück in die Küche ging. Vielleicht hatte er überreagiert, war zu ruppig gewesen. Swetlanas verzweifeltes Schluchzen rührte sein Herz an, auch wenn er kaum noch die nötige Energie aufbrachte, sie zu trösten.

*

Fasziniert lauschte Solaras Ardens kurzer Einleitung, die dieser seinem ausführlichen Bericht über die frühe terrestrische Menschheitsgeschichte voranstellte.

Man könne sich als Tiberianer gar nicht vorstellen, dass intelligente Lebewesen zu derartigen Fehlleistungen jemals imstande gewesen wären, meinte Arden kopfschüttelnd. Dennoch habe sich alles genauso abgespielt, wie er es ihm gleich im Zeitraffertempo darstellen werde.

»Ich muss dazu ein wenig ausholen und mit einer Schilderung unserer letzten KIN-Einheiten auf dem Mars beginnen, damit du verstehst, inwiefern sich die Menschen auf Terra gleich zu Anfang erheblich von uns Tiberianern unterschieden. Sonst kannst du bestimmt nicht logisch nachvollziehen, weshalb die Gemeinschaft dort dermaßen schnell und gründlich in konkurrierende Einzelpersonen und kleinere Interessengruppen zerfiel«, schickte Arden seinem Monolog erklärend voraus. Solaras nickte zustimmend. »Genau das ist die Frage aller Fragen, die ich mir noch nie schlüssig beantworten konnte. Also, was ist denn nun der tiefere Grund dafür gewesen, dass sich die eine Hälfte der Mars-Zivilisation so vollkommen falsch weiterentwickelte?«

»Ich wollte, ich hätte jetzt einen Holographen zur Hand. Dann würdest du dir einfach die Bilder aus den Archiven ansehen können und es hätte keines subjektiven Kommentars bedurft. Ich habe es trotz dieser Überlegungen nicht gewagt, ein Exemplar aus dem Bestand des Sektionsgebäudes hierher zu schmuggeln, das gebe ich gerne zu«, räumte Arden entschuldigend ein.

»Die Geschichte, wie es letztendlich durch Menschenhand zur Zerstörung der Marsatmosphäre kam, ist jedem Novizen aus allen Sektionen hinlänglich bekannt. Damit müssen wir uns also überhaupt nicht aufhalten. Nur zwei wegweisende Ereignisse möchte ich aus den marsianischen Zeitaltern isoliert herausgreifen, denn sie werden für dein Verständnis von großer Bedeutung sein:

Da wäre zunächst der Bau des allerersten Raumkreuzers, dessen Antriebssystem noch mit einer inzwischen längst überholten Impulskraft-Technik ausgestattet war. Du weißt sicher, dass dieser Versuch, nach den Sternen zu greifen, im Grunde schon im Ansatz scheiterte – das Schiff bewegte sich erheblich langsamer als das Licht und konnte somit keine großen Entfernungen überbrücken.

Nach ein paar relativ ergebnislosen Besuchen benachbarter toter Planeten gab man es auf, das Ding unter einem Riesenaufwand ins All zu steuern. Einzig Terra verdiente eine nähere Erkundung, denn jener Planet war bereits von ziemlich unterentwickelten Hominiden bewohnt. Diese hatten sich zu diesem Zeitpunkt kaum über die tierische Stufe der Evolution hinaus entwickelt.

Allerdings lauerten neben diesen unberechenbar kriegerischen Geschöpfen diverse weitere Gefahren auf dem blauen Planeten, mit denen man vorläufig nicht umgehen konnte. Im Vergleich zum zivilisierten Mars wirkte diese fremde Welt feindlich und rau.

Deswegen wollten die Forscher zunächst ausschließlich Sonden dorthin auf die Reise schicken, jedenfalls bis man im Besitz aller für eine Expedition erforderlichen Eckdaten wäre. Man musste das Verhalten der Geschöpfe sowie das wechselhafte Klima beobachten, um bestens vorbereitet zu sein.

Man verbarg den Prototypen des Impuls-Raumschiffs auf dem Mars in einer Talsenke, über die zum Schutz vor Vulkanasche und Wettereinflüssen ein flexibles Dach aus einem federleichten Kunststoff gezogen wurde. Das Schiff geriet beim Großteil der Bevölkerung in Vergessenheit, schon kurz nachdem man es außer Dienst stellte.

Eine Zeit lang erkundete man die benachbarten Planeten und vorbeiziehende Asteroiden nur noch mit kleinen, aber leistungsfähigen Sonden – bis unsere Wissenschaftler die Möglichkeit zur Raumkrümmung entdeckten. Diese Umstände dürften dir als Angehöriger der zuständigen Sektion ja hinreichend selbst bekannt sein!

Von diesem Zeitpunkt an überschlugen sich die Ereignisse. Fieberhaft durchkämmte man das Weltall auf der Suche nach marsähnlichen Habitaten. Unmengen von fliegenden ScannerEinheiten, die mittlerweile die althergebrachten Sonden abgelöst hatten, wurden losgeschickt, um in bislang unbekannte Regionen vorzudringen. Jeder stellte sich aufgeregt die Frage: gibt es intelligentes Leben da draußen?

Wohlgemerkt – man suchte nach Wesen von ähnlicher Intelligenz und Entwicklung, wie sie den Marsianern zu eigen war. Die Bewohner Terras stufte man eher als hochentwickelte Tiere ein, da auf ihrer Haut sogar noch Fell wuchs und der aufrechte Gang fehlte.

Anstatt sich endlich darauf zu besinnen, den eigenen Lebensraum zu erhalten und dessen fortschreitender Zerstörung aktiv entgegenzuwirken, richtete man sein Augenmerk fast ausschließlich auf das Weltall. Offenbar liebäugelten unsere Vorfahren damals bereits mit dem tröstlichen Gedanken, den Mars eines Tages, wenn er vielleicht nicht mehr bewohnbar wäre, mit Sack und Pack in monströsen Mutterschiffen verlassen zu können. Die neue Technik würde das schon bald ermöglichen, darauf vertraute die Bevölkerung blindlings.

Daraus resultierte, dass die Ressourcen zugunsten des Ausbaus der bestens prosperierenden Weltraumtechnik noch weiter ausgebeutet wurden. Viele Wissenschaftler und Konstrukteure witterten neben Prestige auch ein lukratives Geschäft. Wie dir sicher bekannt ist, war der Tauschhandel auf dem Mars im Laufe der Zeit gegen ein monetäres Zahlungssystem ausgetauscht worden.

Im Grunde – und das kann man aus heutiger Sicht zuverlässig beurteilen – markierte dieser Schritt den Anfang vom Ende, doch das ahnte damals niemand. Das Horten des neu eingeführten Zahlungsmittels verschaffte dem Individuum Möglichkeiten, die minderbemittelte Bevölkerungsteile nicht besaßen. Mithilfe dieser Macht konnte ein Bewohner den anderen dominieren, für egoistische Zwecke benutzen. Das mag in deinen Ohren abartig klingen – und genau das war es auch!

Eines Tages gelang es zum ersten Mal, ein Objekt im All bis auf die Geschwindigkeit des Lichts zu bringen. Man beglückwünschte sich zu dieser bahnbrechenden Glanzleistung, der Ehrgeiz im Wettbewerb kannte von da an keine Grenzen mehr. Die Marsianer feierten sich wegen jedes kleinen Fortschrittes hochmütig selbst.

Nach etwa 20 TUN war die Warp-Technologie so weit gediehen, dass man das erste kleine Raumschiff damit ausstatten konnte. Es sollte zunächst einzig und allein Forschungszwecken dienen, war noch nicht für die bemannte Raumfahrt gedacht. Daher setzte man Roboter zur Bedienung ein – was sich posthum als sehr gute Entscheidung erwies, denn es kam zu ein paar bedauerlichen Unfällen.«

Wie gebannt hing Solaras an Ardens Lippen, sah ein wenig ungläubig drein. »Unfälle? Was für Unfälle? Davon habe ich noch nie etwas gehört! Man baute doch gleich in der Anfangsphase erfolgreich dieses riesige Mutterschiff, oder habe ich das falsch aufgefasst?«, fragte der junge Wissenschaftler erstaunt.

Arden musste lachen. »Siehst du? Ich sagte ja, die für die

Allgemeinheit bestimmten Informationen sind etwas … hm … sagen wir geschönt. Genau deswegen sollen wir uns hierüber niemals sektionsübergreifend austauschen dürfen. Was glaubst du, weshalb wir diese Geheimnisse sorgsam in den abgeschotteten Archiven weit unter der Oberfläche verbergen?«

Solaras spürte, wie sein Blutdruck anstieg. Was meinte sein Freund, der Geschichtsschreiber, denn bitteschön mit ›für die Allgemeinheit bestimmten Informationen‹? Er war doch Wissenschaftler, und diese angeblichen Unfälle betrafen in erster Linie die Wissenschaft, oder etwa nicht?

Wieso differierte der Wissenstransfer seiner eigenen Ausbildung von den angeblichen Kenntnissen eines Sektionsfremden? Hätte gemäß dem tiberianischen System nicht eher er die detaillierteren Kenntnisse über die frühen Raumfahrtbestrebungen der Marsbewohner besitzen müssen?

Der Freund schien seine negativen Gedanken aufgefangen zu haben. »Solaras, rege dich bitte nicht auf; wir werden im weiteren Verlauf meiner Erzählungen noch oft auf solche Zusammenhänge stoßen! Du musst selbst entscheiden, inwieweit du dich damit befassen willst.

Viele prägnante Ereignisse betrafen einst ursprünglich Wächter, Mediziner, Wissenschaftler oder Handwerker, das will ich gerne einräumen. Aber nach ein paar Generationen verblasste eben die persönlich weitergegebene Erinnerung, bis schließlich nur noch die offizielle Geschichtsschreibung für die Zukunft erhalten blieb. Und da hat man eben beizeiten etwas selektiert, welche Begebenheiten die subjektive Erinnerung überdauern sollen!«

»Selektiert?! Willst du mir damit sagen, ihr tätet das noch heute regelmäßig und mit voller Absicht?«, echauffierte sich Solaras, wollte das Gehörte gar nicht glauben.

Arden nickte bestätigend. »Selbstverständlich! Das ist der eigentliche Sinn und Zweck, der hehre Auftrag unserer Sektion. Jeder Schreiber, der ein grünes Gewand trägt, arbeitet emsig an der Darstellung unserer Zeitspanne für zukünftige Menschengeschlechter. Wir bereiten die Ereignisse ein wenig auf, verstehst du?

Stelle es dir einfach aus folgendem Blickwinkel vor: Allein diese Aufzeichnungen werden eines fernen Tages darüber entscheiden, in welchem Licht wir mitsamt allen Zeitgenossen für unsere Nachkommen erscheinen. Das ist somit eine überaus schwierige und wichtige Aufgabe!«, referierte er ein wenig beleidigt. Es klang für Solaras‘ Geschmack reichlich einstudiert.

»Und was ist mit der blanken Wahrheit? Kann man dieses wertvolle Gut einfach mit Füßen treten, ein paar Fakten weglassen und dafür andere gefiltert oder künstlich geschönt präsentieren?«, fragte Solaras ironisch und sprang vor lauter Erregung auf. Er musste sich körperlich bewegen, um die aufgestaute Spannung loszuwerden.

»Die vielzitierte Wahrheit! Genau, ausgerechnet damit musst du mir kommen! Was der Mensch im Dienste dieser inexistenten ›Wahrheit‹ unternahm, war über sämtliche Zeitalter hinweg und in allen Zivilisationen stets nur ein Mittel dazu, anderen Menschen seinen Willen und seine oft fragwürdige Sichtweise des Lebens überzustülpen!

In Wirklichkeit ging es dabei wieder bloß um die rücksichtslose Machtausübung Einzelner. Du wirst es verstehen und

mir vollinhaltlich zustimmen, wenn du meinen Ausführungen erst zu Ende gelauscht hast! Verfrühte Emotionen sind vollkommen fehl am Platz, erkennst du das denn nicht?

Lass uns fortan lieber eine gewisse Neutralität bei der Beurteilung solcher Prozedere bewahren, sonst macht dieses Gespräch für mich nämlich bald keinerlei Sinn mehr!«, mahnte Arden mit ungewohnt festem Nachdruck in der Stimme. Er wirkte, als wolle er jeden Moment aufstehen und indigniert seiner Wege gehen.

Das kam davon, wenn man versuchte, Menschen mit anderer Ausbildung die eigenen Erkenntnisse beizubiegen!

*

Solaras lag eine bittere Erwiderung über einen guten Freund, der sich bedauerlicherweise als notorischer Datenfälscher entpuppt habe, auf der Zunge. Doch als er

sich nüchtern vor Augen führte, dass Arden nur ein winziges Rädchen im Getriebe eines Systems war, das solche Taten nicht nur billigte, sondern sogar ausdrücklich anordnete, hegte er keinen Groll mehr. Er legte Arden eine Hand auf die Schulter, sah ihm eindringlich in die Augen.

»Verzeih mir bitte! Ich weiß, dass du nur deine Pflicht tust. Es kam für mich nur so … überraschend! Die Philosophie, die hinter diesen Praktiken steckt, ist mir natürlich vollkommen bewusst. Alles zum Wohle der Gemeinschaft und ihrer blühenden Zukunft, richtig?

Wie auch immer – eine Frage hätte ich noch dazu, damit ich die Sache vollständig verstehe. Dann können wir unser vorheriges Thema gerne wieder aufgreifen und fortführen«, seufzte Solaras resigniert.

Auch Arden war froh darüber, dass die Kuh erst einmal vom Eis war. »Klar, mein Freund! Was genau möchtest du denn wissen?«

»Du trägst ein grünes Gewand, bist somit klar als Geschichtsschreiber identifizierbar. In eurer Sektion gibt es aber darüber hinaus noch jede Menge Schreiber, die violette Gewänder tragen. Wenn mich nicht alles täuscht, läuft von diesen Leuten eine erheblich größere Anzahl durch die Gegend. Welche Funktion üben diese Schreiber denn aus?«

 

Arden schien ehrlich erleichtert zu sein. Offensichtlich war ihm Solaras wegen seiner Beteiligung an der willentlich verbogenen Geschichtsschreibung Tiberias tatsächlich nicht allzu gram, was für ein Glück!

»Das ist schnell erklärt! Wir gehören beide der Sektion Wissenschaft, Geschichte und Schrift an, unsere Vorderste ist derzeit Alanna. Die beiden Untersektionen Geschichte und Schrift hängen zwar lose zusammen, nehmen jedoch unterschiedliche Aufgaben wahr.

Da sind zunächst die einfachen Schreiber in Violett. Diese dokumentieren das Tagesgeschehen. Nicht nur bestimmte Begebenheiten auf Tiberia, wie zum Beispiel Auseinandersetzungen, die Ausweisung neuer Baugebiete oder Statistiken. Es werden ebenso die Errungenschaften der Wissenschaft niedergeschrieben und aufbewahrt, die medizinischen Fortschritte dokumentiert oder die Ergebnisse von Missionen auf fremden Planeten. Einfach jede Kleinigkeit, die jetzt oder später von Interesse sein könnte!

Bei der Untersektion Geschichte landen hernach all diejenigen Berichte, die in irgendeiner Weise dazu geeignet scheinen, für die Nachwelt konserviert zu werden. Wir entscheiden gewissenhaft, was im Original weitergegeben wird und welche Informationen gestrafft, aufbereitet oder ganz weggelassen werden sollen.

Diese Auswahl wird anschließend ein zweites Mal sorgfältig überprüft, und zwar von unserem Vordersten der Untersektion. Das ist momentan der alte Tirim, der nächstes TUN in den verdienten Ruhestand gehen wird. Er wählt aus, was für die Ausbildung unserer Kinder verwendet und künftig in den Schulungen gelehrt werden soll. Der Rest landet unmittelbar in den Archiven, wo er sicher für die Ewigkeit verwahrt wird.

Jeder Geschichtsschreiber beginnt seine ehrbare Karriere als gewöhnlicher Schreiber im violetten Gewand. Nur die Besten werden nach einiger Zeit als Geschichtsschreiber weiterhin ausgebildet. Meine Wenigkeit eingeschlossen … ehrlich gesagt, spekuliere ich ein bisschen darauf, Tirims Nachfolger zu werden! Falls er mich bei der Regentenfamilie vorschlagen wird – was ich mir übrigens sehr wünschen würde – könnte ich mir berechtigte Hoffnungen auf den Posten machen!«

Solaras freute sich für seinen Freund. »Oh, ich bin überzeugt, dass sie mit dir den Umsichtigsten und Integersten bekämen, der zu haben ist! Wollen wir also das Beste für dich hoffen.

Aber jetzt haben wir uns doch recht lange mit dem Durchleuchten der tiberianischen Hierarchie aufgehalten, vielleicht sollten wir endlich mit der Geschichte Terras fortfahren! Die Zeit rennt … !«

»Da stimme ich zu! Also weiter im Text, lass uns die Zeit zwischen der Abschaffung der Impuls-Antriebstechnik und der Flucht vom Mars kurz beleuchten. Der Großteil wird dir ohnehin bekannt sein.

Der Plan, die Welt Terra genauer zu erforschen, konnte nach eineinhalb KATUN nicht mehr mit der notwendigen Sorgfalt durchgeführt werden. Die Umweltprobleme auf dem Mars nahmen überhand, außerdem breitete sich in der Bevölkerung eine höchst ungute Stimmung aus. Missgunst und Eifersucht führten mit der Zeit dazu, dass effektive Arbeit fast nicht mehr möglich war.

Niemand hätte zuvor ernsthaft für möglich gehalten, wie schnell eine gesunde Zivilisation in den Zustand des schleichenden Verfalls und der Tyrannei abgleiten kann. Und doch geschah es, in einer sich immer schneller drehenden Spirale ging es abwärts. Die einstige Hochkultur zerfiel in Windeseile, während die Atmosphäre immer dünner und damit durchlässiger für schädliche Strahlung aus dem Weltall wurde. Die Menschen litten an Krankheiten, die sie zuvor kaum gekannt hatten.

Die verbliebenen Lebensräume wurden im Laufe der Zeit durch ständige Naturkatastrophen immer weiter eingeengt, es gab jedes Mal zahlreiche Todesopfer. Wer nicht durch Stürme, Atemnot, tödliche Seuchen oder zerstörerische Überschwemmungen ums Leben kam, brachte sich gegenseitig im Kampf um die knapp werdenden Nahrungsmittel um.

Unser Volk stand bereits kurz vor dem Aussterben, als ihm nur noch eine einzige Alternative blieb – man musste für immer unter die Oberfläche abtauchen, um zu überleben. Glücklicherweise hatten Wissenschaftler die Entwicklung kommen sehen und in den weitverzweigten Lavaröhren des großen Vulkans vorsorglich ein bereits funktionierendes BiosphärenHabitat geschaffen, in welchem die Atemluft aufbereitet und die natürliche Erdwärme zum Heizen und zur Stromerzeugung genutzt wurde. Dort gediehen viele Arten von Nutzpflanzen, es gab Wohnund Arbeitsbereiche.

Die kläglichen Überreste der Bevölkerung hatten zwar mitbekommen, dass in diesen Lavaröhren fieberhaft gearbeitet wurde. Wegen der überaus strengen Geheimhaltung ahnten sie gleichwohl nicht, dass dort allmählich eine unterirdische Stadt entstand, die bis zu 80.000 Menschen ein neues Zuhause bieten konnte. Darüber waren nur diejenigen Bürger informiert, welche aktiv daran mitarbeiteten. Diese Monteure, Wissenschaftler, Köche und Mediziner lebten bereits dauerhaft dort, kamen mit den Menschen an der Oberfläche schon seit dem Baubeginn nicht mehr in Berührung.

Ebenso wenig waren die gewöhnlichen Leute darüber informiert, dass in einem weiten Talkessel nahe der Lavastadt hektisch an einem Mutterschiff gebaut wurde, welches mit neuester Warp-Technik ausgestattet war. Not macht wohl erfinderisch, denn es gelang den Technikern innerhalb kürzester Zeit, die letzten Sicherheitsprobleme für das Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit in den Griff zu bekommen.

Du weißt ja, man erzeugte zunächst sogenannte WarpBlasen, indem man das Raumzeitgebiet um das Schiff herum mithilfe eines Energie-Impuls-Tensors veränderte – vor dem Objekt musste die Raumzeit kontrahiert, hinter ihm wieder expandiert werden. Dieses Verfahren erzeugte jedoch große Hitze, die jede Art von herkömmlichen Schutzschilden auf der Stelle durchschmolz. Außerdem entstand beim Abbremsen des Schiffes eine für Lebewesen tödliche Strahlendosis, was bemannte Reisen bis dato unmöglich gemacht hatte.

Was soll ich sagen? Deine genialen wissenschaftlichen Vorfahren entwickelten einen erheblich leistungsfähigeren Hitzeschild aus Verbundmaterial, wie er heute noch bei manchen Technologien in Gebrauch ist. Auf diesem mit Gasen gefüllten Kissen glitt die überzählige Wärmeenergie in den hinteren Bereich des Raumschiffes, wo es direkt zum Antrieb, also für den Energie-Impuls-Tensor genutzt wurde.

Man löste zwei Probleme zur selben Zeit: die Restwärme des Schildes sorgte im Schiff für eine angenehm konstante Raumtemperatur, während der überwiegende Teil für eine Bereitstellung immenser Energiemengen sorgte, die ohnehin für den Antrieb gebraucht wurden. Die äußerst gefährliche Bremsstrahlung fing man ebenfalls gleich bei der Entstehung ab; auch sie wurde schnurstracks in das Antriebssystem umgeleitet, wo sie keinen Schaden für Besatzung und Passagiere mehr anrichten konnte.

Wäre dieser Durchbruch damals nicht oder nicht mehr rechtzeitig gelungen, würde heute keiner von uns existieren

… darüber möchte ich lieber gar nicht nachdenken!«, sinnierte Arden achselzuckend.

»Bis dahin bin ich informiert, denn diese Begebenheiten waren Teil meiner Ausbildung«, gähnte Solaras. »Alles haben sie uns nun auch wieder nicht vorenthalten. Oder, wie du das sicher nennen würdest, wegselektiert. Allerdings würde mich brennend interessieren, auf welche Weise die Auswahl der Überlebenden vorgenommen wurde! Darüber verliert niemand ein Wort, was ich reichlich seltsam finde. Weißt du etwas darüber?«

Arden sah ein bisschen betreten drein. »Ich habe längst befürchtet, dass du mich danach fragen wirst. Deswegen sage ich es dir lieber gleich: die Beschreibungen, welche Maßnahmen damals zur Rettung einiger weniger Menschen ergriffen wurden, werden dir aus heutiger Sicht barbarisch und grausam erscheinen. Ich mag mir die aggressiven Handlungen selbst nicht bildlich vorstellen, das darfst du gerne glauben.

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